Über die Komplexität des Baltikums…

Zwei Millionen Menschen, singend, Hand in Hand eine Menschenkette von über 420 Meilen bildend, die den Norden Estlands mit dem Süden Litauens verbindet – ein Bild, das so symbolisch und unglaublich wirkt, das man es zunächst für eine der vielen, baltischen Sagen halten könnte.
Doch die „singende Revolution“ ist keine Legende, sondern ein historisches Ereignis, welches sich wirklich und tatsächlich 1989, zwei Jahre vor dem Fall der Sowjetunion in den baltischen Staaten ereignete. Für einen Tag setzten all diese Menschen ein starkes, obgleich ausschließlich friedliches Zeichen gegen Tyrannei, Unterdrückung und Fremdherrschaft. Ohne Facebook, Twitter oder sonstige Massen-Social Media-Plattformen schafften es all diese Menschen eine lückenlose Mauer zu schaffen, die der Sowjetunion Lieder für die Freiheit entgegen sang.
In diesem Jahr werden in an allen drei baltischen Staaten 100 Jahre Unabhängigkeit gefeiert. Denn offiziell deklarierten Estland, Litauen und Lettland nach Ende des ersten Weltkrieges zum ersten mal ihre Unabhängigkeit. Um diese musste jedoch von Anfang an gekämpft werden und sie währte auch nicht lange, da das Baltikum 1940 von der Sowjetunion annektiert wurde. Zwei Jahre später fiel es Hitler in die Hände, um nach Ende des zweiten Weltkrieges direkt wieder in den Fängen der UdSSR zu enden, aus denen sich die drei Länder bis 1991 auch nicht zu befreien vermochten. Die 100 Jahre Unabhängigkeit waren also mehr Jahre der Fremdherrschaft und Unterdrückung.
Doch weder die Nazis noch die strikte kommunistische Politik der Sowjetunion schafften es, die Kultur zu zerstören – ganz im Gegenteil. In kaum einer anderen Region der Welt trifft man auf so einen überzeugten Patriotismus, so viele Traditionen, an denen eine derart große Prozentzahl der Bevölkerung festhält. Fast jeder junge Lette singt entweder in einem Chor oder tanzt in einer Volkstanzgruppe, was bei der Parade zum 100jährigen Jubiläum deutlich wurde. Beginn war um 10 Uhr morgens um 8 Uhr abends immer noch kein Ende in Sicht. Da kam in einem schon die Frage auf, woher dieses Land, mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern eigentlich all die Teilnehmer auftreiben konnte. Und falls dochmal jegliche musikalische Begabung fehlen sollte, so ist da immer noch das unglaublich breit aufgestellte, kulinarische Kulturerbe: Auf Ahornblättern gebackenes und später in Knoblauchöl frittiertes, dunkles Roggenbrot, kalte Rote Beete – Kefir -Suppe, Kümmelkäse und natürlich frisch gebrautes Bier in all seinen Variationen. Und das ist erst ein kleiner Ausschnitt aus dem, was das Baltikum zu bieten hat, wie man spätestens bei einem Besuch des Zentralmarkts in Riga, dem größten Markt Europas und Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, feststellen kann.

Doch auch wenn die Unterdrückung eventuell sogar mit zu dieser fast schon angriffslustigen Fülle an baltischer Kultur beigetragen hat, so sollte man diese Episode der Geschichte keinesfalls schön reden. Denn an anderer Stelle werden ihre negativen Auswirkungen mehr als deutlich. Knapp 50 Jahre sozialistische Planwirtschaft gehen nicht unbemerkt an einem Land vorüber. Die ökonomische Lage des Baltikums ist trotz beeindruckender Arbeit und Erfolge nach wie vor schwierig.
Dabei scheint auf den ersten Blick zunächst alles in bester Ordnung zu sein – ja, so mancher westeuropäischer Tourist stellt sogar mit einer gewissen Empörung und Verwunderung fest, dass die Preise „im Osten“ sich ja gar nicht mehr von den unsrigen unterscheiden. Seit Jahren kann das Baltikum einen stabilen Wirtschaftswachstum verzeichnen. Auch hier fahren BMWs auf den Straßen, finden sich Pradaboutiquen an den Straßenrändern und noble Restaurants in der Gegend um den Hafen. Besonders Estland gilt auch als Vorreiter im Gebiet IT. So ist dieses kleine Land an der Ostseeküste beispielsweise Ursprung der App „Skype“, einer der erfolgreichsten Programmierarbeiten der letzten Jahre.
