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Zwischen den Schulen

– Meine Eindrücke zum Schulsystem in Vietnam –

Es ertönt das archetypische Läuten einer Pausenglocke und die SchülerInnen stürmen auf den Schulhof. Sie setzen sich auf blaue Plastikhocker in Reihen zu ihren KlassenlehrerInnen. Sie lassen pinken Schleim zwischen ihren Händen hin und her fließen, greifen in die Chipstüte, schauen auf ihr Handy, nippen am Milchtee und vertreiben sich die Zeit. Bis es plötzlich still wird, sie aufstehen und eine Melodie erklingt, zu der sie feierlich mitsingen. Es ist die vietnamesische Hymne und ein ganz normaler Montagnachmittag. Ich schleiche mich eilig zur Straße davon und treffe dort auf einige Schülerinnen der achten Klasse, die darauf warten von ihren Eltern mit dem Moped abgeholt zu werden. Sie tragen eine weiße Bluse und einen dunkelblauen Rock, manchmal noch ein rotes oder blaues Halsband. Die älteren SchülerInnen versuchen aber die Konformität der Uniformen mit langen Pullovern, Haarschmuck, bunten Turnschuhen oder grellen Jacken immer wieder zu durchbrechen.

Würde ich einen Schulaufsatz über das Schulsystem in Vietnam verfassen, würden nun einige Fakten genannt werden müssen. Also los: 12 Jahre dauert auch hier die höchste schulische Ausbildung (bestehend aus Grund-,Mittel- und Oberschule). Fünf Abschlussprüfungen (Multiple-Choice-Tests) warten dann auf die SchülerInnen des ganzen Landes. Um 90% ist die Alphabetisierungsrate seit der Wiedervereinigung in Vietnam gestiegen. 45 Minuten dauert eine Unterrichtsstunde, davon haben die SchülerInnen meistens 6-9 am Tag. 1 Stunde und 40 Minuten dauert dazwischen die Mittagspause, die SchülerInnen fahren währenddessen zum Schlafen und Essen nach Hause. Zwischen 35 und 50 Euro verdient eine vietnamesische Lehrkraft im Monat, bezahlt wird nur die Präsenzzeit. 21 965 Euro beträgt das jährliche Schulgeld an der Britisch International Highschool Saigon.

Genug. Wie kann man diese Zahlen in ihren Kontext setzen? Bildung sei ein hohes Gut hier in Vietnam, sagt man. Auf Plakaten sieht man Ho-Chi-Minh mit SchülerInnen lernen. In jedem Zimmer hängt neben den Lautsprechern sein Bild. Auf welche Schule ein Kind geht entscheidet sich durch spezielle Aufnahmeprüfungen (und Zahlungen an den SchulleiterIn). Es gibt „Highschools for the gifted“ und andere für eben die Anderen.

Der Unterricht besteht häufig aus frontalen Monologen der LehrerInnen, die im Ao Dai (traditionelle vietnamesische Kleider) auf dem Podest vor der Klasse in ein Mikrofon sprechen (es sind vorwiegend Frauen, doch es ist natürlich eine Verallgemeinerung). Die Gesichter der SchülerInnen blicken sie dann müde an oder versuchen hastig im Heft alles mitzuschreiben. Fast alle von ihnen lernen nach dem offiziellen Unterricht in privaten Lehrinstituten weiter. Auch die LehrerInnen fahren dort nach Schulschluss mit dem Lehrplan bis in die Nachtstunden fort. Bessern so ihr geringes Gehalt auf und bereiten die SchülerInnen gezielt auf die Reproduktion des Gelernten am Ende der Semester in den abschließenden Tests vor. Diese schreiben sie in Mathematik, Biologie, Chemie, Physik, Englisch, Literatur und je nach Schulform zum Beispiel auch noch in Deutsch, Musik oder Fotografie.

