Nachdem ich den letzten Beitrag noch im tiefsten Winter verfasst habe, ist es inzwischen Frühling geworden in Riga. Die Sonne ist seit einigen Tagen äußerst präsent am Himmel, der Baum vor meinem Fenster hat sehr zaghaft Knospen gebildet und auf meinem Schreibtisch steht ein kleines Töpfchen mit Miniosterglocken. Klar, die frühlingshaften Temperaturen lassen noch auf sich warten, aber ich bin doch froh, dass der Reißver-schluss meines Wintermantels sich nach acht Jahren unermüdlichen Dienstes erst verab-schiedet hat, da man auch ohne ihn auskommen kann.
Seit meinem letzten Blogeintrag bin ich in eine neue Wohnung gezogen, in ein größeres helleres Zimmer mit knarksendem Parkettboden und ein wenig Stuck an der Decke – ein baltischer Altbautraum quasi. Nur die Fenster zur Straße hinaus lassen mich nach zwei Monaten im neuen Domizil immer noch unruhig schlafen. Allgemein kann ich mich aber nicht beschweren, außer vielleicht über mangelnde WG-Haftigkeit. Meine Mitbewohner arbeiten alle, die beiden Letten sind bis auf ein gelegentliches hi oder Did you restart the wi-fi? eher sehr schweigsam, der Ungar schon gesprächiger, sodass ich manchmal mit ihm in der Küche quatsche, aber ein echtes Zusammenleben ist es nicht. Vielleicht bin ich daran auch nicht unschuldig – das will ich gar nicht ausschließen –, denn ich war im Prinzip seit meinem Einzug krank und deshalb nicht besonders gesellig. Außerdem war ich auch schon häufig länger nicht zu Hause: Im Februar war ich im Urlaub in Deutschland und Spanien, im März im Auftrag des Goethe-Instituts unterwegs durch Litauen. Vielleicht verstehe ich mich ja mit dem Mädel, die bald einziehen soll, besser.
Der Februar kam und ging. Obwohl ich Besuch von einer Freundin hatte und selbst für zehn Tage weg war, fühlt es sich nicht so an, als sei viel passiert. Wenn ich den Kalender auf meinem Computer befrage, was ich eigentlich getrieben habe in den neunundzwanzig Tagen, spricht dieser in erster Linie von Flügen, Zugfahrten und anderen Transportmitteln. Von Riga nach Köln nach Stuttgart und zum Bodensee mit einem Miniabstecher in die Schweiz, zurück nach Köln und weiter nach Barcelona. Dort erwartete mich nach dem schier endlosen grau-in-grauen Winter ein Fenster zum Frühling: Sonnenschein, Leben auf den Straßen und vor allem eine grüne Flora. Es mag so fürchterlich basal und vielleicht sogar lächerlich klingen, aber diese drei Faktoren haben meine Laune um ein vielfaches gehoben. Sonnenbrille auf und die Stadt erkunden, was in meinem Fall heißt viel laufen und die örtlichen Köstlichkeiten probieren. Von denen habe ich auch einige ins Baltikum importiert – sehr zur Freude hiesiger Freunde.
Kaum wieder angekommen warteten bereits zwei Webinare in Kooperation mit deutschen Universitäten darauf, moderiert zu werden. Allerdings hatte ich neben spanischen Lecker-bissen auch eine deutsche Bronchitis mitgebracht, deren Ursprung – ein Abend im Underground Köln und das Hozier-Konzert – es allerdings wert war. Also habe ich den Rat geradezu aller Freunde befolgt und bin zum Arzt gegangen. Eine Entscheidung, die ich im Nachhinein bereue. Auf der Chipkarte meiner Krankenversicherung steht zwar Euro-päische Krankenversicherungskarte, aber das interessiert in Lettland leider keinen. Hier gilt: Entweder du hast eine lettische Krankenversicherung oder du zahlst wie alle anderen Ausländer auch. Die Behandlung findet in meist Privatkliniken statt, in denen Allgemein-mediziner und Spezialisten häufig unter einem Dach praktizieren. Ich fuhr aus dem Zentrum und die Finanzodyssee begann. Die Ärztin, bei der ich war, sprach sehr gut Englisch, befragte mich eingehend zu meiner Krankengeschichte und zu der meiner Familie, nahm sich generell viel Zeit, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Kostenpunkt: 29€. Um auszuschließen, dass der untere Teil der Lunge betroffen war, wurde ich zum Röntgen geschickt. Mantel an, dreihundert Meter bis zur nächsten Klinik, kurze Kommunikation mit der Schwester auf Lettisch (Sind Sie schwanger? – Wie bitte? – Sind Sie schwanger? – Ich verstehe nicht… – Eine einen Halbkreis beschreibende Hand-bewegung über ihrem Bauch – Aaah, nein!) und zwei Röntgenbilder später war ich weitere 23€ losgeworden. Die Ärztin setzte das Gespräch fort und verschrieb mir zwei Medikamente – einen Inhaler und ein Nasenspray. Bereits reichlich geknickt ob der Kosten angesichts meines vom Urlaub geschwächten Kontos ging ich also zur nächstgelegenen Apotheke und staunte nicht schlecht, als die Kasse rund 58€ anzeigte für die beiden Medikamente. Es ist nicht so, als bekäme ich das Geld nicht wieder von der Versicherung, aber wie ich die Bürokratie so kenne, wird das seine Zeit dauern. Die ganze Sache hat mich aber doch nachdenklich gestimmt. Einen Besuch beim Spezialisten, z. B. wenn es schlimmer geworden wäre, hätte ich mir nicht leisten können und ich hatte nur eine popelige leichte Bronchitis! Ich möchte nicht wissen, wie es geworden wäre, wäre ich ernsthaft erkrankt gewesen. Ich habe an die vielen Menschen gedacht, die in Industrie-ländern leben und sich keine Krankenversicherung leisten können. Es mag mit einer Bronchitis anfangen, aber permanent unbehandelt und ohne die nötige Zeit zum Auskurieren können sich ganz andere, bedrohlichere Krankheitsbilder entwickeln. Ich kann inzwischen verstehen, warum in den USA einige Bevölkerungsgruppen eine deutlich niedrigere Lebenserwartung haben – sie können es sich schlicht nicht leisten, ihr eigenes Leben zu verlängern. Auch eine gesetzliche Krankenversicherung kann ein Privileg sein.
