Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet

Mittlerweile gehört über die Hälfte meines Freiwilligendienstes der Vergangenheit an.

Auch wenn ich hier auf meinem Blog im letzten Artikel noch über die Weihnachtszeit berichtet habe, so sind doch auch bereits der Januar, Februar und bald der März Geschichte; ich blicke zurück auf kalte Tage, von draußen lacht die Sonne herein; es ist warm geworden. Hinter mir liegen Bandweihe und Abschlussball, auch Schwabenbälle und der Ball des französischen Klassenzuges, Gedenkfeiern, ein weiterer Nationalfeiertag – der 15. März -, ich war Juror bei Wettbewerben wie JdI (Jugend debattiert International) und dem Rezitationswettbewerb der Grundschulen, war in Szeged, Oroshaza und Budapest sowie mit einem Teil des Kollegiums auf Lehrerfahrt in Graz und vielen weiteren Orten – es ging von Ungarn nach Österreich und anschließend über Slowenien zurück nach Ungarn. Ich sah den berühmten Mohácser Karneval, trat einer englischen Improvisationstheatergruppe bei, ging weiter zum Ungarischsprachkurs und machte tatsächlich auch endlich einmal Fortschritte…  Einiges davon erlebte ich sogar gemeinsam mit Joshua, meinem Freund, denn ich hatte drei schöne Wochen lang Besuch von ihm.

Es ist nicht mehr lange hin, bis ich wieder Besuch bekomme, von Luzie, einer sehr guten Freundin aus Deutschland; dann kommen meine Eltern und später auch mein Bruder und wir fahren über Ostern an den Plattensee.

Vorher werde ich noch mit den anderen drei Freiwilligen aus Pécs nach Budapest fahren, um den Geburtstag von Milena, der Freiwilligen aus Iklad, zu feiern. Außerdem wollen wir nach der Landesrunde von JdI nach Bratislava und nächste Woche im Pécser Theater Macbeth sehen; gestern waren wir im Kino, es wurde „Wüstenblume“ auf Englisch mit ungarischen Untertiteln gezeigt, letzten Sonntag hängte ich in meinem Zimmer endlich die Fotos auf, die schon seit Januar hängen sollten, und die Wäsche vom Wochenende ist noch immer ungefaltet, da ich noch keine Zeit dazu fand – heute treffe ich einen Bekannten und habe Sprachkurs, morgen ist noch eine Nachholstunde…

Es ist also weiterhin viel los, ständig geschehen neue Dinge; da sollte man meinen, dass kaum Zeit zum Nachdenken bliebe, doch tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.

Mittlerweile gehört über die Hälfte meines Freiwilligendienstes der Vergangenheit an.

Dies und auch die vielen aufgeregten ersten Blogeinträge der neu ausreisenden Freiwilligen sowie die Aussagen der Mitfreiwilligen, die wie ich bereits ein halbes Jahr hier sind und wie aus einem Munde erklären, mittlerweile sein sie wirklich angekommen – dies alles lässt mich nachdenklich werden; ich bin nicht wirklich angekommen und werde es wohl auch nicht, auch dies ist keine perfekt glückliche Zeit, auch dieses Jahr erzählt nicht die Geschichte eines Conni-Buches.

Während ich weitestgehend allein durch Ungarn spaziere, wechselnde Begleiter an der Seite, folgen mir auch meine Gedanken auf Schritt und Tritt; angespannt und konzentriert beobachte ich, lese dort, wo ich die Worte nicht verstehe, Gesichter; Gefühle stehen immer zwischen den Zeilen.

Wohin werden uns unsere Leben noch führen? Der eine stürzt sich in immer neue Erlebnisse, vielleicht auch in die Arbeit, der andere spielt sich selbst am besten vor, dass ihm nichts fehle.

Moment um Moment treibt an mir vorbei, kaum geschehen bereits vergangen, so schnell wie ein Wimpernschlag.

Worte fallen aufs Papier, leise spielt Chopin in meinen Ohren; Zeit zieht vorbei: Landschaften, Städte, Häuser, Gesichter – der Geruch nach frischgebackenem Kuchen, nebenan spielt jemand Klavier.

In diesem Zug mit unbekanntem Ziel. Zwischen Traum und Realität, Vergangenheit und Zukunft. Szenen noch so präsent wie ein altes verblasstes Foto, eine Ecke geknickt; in meinem Kopf ein Kinderlachen. Irgendwo scheppert Geschirr. Ich liebe dich; Worte so alt wie die Welt selbst. Unendlich oft gesagt und doch noch immer kraftvoll. „Den Fahrschein bitte.“ Ich erinnere mich nicht, einen gekauft zu haben, doch ich besitze einen, geschrieben auf meiner Haut.

