In den vergangenen Wochen war ich eher ausnahmsweise in Riga anzutreffen. Die Wahrscheinlichkeit, irgendwo in Litauen auf mich zu stoßen, war da schon weitaus höher, weil ich die letzte Oktoberwoche ganz und gar in Vilnius verbracht und am ersten Novem-berwochenende der Kurischen Nehrung nach mehr als dreijähriger Abwesenheit mal wieder einen Besuch abgestattet habe.
Allein die Wetterumstände hätten kaum unterschiedlicher sein können: Vilnius mit wunder-schönstem Spätherbstwetter – Sonnenschein und Eiseskälte – und Nida, nicht weniger kalt, aber doch eher von der ungemütlichen Sorte – Regen, Nebel und Sturmböen. Beides hatte jedoch seinen Reiz und Vilnius im Regen ist gerade in der Senamiestis keine besondere Freude. Da tritt man in der Stiklių gatvė auf eine der lockeren Gehsteigplatten und ein Schwall verstecktes Wasser ergießt sich über die erschreckten Füße. Die Füße waren auch so manchmal erschrocken, aber eher ob der mangelnden warmen Socken. In Nida waren die dankenswerterweise mit im Reisegepäck.
Aber fangen wir am Anfang an: Montag Morgen, zehn nach sechs. Ich verlasse das Haus, um den Bus nach Vilnius in knapp einer Stunde zu nehmen. Die Straßenkehrer gehen ihrer Arbeit nach. Müde Gesichter auf dem Weg zur Bushaltestelle, müde Gesichter an der Bushaltestelle, noch mehr müde Gesichter im Bus. Früh Aufstehen fand ich das letzte Mal gut, als ich fünf Jahre alt war, glaube ich. Am Busbahnhof, lettisch autoosta „Bushafen“, versuche ich, etwas fürs Frühstück aufzutreiben, das vielleicht kein Fleisch enthält, aber die Suche stellt sich als zwecklos heraus, denn das Café im Busbahnhof, die auch süße Teilchen hätten, öffnet erst um sieben, wenn mein Bus schon die Leinen losgemacht hat. Also werdens doch die pīrādziņi ar speķiem – kleine Teigtaschen mit Speck und Zwiebeln gefüllt, in der gekauften Variante leider sehr fettig, wie ich später ernüchtert feststellen muss. Nach einer Busfahrt durch den Sonnenaufgang mit etwas nachgeholtem Schlaf, Zeitungslektüre und Arbeit an meinem Vortrag kamen wir in einem noch neblig-trüben Vilnius an. Mein Weg führte mich zuerst in die Philologische Fakultät im Herzen der Altstadt – selbst bei grauem Wetter scheinen die weißen Barockgebäude immer ein wenig zu strahlen. Das Baltistische Seminar war fast ausgestorben, nur die Sekretärin war anwesend, also versuchte ich, in meinem etwas angerosteten und mit Lettisch durchtränkten Litauisch zu erklären, wer ich bin und was ich hier will. Einige grammatische Korrekturen und verwirrte Blicke später erinnerte sie sich an mich und ich konnte mein Gepäck abstellen und einen der leeren Schreibtische erobern. Am Nachmittag ging es zur Kuluturmittlerrunde im Goethe-Institut, um den Tag der Deutschen Sprache im nächsten Jahr zu besprechen. Nach einigen Unstimmigkeiten bezüglich des Termins wurde ein Fahrplan für die Vorbereitung aufgestellt und aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich mich um die Webseite kümmern. Das mag verwundern, aber zum Glück muss ich sie nicht selbst programmieren, sondern „nur“ verwalten und up-to-date halten – eine Aufgabe, der ich mich durchaus gewachsen sehe.