Und plötzlich stehe ich in der Schusslinie. Vor mir liegen zwei Kinder in Sportuniformen auf dem Boden und zielen auf mich, oder genauer auf die Zielscheibe hinter mir. Erschrocken renne ich auf die SchülerInnengruppe, welche sich gerade Wundverbände um den Kopf wickeln zu. Von rechts schleichen sich robbend weitere Kinder an. Als ich eine andere Gruppe mit roten Fahnen winken sehe habe ich es fast geschafft und bin an dem Unterrichtsraum angekommen. Sportunterricht eben. Am Montag üben sie vielleicht wieder Hochsprung.

Die Familien investieren viel in die Bildung ihrer Kinder. Nicht nur chauffieren sie diese durch die Mopedfluten, morgens, mittags und abends durch die Stadt, sondern sie bezahlen auch viel Geld für Nachhilfe, Zusatzstunden oder Unterricht bei Muttersprachlern. So ist der doppelte Schulalltag nicht nur finanziell, sondern auch mental für die Kinder und Eltern sehr anstrengend. Für Hausaufgaben und Hobbys bleibt oft nur sonntags Zeit. Denn auch in den scheinbar endlosen dreimonatigen Sommerferien von Mai bis August bieten viele Schulen (verpflichtende) Sommerkurse an.

Und was machst du hier?“ – „Ach, du bist auch LehrerIn. Welche Schule?“ – Unzählbar oft habe ich in den vergangenen Monaten dieses Gespräch geführt. Denn auffällig viele junge Menschen aus westlichen Ländern arbeiten in Saigon, ausgebildet oder unausgebildet, für einige Monate bis Jahre als LehrerIn. Es ist leicht ein Visum und Job zu bekommen und so lässt sich für viele Reisende die Urlaubskasse gut aufbessern. Ihr Stundenlohn ist schließlich mehr als doppelt so hoch, wie der lokaler Lehrkräfte. Den Schulen und Eltern ist es das Wert, denn die Sprachkenntnisse sind besonders wichtig für die SchülerInnen, da viele gerne im Ausland studieren wollen. USA, Australien, Großbritannien, Deutschland; diese Länder werben aktiv mit Stipendien und Kooperationen den vietnamesischen Nachwuchs an. Private Institute kann man wiederum bezahlen, damit sie einem bei der Bewerbung für ein solches Stipendium helfen.

ISHMIC, BIS, EIS, IGS, VAIS – so klingen die Abkürzungen der vielen internationalen Schulen in Saigon wie eine Geheimsprache. Tatsächlich sind diese, häufig in Distrikt zwei angesiedelten Schulen, eine andere Welt. Technisch sehr gut ausgestattet wird hier Wert auf kindgerechte Inhaltsvermittlung im projektorientierten Lernen gelegt und der Curriculum des jeweiligen Partnerlandes unterrichtet oder ein internationaler Abschluss (IB) angestrebt. Viele Vietnamesen und Expats geben ihre Kinder bewusst an eine solche „gute“ Schule und nehmen dafür auch lange Fahrtwege und die hohen Kosten auf sich.

Das Schuljahr an der staatlichen Mittelschule, an der ich nun 8 Monate hospitiert, assistiert und unterrichtet habe ist vorbei. Semestertests wurden geschrieben, Sommerkurse haben begonnen. In gemeinsamen Unterrichtseinheiten mit SchülerInnen und LehrerInnen und dem Betreuen von Projekten hatte ich die Möglichkeit einen Perspektivwechsel zu erleben. Mein rebellisches Schul-Ich, welches die engen überfüllten Strukturen, welche statt der Persönlichkeit der SchülerInnen, nur ihr reproduktives Leistungsvermögen fördern, lautstark kritisiert, schaut mich erwartungsvoll an. Es fordert konkrete Beispiele, deswegen hier einige neualte Impulse, auf die Frage, wie Schule und Lernen funktionieren können.