Es geht immer weiter, immer weiter, niemals zurück.

Blende

Die Sonne lacht mir ins Gesicht, warm auf meiner Haut, die Sonne; vor mir eine Straße in Gold getaucht, einen Fuß setze ich vor den anderen, automatisch lenken mich meine Schritte, das Unterbewusstsein übernimmt die Führung. Bilder großer Abenteuer, fantastische Geschichten, Gefühle – rau in meinem Herzen – weben den Stoff, aus dem meine Träume gemacht sind.

Blende

Ich stehe an der Bushaltestelle, den Blick nach innen gerichtet. Es ist Nacht, meine Haare wippen, als ich mich anschicke, zu gehen; der Busfahrer, das große Gefährt – beinahe lebendig, erfüllt von fremden Leben – zurück auf die Straße lenkend, hebt die Hand, winkt und lächelt mir zu. Auch meine Hand hebt sich zum Gruß, ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus; wie leicht ist es doch, ein Lächeln zu schenken.

Blende

Morgens, das Bett so weich, weigert sich jede Faser meines Körpers aufzustehen. Ist es wirklich die Wärme, die uns jeden Morgen unter der Decke hält? Ist es nicht diese Chance, alles zu sein? Einige Augenblicke länger einfach die Arme auszubreiten, um zu fliegen, schwerelos?

Mittlerweile gehört über die Hälfte meines Freiwilligendienstes der Vergangenheit an.

Das Leben ist nie leicht – und doch war es noch nie leichter, hier zählt nur der Moment, was hat denn schon Konsequenzen? Ein Abenteuer, die große Chance, so heißt es oft. Doch was ist dein Leben, wenn das größte daran ist, es für ein Jahr hinter dir zu lassen? Sollte uns nicht unser ganzes Leben Abenteuer und Chance sein?

Ein besonders kräftiger Nordwestwind verschlug mich aus dem Herzen Schleswig-Holsteins in diese Stadt, die Stadt Pécs, hier in Ungarn. Und im verzweifelten Versuch, aus diesem Ort hier ein Zuhause zu machen, merke ich: Es funktioniert. Mit jedem neuen Tag hier lasse ich ein Stück meiner selbst in den Straßen von Pécs. Doch wird es mir nicht fehlen – in der Zukunft?

Wahr ist auch: Meine Zweifel und Fragen, Unsicherheiten und Ängste begleiten mich, wohin ich auch gehe. Ich kann sie weder in Ungarn lassen noch im Haus meiner Kindheit oder in den Armen meines Freundes – jeder muss sich selbst die Hand reichen und sich aus der eigenhändig gegrabenen Grube helfen. Immer und immer wieder.

Ein Auslandsjahr, das ist eine wirklich gute Zeit voller wunderbarer Momente und faszinierender Bekanntschaften. All die Menschen und Erlebnisse, von denen wir auf unseren Blogs berichten, erweitern unseren Horizont und fügen dem nie zu beendenden Puzzle neue Teile hinzu.

Aber ein Auslandsjahr, das ist auch: auf dem Bett sitzen und die Wand anstarren, sich fehl am Platz fühlen. Auch: Augenblicke und Begegnungen festhalten wollen. Auch: sich wünschen, Skype wäre ein magisches Portal.

Im Grunde also fast wie zuhause. Denn wir bleiben die Gleichen, wohin es uns auch verschlägt, wohin wir auch fliehen. „Umarme den Moment, nutze deine Chance, genieß diese Zeit, nie wieder wirst du so viel erleben!“ Diese und ähnliche Aussagen höre ich immer wieder; doch ich möchte nicht nur diesen, sondern alle Momente umarmen, mein Leben als Chance nutzen und jede Zeit genießen; ich hoffe, noch viel mehr zu erleben.

Notizzettel

Du trägst nicht nur deine Zweifel und Fragen, Unsicherheiten und Ängste in dir, sondern ebenso jedes Lächeln und all die Wärme, deine eigene Stärke, Hoffnung, Mut und einen bunten Rucksack voller Ideen, Träume und Liebe.

Das Karussell

Jardin du Luxembourg

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber –

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel. . .

Rainer Maria Rilke, Juni 1906, Paris