Über den Abgrund hinaus

In einem Waggon der Deutschen Reichsbahn rattere ich begleitet vom monotonen Klopfen und Hämmern der Räder auf den Schienen durch enge Flusstäler. Zu beiden Seiten steile, baumbewachsene Berghänge. Dadamm-dadamm. Die Luft in unserem Abteil ist unerträglich. Ich lehne mich aus dem weit heruntergelassenen Fenster, recke den Kopf in den Fahrtwind und schaue zu, wie sich die Bahn auf der schmalen Trasse die Hänge entlangschlängelt. In meinem Rücken die steil aufsteigende Felswand, vor mir ein seichter Hang der sich in sanften Wellen hinunter ins Flussbett ergießt. Der tiefrote Anstrich der Bahn und die vergilbten goldenen Akzente lassen den Glanz und Stolz vergangener Tage nur noch in der Ferne erahnen.

Immer wieder fahren wir entlang an kleinen Dörfern, niemals mehr ein Dutzend Häuser, die sich schutzsuchend an die Hänge schmiegen. Der größte Teil der Gebäude scheint wie wild zusammengewürfelt. Aus dem Mauerwerk schießen Büsche und Sprösslinge ans Tageslicht, unverputzte Ziegelwände paaren sich mit morschen Massivholzbalken und verrostetem Wellblech, dazwischen lassen sich die Überreste von Wohnhäusern erkennen.

Einige der Häuser scheinen bewohnt zu sein, die meisten gekleidet in Planen und Gerüste, große Haufen Kies und Sand im Garten, vor der Eingangstür palettenweise Backsteine und Zementsäcke. Auf den Straßen stehen Autos, viel zu viele Autos für solch kleine und verlassene Dörfer. Immer wieder überkommt mich das Verlangen an einem der winzigen Bahnhöfe meinen Rucksack zu greifen und auszusteigen. Ich versuche mir vorzustellen wie der Alltag der Menschen in einem solchen Dorf aussieht. Sicherlich lebt in jedem dieser unzähligen Dörfer eine alte Frau die ihr gesamtes Leben hier verbracht hat, eine stille Beobachterin im Lauf der Zeit.

Mir wird schwarz vor Augen. Ich habe den Tunnel nicht kommen sehen und werde vollkommen aus meinen Gedanken gerissen. Dadamm-dadamm.

Es wird wieder hell; der Zug hat den letzten großen Gebirgszug unterwandert und bahnt sich nun seinen Weg durch eine weite grasbewachsene Ebene, eingerahmt von den letzten Ausläufern des Gebirges. Ansammlungen bizarrer Felsformationen ragen über die Baumwipfel hinaus in den Himmel, dichte Wälder ziehen sich die Hänge hinab in die Ebene und lichten in Auenlandschaften am Ufer eines gemächlich dahinfließenden Stroms.

Die Fahrtgeschwindigkeit des Zuges erhöht sich in diesem flachen Gelände deutlich und die Landschaft zieht immer schneller an uns vorbei. Die Bahn rollt in seichten, kaum merklichen Kurven durch die weiten Ackerlandschaften. Die trockenen Stoppeln auf den brachliegenden Felder ziehen sich wie ein Nadelteppich in die Unendlichkeit der Landschaft und werden von der am Horizont langsam untergehenden Sonne in ein rotes Licht getaucht. Zwischen den Äckern schlummern in der milden Luft des Abends in unregelmäßigen Abständen vereinzelt kleine Häuser. Es sind keine Menschen zu sehen, keine Autos, nicht einmal Tiere. Es überkommt mich das Gefühl in einer Welt angekommen zu sein, in der die Zeit seit 100 Jahren stillsteht.

Immer wieder verringert sich unsere Geschwindigkeit bis die Bahn letztlich mitten im Nirgendwo zum Stehen kommt. Vorerst will sich mir der Grund dieser eigenartigen Pausen, nie länger als eine halbe Minute, nicht erschließen. Nach dem vierten oder fünften Stopp dieser Art entdecke ich schließlich das erste Mal Menschen außerhalb des Zuges seit wir die Berge verlassen haben. Menschen die in der Böschung der Trasse stehen und warten. Haltestellen bei denen nichts auf eine Haltestelle hindeutet, kein Bahnhofsgebäude, kein Schild, nicht einmal ein Weg oder gar eine Straße. Nur Menschen im Bahngraben.

Die Umgebung wird jetzt immer mehr von der Zivilisation geprägt, an die Gleise reihen sich Gruppen von Häusern, alte Militärtrucks stehen an den Wegesrändern, Hunde streunen umher und Pferdekarren traben in gemächlicher Geschwindigkeit durch die Dörfer. Wir fahren in einen Bahnhof ein. Vor dem kleinen Bahnhofsgebäude sitzen Großväter und genießen die letzten Sonnenstrahlen des warmen Oktobertages während der Bahnhofvorsteher in seiner tiefblauen Uniform, die Kelle unter den linken Arm geklemmt, den Bahnsteig entlangläuft.

Von den fünf Gleisen des Bahnhofes scheinen nur noch drei genutzt zu werden. Auf den beiden hinteren Gleisen stehen lange Reihen aneinandergekoppelter Waggons, teils Flachwagen, teils gedeckte Güterwagen, alle eingehüllt in ein grünes Geflecht aus Sträuchern, Ranken und kleinen Bäumen. Dahinter erhebt sich, braun vom verrosteten Stahl, die Wand einer verwaisten Industriehalle mit riesiger Fensterfront. Viele der Fenster sind zerschlagen, die verbliebenen, uneben und verdreckt, lassen den Staub im Inneren auf mystische Weise im warmen Abendlicht tanzen. Ruckelnd setzt sich die Bahn wieder in Bewegung. Ich lehne mich in den weichen Sitz zurück, schließe meine Augen und träume, begleitet von der leisen Musik meiner Kopfhörer, vor mich hin.

Als ich meine Augen wieder öffne ist es draußen schon vollkommen dunkel und nur die die erleuchteten Fenster der an uns vorbeirauschenden Häuser spenden noch fahles Licht. Die kleinen Ziegelhäuser sind größer geworden, haben sich in die Höhe gestreckt und gereckt, sodass wir jetzt durch Vorstädte fahren deren breite Plattenbauten sich reihenweise in den dunklen Nachthimmel auftürmen. Eine Welt die sich mir offenbart, im vollkommenen Gegensatz zu den Dörfern und Ackerlandschaften vergangener Tage. Zwei Eindrücke die nicht zusammenpassen wollen und dennoch gemeinsam das Bild eines großen Ganzen schaffen. Ein Bild das sich tief in mein Gedächtnis gebrannt hat und mich nicht mehr loslassen will. Das Bild einer Welt die so fremd und doch vertraut ist.

Ich sitze in einem dunklen Zugabteil, höre Element of Crime und fahre durch die bulgarische Nacht.