[Dieser Eintrag ist bereits seit Anfang Oktober im Entstehen begriffen und ich musste schon mehrmals Zeitangaben wie „letzte Woche“ ersetzen. Man möge sich einen Schuldigen aussuchen: der Umzug der Blogs auf einen anderen Server, die Vorbereitung meines Vortrags für Vilnius oder die anfallenden Arbeiten beim DAAD.]
Nachdem mein letzter Blogeintrag eher von den unschönen Seiten meines bisherigen Lebens in Riga erzählt hat, kann ich diesmal wieder erfreulichere Sachen berichten. Zu allererst die große Wende: Ich habe ein WG-Zimmer gefunden, dass zentral gelegen und zugleich bezahlbar ist! Die Mitbewohner sind – in Riga geradezu unvermeidlich – deutsche Medizinstudenten im zweiten Semester und echt nett. Eingezogen bin ich an einem Sonntag Anfang des Monats und wohne jetzt nur noch einen Katzensprung von den beiden anderen kulturweit-Mädels entfernt. Nun wohne ich wie alle anderen auch im Zentrum und ein Teil von mir findets irgendwie schade, dass ich nicht mehr in Maskačka lebe, wo in den letzten Tagen mehr und mehr der Geruch von Holzfeuer in der Luft lag und so den Herbst angekündigt hat. Bisher tut die Sonne noch ihr bestes, aber die Temperaturen sind immer weiter runtergegangen und Ende vorletzter Woche gabs den ersten Nachtfrost. Die kalte Luftmasse ist inzwischen weitergezogen und hat Deutschland den ersten Schnee gebracht. Hier herrschen wieder um die zehn Grad tagsüber und meist ist auch wieder die Sonne am Start – Regen ist bisher eher die Ausnahme. Ein Herbst genau nach meinem Geschmack!
Die Tage Ende letzten und Anfang dieses Monats waren ziemlich ereignisreich: Ich habe mich auf meine erste „Dienstreise“ begeben und bin auf teilweise abenteuerlichen Wegen über Daugavpils nach Visaginas gereist. Natürlich habe ich den Bus um 8.40Uhr nicht bekommen – man sollte neben der eigentlichen Fahrzeit mit dem Bus zum Busbahnhof vielleicht auch die Zeit einrechnen, die man zur Bushaltestelle braucht, und der Morgenverkehr hat sich auch als weitere Unbekannte in die Rechnung eingeschlichen. Dadurch habe ich nicht nur den Bus nach Daugavpils um ganze drei Minuten verpasst, sondern konnte auch meine Anschlussverbindung nach Litauen vergessen. Der nächste Bus in Richtung der zweitgrößten Stadt Lettlands kam exakt fünfzehn Minuten zu spät dafür an. Da die Busverbindungen zwischen östlichem Lettland und östlichem Litauen zu meinem großen Erstaunen wirklich unterirdisch sind – Daugavpils–Visaginas: 07:40, 13:30. Ende. –, wurde meine Reise eine Spur dekadent und ich habe ein Taxi genommen. Da meine Lettischkenntnisse immer noch sehr schmal sind und meine Russischkenntnisse, wenn man von den paar Worten wie ключ oder домой absieht, die meine Eltern ab und an eingebaut haben, nicht existent sind, habe ich jemanden gebeten, mir ein Taxi zu rufen. Sowohl der Fahrer als auch das Gefährt waren eine ungewohnte Erscheinung. Der Taxifahrer war etwas kleiner als ich, dafür aber fast viermal so breit und ich weiß nicht, ob ich das Auto gestiegen wäre, wenn ich es im Stadtverkehr angehalten hätte, denn vertrauenswürdig sah mein „Chauffeur“ nicht gerade aus. Er stellte sich aber als – im Rahmen der Umstände, also ohne Verständigungsgrundlage – nett und vor allem fair heraus. An der lettisch-litauischen Grenze wird gerade die Straße erneuert. Und wenn ich erneuert sage, meine ich nicht saniert, sondern eine Fahrspur und daneben gehts anderthalb Meter runter zum Fundament der anderen Spur. Nachdem ich in Zarasai kurz der Insel, auf der das Mėnuo Juodaragis stattfindet, gewunken habe, war ich auch schon am Ziel angekommen. Die DAAD-Sommerschule Mapping Visaginas: International summer school on sources of urbanity in post-industrial cities – mein Grund, nach Visaginas zu fahren – lief bereits seit zehn Tagen und die anstehende große Abschlusspräsentation wurde mit viel Tatkraft vorbereitet.
