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How to vermeid a Rückenbruch

Oder: Am Minimalismus ist nicht alles schlecht

Less is more. – Mies van der Rohe

Manchmal braucht es mehr als nur einen Schlag ins Gesicht, um zu begreifen, dass das was man gerade macht, eigentlich völliger Bullshit ist und dir überhaupt nicht gut tun wird. Du denkst dir trotzdem „Ach was, wird schon passen“ und machst weiter und dann irgendwann, irgendwann wird dir klar, „Ähmmm…nein. Ok, schon gut. Ich habs begriffen.“

Das klingt jetzt so, als würde ich über ein paar wirklich lebenswichtige, dramatische Entscheidungen und Situationen reden, aber eigentlich meine ich damit nur eine schlechte Angewohnheit von mir, die ich schon habe solange ich mich erinnern kann: Zu viel packen, wenn es ums packen geht. Oder anders formuliert, mich meinem eigenen Besitz hoffnungslos zu ergeben. Und was mit einem Koffer zu viel begann, hat inzwischen zu einer kleinen Revolution in meiner Denkweise geführt.

Ich war schon das Kind, das in seinen ersten großen Urlaub mit drei Stofftaschen voller Kuscheltiere fahren wollte, zusätzlich zu dem Kinderkoffer voller Spiele und Bücher. Und den Klamotten natürlich. Später hat sich die Priorität dann völlig auf letztere beide verlagert. Jap, was meine Klamotten angeht bin ich wirklich sehr eitel und für einen Urlaub zu packen kann in einer mittelschwere Krise münden. Das ist allerdings kein Vergleich zu der Verzweiflung, die die Wahl einer geeigneten Lektüre auszulösen imstande ist. Sechs ganze Monate in dem Land, von dessen Schriftstellern und Poeten ich mehr Bücher besitze als von irgendeinem anderen und da soll mir das Aussuchen der Bücher leicht fallen?

Es war also schon von Anfang an abzusehen, das die Sache viel zu schwer wird und egal, wie viel ich aus dem Koffer genommen habe, am Ende ist die Hälfte davon doch wieder drin gelandet. „Das wird schon gehen, zahl ich eben die paar Euro Übergepäck“, habe ich gedacht – in der herrlichen Naivität des Unwissenden, der noch nie mit Übergepäck geflogen ist.

Ein kleines Tutorial-Video für alle, die am Vorabend des Seminars mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten wie ich und sich das nächste Mal ein bisschen besser vorbereitet wissen wollen. Nicht, dass sich ein anderthalbwöchiger Urlaub mit einem Aufenthalt von sechs Monaten vergleichen lässt, aber einige Tipps finde ich doch sehr praktisch. 

 

Die Ende vom Lied war folgendes: Auf dem Vorbereitungsseminar hat mich das erste Mal jemand vorsichtig darauf aufmerksam gemacht, dass Übergepäck so richtig schön teuer werden kann. Ich habe also jetzt (!) etwas Recherche betrieben und voller Schreck festgestellt, dass ich über hundert Euro zahlen durfte, selbst wenn es nur ein Kilo zuviel auf der Waage gewesen wären. Und es war weit mehr als ein Kilo.

Viel Rumtelefoniere, viel Durchgestelle später wurde mir dann gesagt, dass ein weiteres Gepäckstück dagegen „nur“ fünfzig Euro kosten würde. Also war meine Mission in den letzten Tagen des Vorbereitungsseminars klar: Einen Koffer auftreiben, egal wie.

Was folgte war ein Riesendrama, in das ich irgendwie jeden mitreingezogen habe, den ich auf dem Seminar kannte, bis sich eine meiner Zimmergenossinnen, die in Berlin wohnt, erbarmt hat ihre Eltern zu fragen ob sie einen Koffer borgen können, was sie großzügigerweise auch gemacht haben.

Also musste ich am letzten Seminartag ein bisschen früher abreisen. Das Abenteuer begann mit einer vergleichsweise entspannten Busfahrt durch die brandenburgischen Wälder bis nach Eberswalde, von wo aus es mit dem Regio an den Berliner Hauptbahnhof ging. Dort hab ich meinen Koffer buchstäblich ins Schließfach getreten, weil er so vollgestopft war dass er immer wieder hängen geblieben ist, bin den zweiten Koffer abholen gegangen und nachdem ich mich ungefähr zehnmal von Herzen bedankt habe, bin ich zum Hauptbahnhof zurückgetuckert und habe angefangen umzupacken.

