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Die Leningrader Blockade

Seit Stunden fahren wir schon die Straßen entlang, die man typisch russisch nennen könnte, wenn man nicht dieses Wort zu meiden versucht. Schnurgerade, zwischen ganzen Baumkolonnen, deren Zweige sich unter dem Gewicht des Schnees biegen, scheinbar endlos.

Die Weite Russlands lässt sich kaum erfassen, ganz besonders von mir nicht, die sich erst langsam aus Petersburg herausarbeitet. Ich hatte bisher nicht das Bedürfnis, meine Wochenenden und Urlaubstage zu opfern, um eine russische Stadt nach der anderen zu besichtigen. Es war mir wichtiger, so viel wie möglich von Petersburg zu sehen. Jetzt stehen noch eine Reise nach Moskau und Jekaterinburg an und das macht mich völlig zufrieden. Russland wird mir auch in den nächsten Jahre nicht wegrennen und ich weiß bereits, das ich nicht das letzte Mal einem grimmigen Grenzbeamten gegenüber gestanden haben werde, um einen Stempel in meinen Pass gedrückt zu bekommen. Die Liste der Städte, Orte, die ich eines Tages besuchen werde ist sehr ausführlich und manchmal scheint es mir, dass mit jedem Tag eine neue hinzukommt. Meine Pläne sind groß und mein Leben ist noch lang, um es lakonisch auszudrücken und während ich vorhin in dem Buch Sowjetistan von Erika Fatland gelesen habe und bereits neue Reiseziele auf meiner Liste hinzugekommen sind, blicke ich nun immer wieder hinaus auf die schneebedeckten Baumfronten, die am Autofenster vorbeiziehen und meine Gedanken springen zwischen meiner Zukunft und der Vergangenheit dieses Landes, dieses einst größten Teils eines noch größeren Staatenverbundes hin und her, fliehen zurück in meine Stadt, in dem letztes Wochenende das wichtigste, erschütterndste und bis heute prägendste Ereignis ihrer Geschichte begangen wurde.

Das Beerdigen der Hungeropfer stellte sich als schwierig heraus, der Boden war gefroren.

Es kann surreal sein, ein Ereignis wie die Leningrader Blockade in Daten zu sehen, mit einer Trockenheit mit der auch ein Firmenvorstand das Ergebnis eines Geschäftsjahres auf der Jahreskonferenz zusammenfassen würde.

Leningrader Blockade

08.09.1941 – 27.01.1944

872 Tage

725.000 Wehrmachtssoldaten und finnische Truppen

930.000 Rotarmisten

2,8 Millionen Einwohner

1 Millionen Tote durch Verhungern und Erfrieren

16.500 Bombenopfer

193 km Balkensperren

635 km Stacheldraht

Die Blockade leidet unter demselben Phänomen wie viele Verbrechen des Zweiten Weltkrieges: Sie sind zu groß, um vom menschlichen Verstand in all ihren Aspekten erfasst zu werden und wir leben inzwischen in einem Europa, das von den damaligen Zuständen wohl nicht weiter entfernt sein könnte und ich persönlich habe das vor kurzem nie in Frage gestellt. An mir ziehen bunte Datschen vorbei und ich kann an nichts anders denken als das diese Welt hier noch vor fünfundsiebzig Jahren völlig aus den Angeln gehoben wurde, als nahezu drei Millionen Wehrmachtensoldaten sich daran machten in Russland einzufallen.

Der Krieg begann für die Menschen wie er meist beginnt, schleichend. Man las eine Proklamation in der Zeitung, junge Männer meldeten sich pflichtschuldig zum Wehrdienst. Es ging ja immerhin um Mütterchen Russland. In Leningrad machte man sich kaum Sorgen, in wenigen Wochen würde das wahrscheinlich erledigt sein. Der normale Menschenverstand argumentierte wiederum mit Zahlen. Was können drei Millionen Invasoren in einem Land ausrichten, das über eine Bevölkerung von 120 Millionen Menschen verfügt? Wie wollen diese Männchen ein Territorium halten, das sich über 17 Millionen Quadratkilometer erstreckt, die angeschlossenen Sowjetstaaten nicht mitberechnet? Und doch, die Wehrmacht kam und sie marschierte nicht nur auf Moskau und die Ölfelder des Südens, sondern auch in den Norden nach Leningrad, das vormalige St. Petersburg. Dahinter lag sowohl strategische als auch ideologische Berechnung : Nicht nur war Leningrad ein Zentrum der Rüstungsindustrie, sondern auch die Wiege der Oktoberrevolution und damit des verhassten Bolschewismus. Hitler wollte ein Exempel statuieren und er wollte Ressourcen sparen: Die Einwohner der Stadt hätte man bei einer Eroberung derselben nur versorgen müssen und das fiel durch die langen Nachschublinien schon bei der eigenen Armee schwer. Also lieber vor der Stadt halten, sie umkreisen – und dann nur noch warten.

Ich war Zeuge einer Szene, wo auf der Straße einem Fuhrmann das Pferd vor Erschöpfung zusammenbrach. Mit Beilen und Messern eilten Leute herbei, schnitten das Pferd in Stücke und schleppten diese nach Hause. Wie Henker benahmen sie sich“.

