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Der sechste Monat

   Sechs Skizzen

Eins

Um viertel vor sieben ist die Welt noch fast still. Ich höre meine nackten Füße auf den Fliesenstufen schaben, als ich auf die Dachterrasse steige. Im großen Fenster des gegenüberliegenden, nur einen Meter entfernten, Hauses, beobachte ich eine ältere Frau im Blumenzweiteiler. Räucherstäbchen holt sie aus der Holzkommode. Zündet sie an als sie vor den dreistufigen Altar tritt. Eine Strohmatte wartet schon ausgerollt auf dem Boden. Sie faltet die Hände mit den Räucherstäbchen vor ihrer Stirn, vor ihrer Brust, über ihrem Kopf. Sinkt dann in die Knie. Legt sich auf ihre Knie, die Stirn zum Boden geneigt. Richtet sich wieder auf. Sie faltet die Hände mit den Räucherstäbchen vor ihrer Stirn, vor ihrer Brust, über ihrem Kopf. Ehrt so die Verstorbenen und die, die sie beschützen. Mein Tee verdampft in der Morgenluft.

Zwei

Wir halten unsere Arme, einen Kreis formend, über den Kopf, wie ein Baum. Es wird stiller im Raum. Der letzte Schüler wird angetippt. Er hebt auch die Arme. Dann singen wir ein deutsches Kinderlied. „Was müssen das für Bäume sein“ . Reden über Elefanten. Es gibt in Südkorea einen Elefanten der sprechen kann. In Vietnam gibt es noch 400 Elefanten. Auch nur noch 100 Tiger. Kein Nashorn mehr, seit sieben Jahren. Vietnams Natur verliert seine atemberaubende Vielfalt. Schuss für Schuss.

Drei

Ich zeige auf den hellbraunen Tofu in der silbernen Schale und auf die länglichen Pilze und auf dunkles Geschnetzeltes, von dem ich nicht weiß was es ist, dafür, dass es fantastisch schmeckt. Die Frau mit dem Pferdeschwanz in dem blau gemusterten Zweiteiler schichtet alles auf den Teller mit Reis. Ich setze mich an den Metalltisch am Straßenrand gegenüber eines Mannes im Anzug. Ertränke den Reis dann in Sojasoße. Com chay: Reis, mit vegetarischen Beilagen. Sein Geschmack: salzig nussig süß köstlich Geschmack. Als ich gehe, versuche ich den Satz: Ich mag das Essen, zu formulieren. Bin schon ein halbes Jahr hier, es sollte doch möglich sein. Ich krame nach Vokabeln. Die Frau in blau, wiederholt meinen Satz, lächelt und lobt mich: Gut gemacht oder vielleicht habe ich das auch falsch verstanden.

Vier

An den Hauswänden bröckelt die türkise Farbe ab. Die Gasse ist leer, es ist Mittag. Hinter den offenen Haustoren der Erdgeschosswohnungen, verstecken sich die Menschen vor der Sonne. Auf dem Fliesenboden waschen sie ab, tippen auf ihr Handy, singen Karaoke oder sind eingeschlafen. Was soll man sonst auch machen in dieser erschlagenden Hitze. Ein Moped rast um die Ecke, ich drehe mich hastig zur Seite. Die Reflexion des Sonnenstrahls durch den Seitenspiegel trifft mein linkes Bein. Verschreckt bin ich in eine große Pfütze gestolpert, das Abwaschwasser. Eine gelbe Blüte liegt überfahren daneben. Müllsäcke und ein Gecko an der lila Hauswand. Dazu zwitschern noch Vögel. Es ist diese Harmonie der trägen Stunden, die sich in der Tagesmitte unendlich ausdehnen. Um mich die Illusion von Natur: an den Balkonen hängen Pflanzen und Blumenkästen zieren die Straße. Im nächsten orangenen Haus ist ein Schönheitssalon, gegenüber eine minimalistische Boutique mit englischen Namen, rechts daneben mein Lieblingscafé. Davor sitzt ein Sicherheitsmann auf einem Plastikhocker. Auch er ist eingenickt. Das Hupen weckt niemanden mehr.

 Fünf

Die Musikbox ist kaputt, es rauscht jeder Ton, wie in einem alten Cabrio. Mein Bauch ist kalt und mein Kopf voller Zucker. Pfirsicheistee. Stilvoll ist der helle Raum, mit Holztischen und Stühlen eingerichtet. An diesen tippen junge Menschen in ihre Laptops oder markieren Sätze in Büchern. Neben dem Plastikbecher steht ein kleines Glas mit grünem Tee und Eis. Auf der Straße hupt schon wieder jemand. Ich setzte meine Kopfhörer auf. Logge mich in das W-Lan ein und fange auch an zu tippen. Versinke in der Nichträumlichkeit dieses Cafés. 

Sechs

Mit beiden Händen ziehe ich an meinem linken Oberschenkel, lehne dazu meinen Kinn nach vorne und versuche meine Wade nach rechts zu ziehen, hinter meinen Kopf. Als ich meinen Blick hebe, mich im Spiegel sehe, albern, verliere ich das Gleichgewicht und falle um. Die Yogalehrerin lächelt fürsorglich: „Try“. Schweiß tropft auf die Yogamatte. Kein lauer Wind und keine Klimaanlage schützen mich. Also atme ich ein und hebe mein Bein, soweit es eben geht. Fixiere diesmal den Nacken der Frau vor mir, welche die Zähne zusammenbeißend, mit ihren Zehen den dunklen Pferdeschwanz berührt. năm, bốn, ba, hai. Die Yogalehrerin lässt lange Pausen zwischen den Zahlen, währenddessen ließe sich bis acht zählen. Ich atme aus und lege mein Bein ab. một.

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