So ungefähr das Koffer Nr. 1 aus – abgesehen davon, dass er ungefähr dreimal so groß ist.

Das war ein augenöffnender Moment. Erst in dem Augenblick, als ich mein sorgfältiges Packsystem zerstört habe, ist mir klar geworden, wie viel ich da eigentlich genau reingestopft habe. Aus allen Ecken und Enden sind noch Sachen herausgefallen und mit vor Verlegenheit brennendem Nacken, weil mich natürlich jeder in dieser Schließfachecke angestarrt hat, habe ich mich über meine Koffer gebeugt und weiter gemacht. Als ich mich dann mit zwei Riesenkoffern die Rolltreppe zum Direktzug nach Schönefeld hochgequält hatte, stand mein Entschluss fest. Das nächste Mal, wenn ich längere Zeit ins Ausland gehe, wird einfach schonmal per Containerfracht mein gesamtes Hab und Gut vorausgeschickt. Das wird die Dinge dann wesentlich einfacher machen.

Sobald das gesamte Gepäck am Schalter aufgegeben war, ist mir jedenfalls ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. In St. Petersburg würde ich wenigstens nicht mehr allein sein, Svetlana würde mich ja abholen und zu zweit schleppt es sich besser. Trotzdem hat es noch viel Ächzen und Gehieve gebraucht, bis die beiden Ungetüme endlich in meinem Zimmer standen.

Nach diesem ganzen Theater hab ich mich also hingesetzt und bin zwei Minuten in mich gegangen. Sarah, hast du jetzt wirklich so viel Zeug gebraucht? Es gibt doch auch Leute, die mit viel weniger auskommen.  Wie entspannt das sein muss! Warum kann ich das nicht? Ich will das auch können!

Also habe ich angefangen mir Artikel zum Thema Minimalismus durchzulesen, Videos anzuschauen und ehe ich mich versehen habe, war ich am Haken. Es klingt auch einfach zu verlockend: Genügsamkeit, sich nicht mit unnötigem Ballast herumschlagen und nicht zuletzt hatte ich das klinisch reine, weiße Zimmer einer Instagrammerin vor Augen, das wie ein perfekter kleines Schneekugel-Vakuum aussieht. Ohne den Schnee natürlich.

Wenn jeder Einzelne darauf verzichtet, Besitz anzuhäufen, dann werden alle genug haben. – Franz von Assisi

Was mich aber tatsächlich ernsthaft zum Nachdenken gebracht hat – denn ehrlicherweise war alles davor nur ein zustimmendes Nicken und anschließend schnelles Vergessen – waren die babuschki an den Metrostationen. Rentnerinnen und manchmal auch Renter, die dort reihenweise vor den Eingängen stehen und ihr Gemüse, Obst, Blumen verkaufen, manchmal selbstgestrickte Socken, manchmal alten Plunder, um ihre mageren Rentenauszahlungen aufzubessern. Der Gedanke, dass die über meine Luxusprobleme wohl nur den Kopf schütteln würden, hat mich inne halten lassen. Es sind nämlich nichts weiter als das, first world problems. Auch wenn ich manchmal am Ende des Monats kein Geld mehr zur Verfügung gehabt habe, im Grunde habe ich noch nie ein ernsthaftes materielles Problem auch nur von Weitem gesehen. Stattdessen besitze ich so viel, dass ich mir für viel Geld einen zweiten Koffer am Flughafen dazubuchen muss. Und in Sankt Petersburg laufe ich tagtäglich an Frauen und Männern vorbei, die bei Wind und Wetter ausharren, um am Ende des Tages ein paar Rubel mit nach Hause zu nehmen.

Ich finde es traurig, dass mir das noch nie derart bewusst geworden ist. In Deutschland sehe ich oft genug Menschen, die in den Mülleimern nach Pfandflaschen suchen und ein ähnlicher Gedanke ist mir dort nie auch nur ansatzweise gekommen. Liegt es an der ungewohnten Umgebung? An dem Bewusstsein, in einem anderen Land zu sein? Ist es viel simpler – liegt es an der ständigen Konfrontation damit? Oder ist es gemeiner – sehe ich unbewusste, verborgene Klischees über das arme Riesenreich Russland bestätigt?

Freunde, wenn ich das selbst nur wüsste. Aber wie sagt meine Oma immer?

Solange es dir bewusst ist, kannst du es auch ändern.