  1. ) Ein motiviertes und ruhiges Lernumfeld sind für ein gutes Lernen essentiell. Wenn in einem Raum für zwanzig SchülerInnen, stattdessen dreißig sitzen, weder Beamer, noch Klimaanlage oder Lautsprecher funktionieren und aus dem Nebenraum eine scheppernd verstärkte Stimme erklingt, dann, ja was dann, dann kann nichts verstanden werden.
  2. ) Es ist wichtig ein begründetes Lernziel zu haben. Warum ist das wichtig? Für mich führte die Frage, mit welcher Berechtigung ich hier das Privileg habe in Vietnam zu sein und was ich hier lernen und geben kann, immer wieder zu tagelangen Gedankenschleifen. Warum, ist vielleicht die mächtigste Frage, die es an die Welt und sich selbst zu stellen gilt. Die Antworten kann viel entblößen.Warum soll ich mit den SchülerInnen über typische Charaktereigenschaften von Mädchen und Jungen reden? Wenn, dann doch um Stereotype zu brechen und nicht um sie zurück in eine Gesellschaft zu drücken in der Jungen stark sind und nicht weinen dürfen. Warum sollen SchülerInnen eine langweilige Fotostory über einen Jungen der seit kurzem nun Internet hat lesen? Warum soll ich den SchülerInnen nur die bereits bekannte deutsche Persönlichkeit Hitler und die Grauen des zweiten Weltkriegs vorstellen und nicht auch Menschen, die Deutschland positiv verändert haben? Und so weiter.
  3. ) Lernen ist ein ständiger Prozess, der begleitet und unterstützt werden muss. Auch wenn das heißt, Freitagnachmittag Helene Fischers Atemlos in Dauerschleife zu proben oder Mitternachts mit Kakerlaken kämpfend in der Küche Falafel zu braten um sm nächsten Tag die internationalen Einflüsse auf die deutschen Essengewohnheiten auch geschmacklich zu verdeutlichen.
  4. ) Begeisterung steckt an. So hatten Carlotta (meiner Mitfreiwillige) und ich während eines Theaterprojekt mit 35 SchülerInnen sehr viel Spaß und viele Überraschungsmomente durch die Verwandlungen der SchülerInnen . In einem Umwelt-Projekt und in zahlreichen Workshops und Deutschclubs wurde ich immer wieder überrascht von der Energie und Freude, die plötzlich die Inhalte mit Bedeutung erfüllte. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Charakter und Verhalten wurde Schwerpunkt und verlieh Sinn und das Erlernen von Sprache und Fakten mischte sich einfach so unter.

Das beweist, dass nicht jeder Klassenraum vier Wände braucht (aber wenn dann sollten sie schalldicht sein), denn Bildung ist vielleicht das, was übrig bleibt, wenn wir vergessen, was wir gelernt haben (weil wir erkennen, was wirklich Bedeutung hat für unser Leben) und natürlich ist Bildung die wichtigste Waffe, die wir haben um die Welt zu verändern. Das nur drei beliebige, aber bedingt wahre, schließlich haben Werner Heisenberg und Nelson Mandela sie gesagt, Zitate als Ausklang.

 

Quellen:

http://www.grenzenlos-online.at/public/Sp_VIETNAM-Bildung.pdf

http://www.dw.com/de/ein-bildungssystem-im-wandel-vietnams-weg-zu-neuen-lernformen/a-2181708

http://maivietnam.myblog.de/maivietnam/art/7266681/Schulsystem

http://hope-for-tomorrow.de/2010/01/01/bildungssystem-in-vietnam/

https://orange.handelsblatt.com/artikel/28105

https://vietnamnotizen.wordpress.com/tag/schulsystem/

http://www.zeit.de/2011/44/C-Vietnam-Uni/seite-2

https://www.ishcmc.com/admission/tuition-fees

https://kinderhilfe-vietnam.de/Schule.html

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