Einschusslöcher

Als Deutsche in Polen, das ist immer noch etwas Besonderes.  Auf dieser Seite meines Blogs möchte ich daher über alle meine Eindrücke, Begegnungen, Gedanken und Gespräche zu diesem Thema berichten.

Ich möchte jedoch betonen, dass alle meine Erfahrungen natürlich subjektiv sind und keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben.

Bei den Vorbereitungen für mein FSJ bekam ich das Gefühl, dass die deutsche Geschichte für die Polen bei der Begegnung mit einem Deutschen fast keine Rolle mehr spielt. Nach meinen ersten Wochen hat sich mein Eindruck etwas gewandelt.

An meinem ersten Tag in der Schule habe ich einen Lehrer gefragt, ob man den Namen meiner Straße, ulica Olgierda, übersetzen könne. Darauf meinte er, dass Olgier ein litauischer König gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, dass dessen Sohn der Feldherr war, der die Deutschen 1410 in der Schlacht bei Grundwald geschlagen hat.  Ich kannte diese Schlacht und wusste, dass die von den Deutschen gewonnene Schlacht bei Tannenberg im Ersten Weltkrieg als Revanche gesehen wurde, da die Kämpfe in etwa an den gleichen Plätzen stattfanden. Trotzdem hat mich diese Geschichte nicht berührt. Das ist für mich Vergangenheit. Der Lehrer hat das anscheinend während des Gesprächs bemerkt und dann angemerkt, dass deutsche und polnische Soldaten heute zusammen die Aliierten seien, in Afghanistan.

Derselbe Lehrer hat mich während meines Aufenthalts nun schon öfter gefragt, ob Vorfahren von mir im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben.  In meiner Familie wird das Dritte Reich zwar nicht totgeschwiegen, aber so genau weiß ich dann doch nicht Bescheid. Ich habe da auch keinen direkten Bezug zu, da ich keine Verwandten von mir kenne, die vor 1945 älter als elf Jahre waren. Dieses Unwissen von mir wurde schon mit einem sehr überraschten und vielleicht auch ein wenig zurechtweisendem „You don’t know???“ einer anderen Lehrerin kommentiert, als der Kollege ihr davon erzählte.

Die Altstadt von Warschau ist sehr schön, auf den ersten Blick. Mit der Information, dass all die Häuser, Kirchen und das Schloss erst 60 Jahre alt sind, trübt sich das Bild etwas. Als Reaktion auf den Warschauer Aufstand legten die Nationalsozialisten die Stadt in Schutt und Asche, sodass alle heutigen Gebäude Kopien sind. Sie wurden nach Zeichnungen des Malers Canaletto (ich kenne ihn von seinen Dresdner Stadtansichten) wiederaufgebaut. Für mich ist ein komisches Gefühl jetzt als Deutsche durch diese Gassen zu spazieren. In einer der wiedererbauten Kirchen soll ein Stück Panzerkette aus der Zeit eingebaut worden sein. Dieses besondere Mahnmal möchte ich mir unbedingt anschauen.

Heute war ich im Stadtteil Praga unterwegs. Mir wurde gesagt, dass es dort noch Häuser mit Einschusslöchern gibt. Die wollte ich unbedingt sehen. Jetzt habe ich sie gesehen und ein Ahnung davon, wie es dort zu Kriegszeiten gewesen sein muss. Nach dieser Erfahrung hatte ich die Idee zu diesem Teil meines Blogs, daher der Name und das Bild.

In der ersten Stunde meines Sprachkurses haben wir die polnischen Namen unserer Länder gelernt. Deutschland heißt Niemce. Der Leiter unseres Sprachkurses hat mich und den anderen Deutschen gefragt, ob wir davon die Übersetzung wissen möchten. Da war erstmal eine Minute Stille im Raum. Was erwartet uns jetzt? Hat der Name etwas mit der Zeit zwischen ’33 und ’45 zu tun? Wie sollen wir jetzt reagieren? Schließlich haben wir doch genickt und wurden mit einer niedlichen Geschichte belohnt. Als die Polen auf der Flucht vor Attilla gen Westen zogen, kamen sie irgendwann an einen Fluss: Die Elbe.  Von da an verstanden sie die Menschen nicht mehr, vorher waren sie nur slawischen Völkern begegnet, mit denen sie noch in etwa die gemeinsame Sprache hatten.  Aus diesem Grund nanten sie die Volksstämme jenseits der Elbe „die, die nicht slawisch sprechen“. Niemce ist jedoch eine Verkürzung davon und heißt „die, die nicht sprechen“. Kommentar von meinem Sprachkursleiter dazu: Erzählt das nicht weiter, das ist eine peinliche Geschichte.

Im Rahmen eines COMENIUS-Umweltprojektes hatte unsere Schule Besuch von deutschen, spanischen und ungarischen Schülern. Ich sollte die deutschen Schüler ein wenig betreuen. Als diese sich aber verspäteten, saß ich alleine mit einer Physiklehrerin und zwei Schülern im Präsentationsraum und habe gewartet. In der Gesellschaft einer Deutschen fiel ihr dann eine Geschichte aus ihrer Familie ein, die mir ein Schüler dann auf Englisch übersetzt hat: Ihr Bruder hat einmal eine Handgranate(???) gefunden und sie aus Spaß weggeworfen, aus Versehen in Richtung eines Gebäudes der deutschen Besatznungsmacht. Daraufhin wurde die Familie aufgefordert, in 5 Minuten die Stadt zu verlassen. Der Vater der Lehrerin konnte jedoch Deutsch und hat die Situation erkärt. Durch diesen Glücksfall durften sie in der Stadt bleiben. Ich war von der Geschichte etwas betroffen, aber dann kamen die Besucher und alles musste seinen Gang gehen. Das ist merkwürdig, solche Geschichten mal eben zwischendurch zu hören, weil sie den Menschen beim Treffen einer Deutschen einfallen.

Eine ähnliche Situation ergab sich an einem sehr kalten Abend, als ich einen fremden Mann in meine Wohnung ließ. Er hat sich zwei Eimer Wasser geholt, weil er zu Hause gerade keines hatte und die „Havaria“ erst am nächsten Morgen behoben werden sollte. Nach ein bisschen Smalltalk musste er mir wohl noch etwas Wichtige sagen: Mit dieser Handbewegung mit gekrümmtem Daumen und Zeigefinger vom Mund weg sagte er, dass die DDR ein „najlepsze“, also der beste, Staat gewesen sei. „Einfach lächeln“ habe ich mir da gedacht!

Ein Wochenende in Piła hat mich ebenfalls besonders berührt. Ich wusste die ganze Zeit nicht, was ich von der Stadt halten sollte. Wo man auch war, es fanden sich nur (zum Glück bunte) Plattenbauten. Abends haben sich Jenny(https://kulturweit.blog/pila/) und ich dann Fotos von der Stadt vor dem zweiten Weltkrieg gesehen. Es ist einfach unglaublich, dass die ganzen Kirchen und bürgerlichen Häuser jetzt einfach nicht mehr da sind.  Die Stadt sieht jetzt komplett anders aus. Ich bekomme immer mehr Respekt davor, dass die Polen den Deutschen so etwas vergeben können.