Gedankenfetzen

Wenn ich mir die anderen Blogs so anschaue, die geradezu strotzen vor neuen Ein- und Ausblicken, voll sind von Fotos, die für mitteleuropäische Augen exotische Landschaften oder weite Ebenen bis zum Horizont zeigen, und auf denen fleißig Anekdoten und eindrucksvolle Ereignisse dokumentiert werden, kommt mir der Ort, an dem ich das nächste Jahr verbringen werde, geradezu so vor, als sei ich in die nächste Stadt gefahren, die eben zufällig eine Hauptstadt ist. Die Jugendstilbauten, für die Riga so berühmt ist und von Vielen geliebt wird, sind ohne Zweifel wunderschön – versteht mich nicht falsch! – und wenn ich die Wahl habe, aus dem Fenster zu schauen und entweder reich verzierte Gebäude in verschiedensten Farben oder eine Reihe von gleichförmigen grauen Kästen aus der Ära Chruschtschow zu sehen, entscheide ich mich ohne auch nur mit der Wimper zu zucken für die Jugendstilbauten; was mir vielleicht jedoch ein wenig fehlt, ist der Reiz des Unbekannten, den alle gerade auszukosten scheinen.

Ich frage mich allerdings auch immer wieder – meist abends auf dem Weg nach Hause –, ob meine derzeitige Verstimmung nicht in erster Linie daher rührt, dass ich immer noch in der Luft hänge, was meine Wohnsituation betrifft. Die Lektüre der zum Teil wahnwitzigen Anzeigen für WG-Zimmer im Zentrum der Stadt macht mir zunehmend weniger Spaß: Die Preise nehmen lächerliche Ausmaße an – das letzte Angebot: 16qm in der Altstadt für schlappe 450€ – und ich fühle mich inzwischen stark an die Zimmersuche nach meinem halben Jahr in Vilnius erinnert, als ich ebenfalls bei einem guten Freund untergekommen bin, der ebenfalls nur eine Einzimmerwohnung mit größerer Küche bewohnte, doch waren es damals zwei Monate. Also versuche ich, wie auch damals, so schnell wie möglich ein Zimmer zu bekommen und mich dabei immer noch so zu fühlen, als würde ich das Zimmer nicht nur nehmen, weil ich muss – kein leichtes Unterfangen! Aber diese Situation, dass man mir ein Zimmer angeboten hat, ich aber doch nicht ans andere Ende der Stadt ziehen oder mit für mich irgendwie seltsamen Menschen zusammen wohnen wollte, hat sich hier ohnehin noch nicht ergeben. Ich bin nicht die Einzige, die auf der Jagd nach einem möglichst günstigen, möglichst zentralen Zimmer ist… Also begebe ich mich jeden Tag aufs Neue auf die Pirsch, auch wenn ich das Gefühl habe, dass jetzt gerade nicht die richtige Zeit dafür ist.

Die Arbeit beim DAAD hingegen läuft gut: Sowohl der Büroleiter als auch die Mitarbeiterin sind sehr nett und im Vergleich zu anderen Freiwilligen habe ich sehr humane Arbeits-zeiten. Ich habe schon fleißig Werbung für Stipendien auf der Facebook-Seite des Infor-mationszentrums geschaltet, Rundmails verfasst und dabei die Vorzüge von Adressbuch-exporten im csv-Format kennengelernt, Studiengangsverantwortliche angeschrieben und quasi nebenbei meine erste „Dienstreise“ geplant. In einer Woche werde ich wieder litauischen Boden betreten und bei einer Sommerschule des DAAD in Visaginas ein bisschen die Stipendienwerbetrommel rühren. Auch auf der Suche nach einem Sprachkurs bin ich intensiv und habe heute auf gut Glück einen Online-Einstufungstest gemacht: Die Fragen reichten von pille-palle bis zu „Ich kenne keines der Wörter in diesem Satz – auch nicht die, die ich einsetzen soll…“. Nur meine Erkältung hat sich entschieden, noch mal in die zweite Runde zu gehen, weshalb meine Stimme heute ziemlich angeschlagen war.

Einige Dinge gibts es dann doch noch, die mich erstaunen, überraschen oder mir Rätsel aufgeben, die ich jetzt einfach zusammenhangslos hier aufführen werde. Zum Beispiel ist mir aufgefallen, dass die meisten Holzhäuser in der Moskauer Vorstadt entweder rot-braun oder grün, manchmal auch beige, gestrichen sind. Wenn ich mich recht erinnere, war das in Karlova in Tartu ebenfalls so und ich frage mich, ob es dafür einen bestimmten Grund gibt. Diskussionsbeiträge sind herzlich willkommen. Außerdem finde ich, dass man hier viel deutlicher merkt, dass es früher dunkel wird, als das vor drei Jahren in Vilnius der Fall war. Gestern bin ich um acht Uhr abends nach Hause gekommen und es war wirklich dunkel, keine Dämmerung, kein Abendrot. Auf dem Weg zum Couchsurfing-Treffen am Dienstag Abend sah ich schon von Weitem eine demonstrierende Menschenmenge, darunter auch Kinder, auf dem Platz beim Freiheitsdenkmal und dachte mir erst nicht viel dabei, aber als ich anfing die Transparente zu lesen – Baltija ir mūsu, das Baltikum gehört uns, und Asia for Asians, America for Americans, Europe for Europeans waren unter anderem zu lesen –, liefs mir glatt kalt den Rücken runter und ich war mit einem Mal sehr froh, den Redner nicht zu verstehen. Auf meinem Heimweg, nur einige Stunden später, habe ich an selber Stelle einen älteren Herrn mit Banjo gesehen, der für mich einige Lieder gespielt hat und auch einiges zu den Liedern erzählt hat – leider auch auf Lettisch, nur dass ich es diesmal bedauerte, nichts zu verstehen. Als ich gesagt habe, ich müsse nun nach Hause, hat er mich gefragt, woher ich komme, und hat dann noch Lili Marleen quasi zum Abschied gespielt. Die Traurigkeit, die ich immer verspüre, wenn ich ältere Menschen so ganz allein sehe, hat mich bis nach Hause begleitet.