Aber zuerst einmal zur Stadt selbst. Visaginas wurde in den 1970ern wortwörtlich aus dem Boden gestampft und diente als Satellitenstadt für das nahegelegene Atomkraftwerk Ignalina. Wie vielleicht schon am Satz vorher deutlich wird – diente –, ist das Atomkraft-werk, das übrigens vom gleichen Typ wie das in Chernobyl ist, seit 2009 stillgelegt. Die aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion angeworbenen Ingenieure und Facharbeiter sind inzwischen größtenteils ohne Arbeit. Deshalb wird Visaginas als Problemstadt angesehen: Die Bevölkerung ist in der Mehrheit russischsprachig und die Stadt selbst dem ökonomischen Niedergang preisgegeben. Trotzdem wurde mir gesagt, dass die Einwohner gerne in ihrer Stadt an einem der zahlreichen Seen der Gegend leben und sie auch lieben. Ich selbst bin mit einer gewissen Faszination im Gepäck durch die Straßen gegangen. Zugegebenermaßen, viel Zeit hatte ich nicht, um mir einen eingehenden Eindruck zu verschaffen, aber schon bei einem kurzen Spaziergang die Sedulinos alėja rauf und runter auf der Suche nach Postkarten zeigt die Stadt ihre interessanten Seiten. Diese Straße ist als Haupteinkaufsstraße angelegt, ein bisschen wie der Breite Weg in Halberstadt: Eine breite Straße mit Rabatten in der Mitte, einem Springbrunnen, der dem auf der Vokiečių gatvė in Vilnius mit seiner Pustenblumenform nicht unähnlich sieht, und links und rechts Wohnhäuser mit kleinen Läden im Erdgeschoss. Man wandelt durch ein Freilichtmuseum der baltischen Sowjetarchitektur. Verschiedenste Stile und Backstein-farben, meist anonymes Grau und backsteintypisches Rot, stehen friedlich Seite an Seite. Viele der Läden stehen bereits leer und lassen nur noch erahnen, dass diese Straße einmal der Mittelpunkt des Lebens in Visaginas gewesen sein muss. Unweit des einen Endes dieser Straße steht der Grund für den Leerstand: Ein kleines Einkaufszentrum vereint nun in einem praktischen Klotzbau Supermarkt, Uhrmacher, Zeitschriftenladen, Bank und weitere Geschäfte. Ein weiteres könnte bald in unmittelbarer Nähe hinzukommen, wenn nur erst die halbfertigen und der Witterung ausgesetzten Bauruinen, denen man ansieht, dass sie ursprünglich als Spiegelbild der gegenüberliegenden Straßenseite geplant waren, abgerissen sind. Diese halbfertige Häuserzeile bietet schon einen ungewöhnlichen Anblick. Während am einen Ende schon mehrere Stockwerke inklusive doppelverglasten Fenstern stehen, ist am anderen noch nicht einmal das Erdgeschoss fertiggestellt. Trotzdem haben sich einige junge Birken als mietwillig erwiesen und zieren das „erste Obergeschoss“. Ungeschützt durch klare Abschlusskanten werden die roten Backsteine mit jedem Regenguss, jedem Schneefall und jedem Sonnenstrahl weiter zerfressen, sodass sich vereinzelt Löcher bilden. Bei einem nächtlichen Spaziergang zum See, um der äußerst populären und äußerst stereotyp-russischen Disko im Café-Restaurant des örtlichen Hotels zu entkommen („Das nächste Lied ist für die Sekretärinnen des Betriebs xyz!“) zu entkommen, kam mir die Umgebung auf einmal sehr bekannt vor. Uniforme Gebäude, umgeben von Birken und Kiefern, der Boden sandig und in greifbarer Nähe befindet sich ein See – das alles erinnerte sehr an das Vorbereitungsseminar am Werbellinsee. Die Disko war ebenfalls ähnlich qualitativ hochwertig. Auf Erholungs- und Freizeitmöglichkeiten wurde jedenfalls beim Bau der Stadt geachtet.