Der März ließ nicht lange auf sich warten und brachte eine Reise durch die vier größten Städte Litauens mit sich. Wie bereits erwähnt hatte mich das Goethe-Institut in Vilnius gefragt, ob ich Interesse hätte, im Rahmen der Deutschsprachigen Filmtage Yael Reuveny mit ihrer Dokumentation Schnee von gestern durch das Land zu begleiten, quasi als persönliche Assistentin, Logistikmanagerin und Diskussionsleiterin nach der Vorführung in einer Person. Zwar ist mein Litauisch meiner Meinung nach mächtig eingerostet, ein Umstand, der mir nicht gerade die Freudentränen in die Augen treibt, aber zum einen spricht sich Litauisch in Lettland nicht gerade häufig und zum anderen musste ich keine Vorträge halten oder Romane verfassen. Das Goethe-Institut hat uns glücklicherweise pro Stadt eine Dolmetscherin zur Seite gestellt, die eifrig die Fragen des Publikums und die Antworten der Regisseurin übersetzt haben. So kam ich endlich dazu, andere Städte als Vilnius zu besuchen. Kaunas, nur eine Stunde von der litauischen Hauptstadt entfernt, stand immer auf meiner Liste und doch habe ich es nicht geschafft, diese Stadt zu besuchen. Es wird einem aber auch nicht gerade von den Hauptstädtern ans Herz gelegt. Dabei scheint sich gerade kulturell einiges zu bewegen in Kaunas und die Architektur der Innenstadt kann sich ebenfalls sehen lassen.
Ein weiteres kleines Highlight der Reise war die Zugfahrt von Šiauliai nach Klaipėda. Šiauliai selbst ist eine eigentümliche Stadt: früher ein Industriezentrum, gerade was die Schuhproduktion anbelangt, heute eine Mischung aus Khrushchyovkas und einigen aus der Vorkriegszeit erhaltenen Gebäuden, die sich zu keinem stimmigen Ganzen zusammen-fügen wollen. Der Zug war ebenfalls ein Relikt vergangener Tage. Schon in Deutschland habe ich jedoch feststellen müssen, dass das in Sachen Reisekomfort eher ein Pluspunkt ist. Ein sehr kurzer Zug mit lediglich drei Waggons fuhr in den Bahnhof ein, drei in strenge Uniformen gekleidete Schaffner stiegen aus und kontrollierten schon vom dem Einsteigen die Fahrkarten. Voll Freude stellten wir fest, dass es sich um Schlafwagen handelt, und so schaute ich mir eine Weile die sonnenbeschienene Welt vom oberen Bett aus an, bevor ich der Gemütlichkeit Tribut zollen muss. Nie waren zwei Stunden dahin rollende Landschaft und das Rattern des Zugs angenehmer. Der Wunsch, hoffentlich bald einen echten Nachtzug nehmen zu können, hat sich seitdem in meinem Kopf festgesetzt.
Inzwischen ist auch der April schon wieder fast halb rum. Die Monatsmitte markiert auch den Abschied meines Chefs im Rigaer Informationszentrum. Am vergangenen Montag sind wir deshalb nach Jelgava, eine Stunde südlich der lettischen Hauptstadt, zu einem letzten gemeinsamen Ausflug aufgebrochen. Das Wetter zeigte sich von seiner besten frühlingswarmen Seite und so besuchten wir unter anderem die Wildpferde, die auf einer Insel in der Lielupe hinter Schloss Jelgava leben. Wie wild diese Pferde tatsächlich sind, kann ich nicht sagen, aber einige Zäune waren zu sehen und im Winter dürften die Tiere auch nicht gänzlich auf sich angewiesen sein. Besonders interessiert an Menschen waren sie auch nicht, geschweige denn scheu.
Im Anschluss an den Betriebsausflug, an dem die Freundin, die mich diese Woche besucht hat, auch teilgenommen hat, sind wir an die Ostsee gefahren, um das gute Wetter auszunutzen. Ich hoffe, dass der Frühling demnächst noch häufiger zu Ausflügen einlädt!
Darf ich eine Frage anmerken? Wie kommst du dazu, in Barcelona Urlaub zu machen – so weit entfernt von deinem Einsatzland? Warum bist du nicht in eines der Nachbarländer gegangen, kanntest du die alle schon?
Zum einen war in allen Nachbarländern auch noch Winter und ich brauchte Sonne, zum anderen wohnt ein Freund von mir dort, den ich so besuchen konnte. Außerdem hab ichs verschlafen, mir einen Reisepass machen zu lassen, bevor ich nach Riga gegangen bin…