Über die Komplexität des Baltikums…

Zwei Millionen Menschen, singend, Hand in Hand eine Menschenkette von über 420 Meilen bildend, die den Norden Estlands mit dem Süden Litauens verbindet – ein Bild, das so symbolisch und unglaublich wirkt, das man es zunächst für eine der vielen, baltischen Sagen halten könnte.
Doch die „singende Revolution“ ist keine Legende, sondern ein historisches Ereignis, welches sich wirklich und tatsächlich 1989, zwei Jahre vor dem Fall der Sowjetunion in den baltischen Staaten ereignete. Für einen Tag setzten all diese Menschen ein starkes, obgleich ausschließlich friedliches Zeichen gegen Tyrannei, Unterdrückung und Fremdherrschaft. Ohne Facebook, Twitter oder sonstige Massen-Social Media-Plattformen schafften es all diese Menschen eine lückenlose Mauer zu schaffen, die der Sowjetunion Lieder für die Freiheit entgegen sang.
In diesem Jahr werden in an allen drei baltischen Staaten 100 Jahre Unabhängigkeit gefeiert. Denn offiziell deklarierten Estland, Litauen und Lettland nach Ende des ersten Weltkrieges zum ersten mal ihre Unabhängigkeit. Um diese musste jedoch von Anfang an gekämpft werden und sie währte auch nicht lange, da das Baltikum 1940 von der Sowjetunion annektiert wurde. Zwei Jahre später fiel es Hitler in die Hände, um nach Ende des zweiten Weltkrieges direkt wieder in den Fängen der UdSSR zu enden, aus denen sich die drei Länder bis 1991 auch nicht zu befreien vermochten. Die 100 Jahre Unabhängigkeit waren also mehr Jahre der Fremdherrschaft und Unterdrückung.
Doch weder die Nazis noch die strikte kommunistische Politik der Sowjetunion schafften es, die Kultur zu zerstören – ganz im Gegenteil. In kaum einer anderen Region der Welt trifft man auf so einen überzeugten Patriotismus, so viele Traditionen, an denen eine derart große Prozentzahl der Bevölkerung festhält. Fast jeder junge Lette singt entweder in einem Chor oder tanzt in einer Volkstanzgruppe, was bei der Parade zum 100jährigen Jubiläum deutlich wurde. Beginn war um 10 Uhr morgens um 8 Uhr abends immer noch kein Ende in Sicht. Da kam in einem schon die Frage auf, woher dieses Land, mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern eigentlich all die Teilnehmer auftreiben konnte. Und falls dochmal jegliche musikalische Begabung fehlen sollte, so ist da immer noch das unglaublich breit aufgestellte, kulinarische Kulturerbe: Auf Ahornblättern gebackenes und später in Knoblauchöl frittiertes, dunkles Roggenbrot, kalte Rote Beete – Kefir -Suppe, Kümmelkäse und natürlich frisch gebrautes Bier in all seinen Variationen. Und das ist erst ein kleiner Ausschnitt aus dem, was das Baltikum zu bieten hat, wie man spätestens bei einem Besuch des Zentralmarkts in Riga, dem größten Markt Europas und Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, feststellen kann.

Doch auch wenn die Unterdrückung eventuell sogar mit zu dieser fast schon angriffslustigen Fülle an baltischer Kultur beigetragen hat, so sollte man diese Episode der Geschichte keinesfalls schön reden. Denn an anderer Stelle werden ihre negativen Auswirkungen mehr als deutlich. Knapp 50 Jahre sozialistische Planwirtschaft gehen nicht unbemerkt an einem Land vorüber. Die ökonomische Lage des Baltikums ist trotz beeindruckender Arbeit und Erfolge nach wie vor schwierig.
Dabei scheint auf den ersten Blick zunächst alles in bester Ordnung zu sein – ja, so mancher westeuropäischer Tourist stellt sogar mit einer gewissen Empörung und Verwunderung fest, dass die Preise „im Osten“ sich ja gar nicht mehr von den unsrigen unterscheiden. Seit Jahren kann das Baltikum einen stabilen Wirtschaftswachstum verzeichnen. Auch hier fahren BMWs auf den Straßen, finden sich Pradaboutiquen an den Straßenrändern und noble Restaurants in der Gegend um den Hafen. Besonders Estland gilt auch als Vorreiter im Gebiet IT. So ist dieses kleine Land an der Ostseeküste beispielsweise Ursprung der App „Skype“, einer der erfolgreichsten Programmierarbeiten der letzten Jahre.