Frauen beim Wasser holen auf dem Newski Prospekt – diese Straße laufe ich täglich auf dem Weg zur Arbeit entlang.

St. Petersburg war und ist keine autarke Stadt. ’41 hatten die Behörden sich denkbar schlecht auf einen Ernstfall vorbereitet, die eisernen Reserven reichten nur für wenige Tage, dazu kam dass viele Depots in den ersten Tagen der Belagerung von deutschen Fliegern bombardiert wurden. Wie sollte man fast 3 Millionen Menschen, davon 400.000 Kinder versorgen? Ende September begann man, Lebensmittelmarken auszugeben, zwei Monate später waren die Rationen für Kinder und die nichtarbeitende Bevökerung auf 125 Gramm Brot am Tag gesunken – und die Menschen fingen an, alles zu essen was ihnen in die Finger kam: Haustiere, Ratten, Krähen, Leder, das Gras unter dem Schneeteppich, Tischlerleim, Kleie, Baumwolle, Blätter, Maschinenöl und dann schließlich, als sich nichts anders mehr finden ließ und der Wahnsinn bereits in den Köpfen regierte mehrten sich die Berichte von Frauen und Männern, die Sülze zu verkaufen suchen, in denen sich Fingernägel befanden. 2000 Fälle von Kannibalismus sind offiziell registriert, bis 1989 war es von Staatsseite verboten darüber zu berichten, obwohl jeder Leningrader Bescheid wusste. Als der Winter einzog, mit bis zu Minus 40 Grad Celsius, starben die entkräfteten Menschen wie die Fliegen, denn auch das Gas war abgestellt worden. An den Wänden der Wohnungen bildeten sich Eisblumen, auf der Straße brachen die Menschen einfach tot zusammen.

Kinder gehörten zu den ersten Opfern der Blockade, ihre Brotration lag im November 1941 bei 125 Gramm pro Tag. 

Und das alles soll ich begreifen können? Petersburg ist eine der schönsten und lebendigsten Städte in denen ich jemals gewesen bin und seit Tagen laufe ich durch die Straßen und versuche mir das Elend vorzustellen, das hier regiert hat, aber in meinem Kopf existiert eine Sperre, über die ich nicht hinausgehen kann. Alles, was ich bisher gesehen, erlebt habe, meine ganzen Lebensumstände, machen es mir einfach nicht möglich, nachzuvollziehen wie viel Verzweiflung und Elend ein Mensch aushalten kann. Aber mich dafür interessieren, so viel lesen wie ich finden kann und vor allem, Geschichten hören, solange es noch Leute gibt, die bereit sind sie mir zu erzählen.

Große Geschichte – kleine Geschichten

Die Daten der Blockade, die Daten des Holocaust oder der Weltkriege machen uns klar, um was für einschneidende Ereignisse es sich dabei handelt, wie lassen uns den Ernst und Respekt erahnen, mit dem man sich diesen Ereignissen nähern sollte, sie machen die Mühen so vieler verständlich, die sich damit auseinandersetzen und ihr Leben dem Erinnern an dieselben widmen. Aber Zahlen machen nicht begreiflich, was ein solches Ereignis für die Menschen bedeutet hat. Ich lerne mehr über die Bedeutung des Feldzuges von 1812, wenn ich die Memoiren eines Soldaten lese, der seine Kameraden tot in den Schnee taumeln sah als wenn ich weiß dass am 7. September 1812 die Schlacht von Borodino stattfand. Und wenn ich einer Frau zuhören, die die Blockade als Kind erlebt hat, dann ist das für mich wichtiger als zu wissen, wie viele Menschen gestorben sind – zu viele, Punkt.

Letzte Woche hatte ich, zusammen mit Antonia und Kira und vielen anderen deutschen Freiwilligen, Praktikanten und Studenten die Möglichkeit, einen Ausflug an den Ladoga-See zu machen, über den die „Straße des Lebens“ verlief und, was mich tief beeindruckt hat und mir immer noch zu schaffen macht, wir hatten ein Gespräch mit Blockade-Überlebenden. Davon soll mein nächster Post handeln, denn ich habe so viele Gedanken dazu, dass ich es einfach aufschreiben und teilen muss und mein Tagebuch reicht mir im Moment nicht dafür aus.

Empfehlungen zum Thema Leningrader Blockade:

Schostakowitschs 7. Sinfonie – auch Leningrader Sinfonie genannt. Größtenteils schrieb Schostakowitsch die Sinfonie schon während der Blockade und bis heute ist sie ein Symbol für die Blockade und den verbissenen Widerstand gegen die Nazis.

Artikel:

https://www.mdr.de/zeitreise/ns-zeit/leningrader-blockade-100.html

https://www.tagesspiegel.de/kultur/75-jahre-ende-der-leningrad-blockade-der-organisierte-hungertod-von-leningrad/23913832.html

https://de.sputniknews.com/bilder/20190127323732096-leningrader-blockade-bilder/

https://deutsch.rt.com/meinung/83429-leningrader-blockade-wie-artikel-in-sueddeutsche-fast-diplomatische-krise/ 

Dokumentationen:

 

One thought on “Die Leningrader Blockade

  1. Grüssle aus der Heimat.
    „Das einzig Verbindliche ist bei vielen Menschen das Unverbindliche.“

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