Am Abend habe ich endlich – nach mehr als zwei Jahren – meine beste Inga wieder-gesehen. Ich habe sie damals während meines Erasmusaufenthalts in Vilnius kennen-gelernt und seit dem darauffolgenden Sommer aufgrund von Zeit- und (vor allem) Geldmangel nicht mehr besuchen können, aber wir haben uns regelmäßig Postkarten von unseren anderen Reisen zukommen lassen oder Päckchen zu Geburtstagen und Weihnachten. Diesmal also wieder in persona, wenn auch nur begrenzt, da ich tagsüber auf der Baltistenkonferenz und sie auf der Arbeit war, aber wir haben es trotzdem geschafft, ein bisschen quality time zu finden. Auf der Tagung habe ich endgültig die Illusion verloren, dass alle wissenschaftlich arbeitenden Menschen, seien es Doktoranden, Post-Docs oder Professoren, top vorbereitet auf Kongresse fahren: Vor dem abschlie-ßenden Abendessen am Freitag ging die Mehrzahl der Teilnehmer früh nach Hause, um weiter an Vorträgen und Präsentationen zu arbeiten. Ich selbst bin auch erst am Abend vor meinem Vortrag zum Ende gekommen und auch der Probedurchlauf zur Abstimmung der Zeit blieb aufgrund akuter Unlust auf der Strecke. Aber alles in allem lief der Vortrag sehr gut, übermäßig kritische Anmerkungen blieben aus, an deren Stelle es eher interessierte Nachfragen und hilfreiche Kommentare gab. Wie üblich hatte ich mich im Vorfeld völlig umsonst verrückt gemacht…
Kaum wieder in Riga angekommen stürzte ich mich in die Übersetzung für das folgende Wochenende. Knapp einen Monat zuvor hatte mich eine Mail von meiner Baltistik-professorin in Frankfurt erreicht, die mir mitteilte, dass noch Plätze für einen Übersetzer-workshop Anfang November frei seien und ob ich nicht interessiert sei. Natürlich war ich das – und wie! Mittels einer schnell während des Frühstücks geschriebenen Mail an den Organisator war ich dabei und der Workshop vollständig. Kurze Zeit später wurden die Texte verteilt – zwei Mal zwei Texte von modernen Klassikern und je einer von zwei jungen Autoren. Ich entschied mich, mehr auf gut Glück als wissentlich, für ein Essay von Kęstutis Navakas. Mangels anständiger Wörterbücher (Obwohl ich jetzt die Offline-Version des LKŽ habe – endlich unabhängig von diesem verdammten Server, der alle Nase lang nicht zu erreichen ist!) und mangels Zeit kam gegen Ende der Woche eine recht rohe Übersetzung voll gelb markierter Stellen, litauischer Phrasen und nebeneinander stehender Überset-zungsvarianten zu Stande. Mein Text war glücklicherweise nicht allzu lang, ungefähr drei Word-Seiten, aber dafür auch nicht immer vollkommen verständlich. Aber so war der Workshop ja auch angedacht – zum Diskutieren, Verstehen und Weiterdenken. Die Autoren waren auch eingeladen; es kamen auch alle, bis auf Navakas… Ein Wochenende voll von Austausch, nerdigen Indogermanisten, die immerhin drei Viertel der Übersetzer stellten, und einer unerwarteten Fülle an Erbsen stand uns bevor. Ich glaube, ich habe innerhalb von drei Tagen noch nie so viele Erbsen gegessen. Diese kleinen grünen Kugeln zählen nicht eben zu meinem Lieblingsgemüse, aber am Sonntag gab es zu allen drei Hauptmahlzeiten Erbsen – am Samstag Morgen auch gepaart mit einem anderen kulinarischen Favoriten meinerseits: hartgekochten Eiern. Ich will mich beileibe nicht beschweren – die Verpflegung war reichhaltig und sehr gut –, aber diese Liebe zur Erbse ist mir rätselhaft geblieben.
Wie schon eingangs erwähnt: Das Wetter hätte in keinem größeren Gegensatz zu dem in Vilnius eine Woche vorher stehen können. Keine herbstlich verfärbt-belaubten Bäume mehr. Vereinzelt hatten sich einige Birken ganz auf der Spitze noch ein paar goldgelbe Blätter bewahrt – als seien sie die letzten gekrönten Häupter des Waldes, die Aristokratie quasi. Es herrschte bestes Novemberwetter, heißt wenig Sonne, viel bedeckter Himmel, Wind bis hin zu Sturmböenstärke, effektiver Nieselregen und auch mal richtiger Regen und vor allem Nebel. Da aber der Großteil des Programms ohnehin im Thomas-Mann-Haus in Nida ablief, störte das die Atmosphäre nicht weiter. Am freien Sonntag Nachmittag – kol dar saulė šviečia „solange die Sonne noch scheint“ – haben wir uns zu fünft auf die Ostseeseite der Kurischen Nehrung vorgekämpft. Das mag übertrieben klingen, aber auf den letzten fünfhundert Metern war es wirklich ein Kampf gegen den stürmischen Wind. Den Bäumen sah man an ihrem Wuchs an, dass Stürme hier eher die Regel als die Ausnahme in der Mehrheit der Monate zu sein scheinen: Vom Wind gekrümmt neigen sie sich zur Haffseite der Landzunge. Die Ostsee wälzte sich unruhig ans Ufer und wieder zurück, die Gischt rollte sich als kompakt aussehender Schaumklumpen über den Strand. Ich habe vorsichtshalber meine Brille abgenommen, aus Angst, dass sie mir sonst davon weht. Auf dem Rückweg fielen uns noch mehr Bäume auf, die nicht nur dem Wind nachgegeben haben, sondern auch auf der Ostseeseite vollständig mit Flechten bedeckt waren und deshalb so aussahen, als seien sie vor langer Zeit mit Kupfer beschlagen worden, das jetzt von grünlicher Patina bedeckt ist. Am Ende des Workshops erhielten wir alle eine Stofftasche von der Lietuvos Literatūros Vertėjų Sąjunga, dem litauischen Literaturübersetzerverband, und, sofern möglich, das Buch, in dem unser Text erschienen ist. Wie schon das ganze Wochenende über fragte ich mich, wie ich zu all dem, drei Tagen im Hotel mit Vollverpflegung und ideeller Förderung, gekommen war. Eine Mail beim Frühstück und meine Verbindung zur Baltistik in Frankfurt. Man merkte, wie wenige Leute aus dem Litauischen ins Deutsche übersetzen und dass der Bedarf angesichts der Tatsache, dass Litauen auf der Leipziger Buchmesse 2017 Gastland sein wird, groß ist. Ich war wohl einfach zur rechten Zeit am rechten Ort.