Wie hat es das Baltikum geschafft sich aus dem nichts in nur 30 Jahren unseren westlichen Standard zu erarbeiten? Und hat es das überhaupt wirklich geschafft oder trügt hier eventuell der Schein?
Um letztere Frage zu beantworten ist es wichtig auch einen Blick unter die Oberfläche zu werfen und sich beispielsweise die Gehälter anzuschauen. Laut den Angaben des lettischen Amtes für Statistik lag das Durchschnittseinkommen im Jahr 2012 bei 700€ Netto. Zum Vergleich: In Deutschland lag das Durchschnittseinkommen im gleichen Jahr bei über 2000€. Noch frappierender werden die Zahlen, wenn man den Blick auf die Mindestlöhne richtet. Knapp 2,50€ pro Stunde stehen einem lettischen Arbeiter zu. Das ergibt bei einem Vollzeitjob weniger als 300€ im Monat. Wen wundert es da noch, dass das lettische Personal in Supermärkten und Gastrobereich nicht immer gut gelaunt auf die frisch gelernten, stolz hervorgebrachten Begrüßungsfloskeln der Touristen antwortet?!
Die wenigsten Letten sind in der Lage sich ein Appartement neben dem Pradaladen im Zentrum Rigas zu leisten, geschweige denn eine Sonnenbrille von dort zu kaufen. Vielen Niedrigverdienern würde hierzu nicht nur das Geld sondern auch die Zeit fehlen, da es nicht unüblich ist neben dem 40-Stunden-Job als Kellner noch weitere Nebenjobs zu haben.
Der Preis, den das Baltikum für seine immer weiter wachsende Wirtschaft zahlt sind Einsparnisse bei Sozialabgaben und Löhnen.
Die prekäre Lage des Baltikums spiegelt sich auch in den Emigrationszahlen der letzten Jahre wider. Im Jahr 2000 lebten in Lettland noch rund 2,38 Millionen Menschen. Heute, nur 18 Jahre später sind es nur noch 1,9 Millionen. Den Statistiken der U.N. zufolge hat kein anderes Land der Welt einen derart großen Bevölkerungsschwund,18,2 %. Einzig Litauen hat mit 17,2% ähnlich schlechte Werte. Vor allem aus den ärmeren, ländlichen Regionen fliehen die gut ausgebildeten, jungen Leute en masse, denn hier sind die Gehälter sogar noch geringer als in der Hauptstadt. Aleksandr Ruhe, ein Journalist aus Latgale, der ärmsten Region Lettlands, die sich im Süd-Osten des Landes befindet formulierte es so: „Borders are open, information about life in other EU states is available and everyone is doing it. So, off young people go to England or Ireland or Germany.“
Tatsächlich kann man den jungen Leuten die Entscheidung nicht verübeln dorthin zu gehen, wo sie für die gleiche Arbeit das doppelte oder dreifache verdienen, besonders, wenn das pendeln durch 20€-Ryanair-Flüge noch besonders einfach und attraktiv gemacht wird. Wer in seinem Heimatland bleibt, tut dies bewusst, um Lettland zu retten, was auch wenn es pathetisch klingen mag, nötig und entscheidend für die Zukunft des baltischen Staates ist.
Dass dies immer mehr von ihnen tun, liegt nicht nur im Interesse der Regierungen Estlands, Litauens und Lettlands, sondern in unserer aller. Denn das Baltikum ist nicht nur unglaublich komplex und vielschichtig, sondern auch einfach wunderschön. Die unaufgeregte Natur steht hierbei im Kontrast zur spannenden Geschichte. Die endlosen Wälder, weiten Ostseestrände, die zahlreichen Seen und Flüsse und ja, auch die geringe Dichte an Häusern und Menschen ist Balsam für die Seele. Und wem all dies noch nicht genügt, um den Alltagsstress zu vergessen, kann seine Wohltat immer noch in einem Gläschen „Rigas Black Balsam“, dem lettischen, lokalen Schnaps finden. In jedem Fall hat das Baltikum eine Menge zu bieten und spielt zu Unrecht viel zu selten eine Rolle in Unterricht, Urlaubsplanung und Träumen in unseren Köpfen. Doch vielleicht ist es auch gerade diese Verkennung, die seinen Charme ausmacht – zu viel Popularität und Touristenmassen würden dieser so eigenen und un- oder zumindest wenigberührten Region unserer Erde bestimmt nicht gut tun. Also, packen Sie Ihren Koffer, besuchen Sie das Baltikum, aber erzählen Sie ihrem Nachbar nichts davon…