Nicht, dass ich von jetzt auf nachher den Heiligen Gral des Minimalismus gefunden habe – oder das jemals passieren wird. Ich habe immer noch damit zu kämpfen, nicht alles zu kaufen, was mir gefällt und erst heute habe ich die Entdeckung des Jahres gemacht – der Koffer für Berlin ist auch schon wieder zu schwer. Potzblitz, wer hätte das gedacht?

Aber ich lerne. Zwar an einer Front, von der ich es zuvor nicht gedacht hätte, denn ich hatte es bisher nicht wirklich mit gemäßigtem Konsumverhalten, aber vielleicht mache ich mir hier bei kulturweit einfach den Hawthorne-Effekt zunutze, eine psychologische Eigenheit von uns Menschen, das sich Verhalten tatsächlich ändert wenn man sich beobachtet fühlt. Gewissermaßen habe ich mich mit diesem Palaver hier also auf die Tribüne gestellt. Seien Sie herzlichst eingeladen zu verfolgen, wie lange ich es schaffe, nicht wieder die „Scheiß drauf“ Haltung anzunehmen.

Ziehen wir letztlich eine Bilanz, zweieinhalb Monate später: Hatte ich wirklich nur das Nötigste dabei, wie zuvor von mir selbst so felsenfest eingeredet?

Überraschung, natürlich nicht. Klar hab ich zu viel mitgenommen, aber an anderen Stellen als vermutet. Die Bücher habe ich alle nicht umsonst mit hierher geschleift, tatsächlich habe ich die meisten schon durchgelesen und bin froh, mir in Berlin Nachschub besorgen zu können. Ich werde mich in Zukunft auch definitiv darüber informieren, ob Kosmetik- und Hygieneartikel in meinem Gastland teurer oder preiswerter sind. Ich hätte sehr viel Platz, Gewicht und auch Geld gespart, wenn ich vorher gewusst hätte dass ich in Russland unterm Strich günstiger wegkomme, wenn ich das alles hier einkaufe.

Überraschenderweise habe ich viel zu viel Schreibzeug mitgeschleift, zu viel Blöcke, Notizbücher, Ordner. Seit ich hier bin arbeite ich ohnehin nur an einer Geschichte und ich habe jetzt den Schritt gewagt und alles andere auf den „Nach Hause“-Stapel gelegt, genauso wie die Klamotten, für die es inzwischen einfach zu kalt ist.

Insofern erweist sich der erzwungene Visums-Trip nach Berlin doch als Segen: Es lassen sich herrlich Gepäckkilos loswerden. Meine Schwester wird nach Berlin mitkommen und ich habe sie schon gewarnt, viel Platz im Koffer zu lassen. Ausgelesene Bücher, Klamotten, die ich hier bisher kaum getragen habe und jede Menge Kleinkram wird darin landen und damit mache ich mir die Rückreise schon mal bedeutend leichter – in jeder Hinsicht.

“I make myself rich by making my wants few.” Henry David Thoreau

PS: Ich bin übrigens immer noch nicht sicher ob ich diesem Zitat zustimmen will.

Ist das minimalistisch gelebt? Nein, es ist einfach nur eine Strategieänderung, Schadensbegrenzung, gewissermaßen, nochmal überlebt mein Kreuz so eine Tortur nicht. Und ich kenne mich zu gut um nicht zu wissen, das aus mir wohl nie ein Minimalist werden wird. Ich werde nicht nach Hause kommen und erst einmal radikal die Schränke ausräumen, aber ich werde auch nicht mit tausenderlei Krimskrams nach Hause kommen. Tatsächlich gebe ich bisher nicht jedem schwachsinnigen Kaufimpuls auf der Stelle nach, sondern überlege, ob ich das schöne Ding da in der Auslage jetzt wirklich brauche. Und Wunder – meistens brauche ich es nicht. Seit ich mich zumindest mit Minimalismus auseinander gesetzt habe, bin ich auch auf das Thema Fast Fashion und Nachhaltigkeit gestoßen, etwas das mir in seiner ganzen erschreckend großen Problematik erst jetzt allmählich klar wird. St. Petersburg bietet in seiner ganzen Secondhand- und Vintagevielfalt tolle Möglichkeiten, am eigenen Kaufverhalten schrittweise etwas zu ändern. Gut für meinen Geldbeutel, für den Koffer und mein Gewissen.

 

PS: Nur weil ich jetzt allerdings auf dem Trip bin, heißt das ja noch lange nicht dass da andere sich eine Scheibe von abschneiden müssen. Kauft was ihr wollt und so viel ihr wollt, solange es euch glücklich macht, es sei euch von Herzen gegönnt!