Zurück zur Sommerschule: Die jungen Menschen aus Deutschland, Litauen und Weiß-russland haben sich zehn Tage lang mit Konzepten und Strategien zur „Rekultivierung“ post-industrieller Städte – Visaginas ist zweifelsohne eine solche – befasst, Vorträge gehört, Exkursionen unternommen, um letztendlich selbst kreativ zu werden. In der großen Abschlusspräsentation wurden verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, der Stadt wieder mehr Leben einzuhauchen, ohne dabei die Vergangenheit in den Hintergrund treten zu lassen: Stencils mit verschiedenen Wahrzeichen der Stadt und dem Themenkomplex „Atomkraftwerk“ wurden angefertigt, ein russischsprachiges Mitmachprojekt zeigt anhand verschiedenfarbiger Wollfäden auf einem Spielplan die unterschiedlichen (Lebens-)Wege der Bewohner, Vorschläge zur Schaffung eines Jugendradiosenders mit dem Namen RADIOaktiv, einer Buchtauschstation samt Café und einer Rodelbahn durch die gesamte Sedulinos alėja im Winter wurden aufgehängt und per Klebenotiz von den Einwohnern der Stadt bewertet und diskutiert. Da an diesem Tag ein wirklich garstig kalter Wind wehte, war ich froh, irgendwann wieder reingehen und mich mit heißem Tee versorgen zu können. Es folgte die Auswertung, an der ich allerdings nicht teilgenommen habe, sondern mich mit den beiden anderen Unbeteiligten, die aus Vilnius angereist waren, im Café gegenüber unterhalten habe. Dass es in diesem Restaurant genau eine englische und eine litauische Speisekarte gibt, sagt schon viel über die vorherrschende Alltagssprache in Visaginas aus. Ich habe mich für die litauische entschieden. Ein wenig Sprachpraxis muss sein, auch wenn das nur im begrenzten Rahmen möglich war, da viele Leute zwar Litauisch verstehen (andere wiederum auch nicht), es aber nicht sprechen. Wie zum Beispiel die Taxifahrer der Stadt, die zwar sehr gut verstanden haben, dass ich nach Daugavpils wollte, mir den Preis allerdings nur auf Russisch sagen konnten. Ich kann – mit etwas Improvisieren bei der Zahl „vier“ – auf Russisch bis fünf zählen. Russisch steht definitiv als nächstes auf der Liste der zu lernenden Sprachen (zusammen mit Portugiesisch)…!
Am nächsten Morgen folgte nach der Kür die Pflicht: Mein erster Vortrag im Namen des DAAD – „Study in Germany“. Ich weiß nicht, für welchen Zeitrahmen die Präsentation eigentlich ausgelegt ist – mal ganz abgesehen davon, dass auf den Study-Teil noch ein sehr viel längerer Research-Teil folgt –, aber ich habe festgestellt, dass man mal eben in zehn bis zwölf Minuten übers Studieren in Deutschland inkl. Stipendienmöglichkeiten des DAAD, Lebenshaltungskosten in Deutschland und diverse Seiten zur Wahl des Studiengangs reden kann, wenn es denn sein muss. Danach gings dann auch schon bald wieder Richtung Lettland, auch im Taxi, wie man vielleicht schon herauslesen konnte – die Anbindung ist auf der anderen Seite der Grenze ähnlich gut ausgebaut. Anstatt durch Zarasai und entlang der Abgrundbaustelle führte der Weg diesmal allerdings vorbei an vielen kleinen Seen und durch kleine Dörfer, die sich wie Perlen entlang der Straße aufreihen. Das mag jetzt furchtbar romantisch klingen, aber den meisten Holzhäusern sieht man an, dass sie schon seit längerer Zeit auf einen frischen Anstrich oder eine Komplettsanierung warten. Verwilderte Gärten und halbzugewachsene Häuser erzählen zudem von der Flucht ihrer Bewohner in die größeren Städte. Ein wenig ausgehungert und mit nur wenig Zeit versehen, dachte ich, am Bahnhof in Daugavpils oder zumindest in seiner näheren Umgebung einen Supermarkt zu finden, aber weit gefehlt. Da der Dönerladen – in Lettland übrigens häufig von Pakistanis geführt – nicht gerade vertrauens-erweckend aussah, entschied ich mich, mit dem Essen bis Riga zu warten und im Zug ein wenig zu schlafen und/oder die Landschaft beim Vorbeiziehen zu betrachten. Während inzwischen schon viel gelbes und rotes Laub die Straßen und Wege bedeckt, stand die alljährliche Verfärbung der Bäume und Sträucher zu Beginn dieses Monats noch an ihrem Beginn. Und so hatte mich Riga mit seinen Jugendstilhäusern und den mir immer noch abstrus laut erscheinenden Sirenen wieder.