Wie hat es das Baltikum geschafft sich aus dem nichts in nur 30 Jahren unseren westlichen Standard zu erarbeiten? Und hat es das überhaupt wirklich geschafft oder trügt hier eventuell der Schein?
Um letztere Frage zu beantworten ist es wichtig auch einen Blick unter die Oberfläche zu werfen und sich beispielsweise die Gehälter anzuschauen. Laut den Angaben des lettischen Amtes für Statistik lag das Durchschnittseinkommen im Jahr 2012 bei 700€ Netto. Zum Vergleich: In Deutschland lag das Durchschnittseinkommen im gleichen Jahr bei über 2000€. Noch frappierender werden die Zahlen, wenn man den Blick auf die Mindestlöhne richtet. Knapp 2,50€ pro Stunde stehen einem lettischen Arbeiter zu. Das ergibt bei einem Vollzeitjob weniger als 300€ im Monat. Wen wundert es da noch, dass das lettische Personal in Supermärkten und Gastrobereich nicht immer gut gelaunt auf die frisch gelernten, stolz hervorgebrachten Begrüßungsfloskeln der Touristen antwortet?!
Die wenigsten Letten sind in der Lage sich ein Appartement neben dem Pradaladen im Zentrum Rigas zu leisten, geschweige denn eine Sonnenbrille von dort zu kaufen. Vielen Niedrigverdienern würde hierzu nicht nur das Geld sondern auch die Zeit fehlen, da es nicht unüblich ist neben dem 40-Stunden-Job als Kellner noch weitere Nebenjobs zu haben.
Der Preis, den das Baltikum für seine immer weiter wachsende Wirtschaft zahlt sind Einsparnisse bei Sozialabgaben und Löhnen.
Die prekäre Lage des Baltikums spiegelt sich auch in den Emigrationszahlen der letzten Jahre wider. Im Jahr 2000 lebten in Lettland noch rund 2,38 Millionen Menschen. Heute, nur 18 Jahre später sind es nur noch 1,9 Millionen. Den Statistiken der U.N. zufolge hat kein anderes Land der Welt einen derart großen Bevölkerungsschwund,18,2 %. Einzig Litauen hat mit 17,2% ähnlich schlechte Werte. Vor allem aus den ärmeren, ländlichen Regionen fliehen die gut ausgebildeten, jungen Leute en masse, denn hier sind die Gehälter sogar noch geringer als in der Hauptstadt. Aleksandr Ruhe, ein Journalist aus Latgale, der ärmsten Region Lettlands, die sich im Süd-Osten des Landes befindet formulierte es so: „Borders are open, information about life in other EU states is available and everyone is doing it. So, off young people go to England or Ireland or Germany.“
Tatsächlich kann man den jungen Leuten die Entscheidung nicht verübeln dorthin zu gehen, wo sie für die gleiche Arbeit das doppelte oder dreifache verdienen, besonders, wenn das pendeln durch 20€-Ryanair-Flüge noch besonders einfach und attraktiv gemacht wird. Wer in seinem Heimatland bleibt, tut dies bewusst, um Lettland zu retten, was auch wenn es pathetisch klingen mag, nötig und entscheidend für die Zukunft des baltischen Staates ist.
Dass dies immer mehr von ihnen tun, liegt nicht nur im Interesse der Regierungen Estlands, Litauens und Lettlands, sondern in unserer aller. Denn das Baltikum ist nicht nur unglaublich komplex und vielschichtig, sondern auch einfach wunderschön. Die unaufgeregte Natur steht hierbei im Kontrast zur spannenden Geschichte. Die endlosen Wälder, weiten Ostseestrände, die zahlreichen Seen und Flüsse und ja, auch die geringe Dichte an Häusern und Menschen ist Balsam für die Seele. Und wem all dies noch nicht genügt, um den Alltagsstress zu vergessen, kann seine Wohltat immer noch in einem Gläschen „Rigas Black Balsam“, dem lettischen, lokalen Schnaps finden. In jedem Fall hat das Baltikum eine Menge zu bieten und spielt zu Unrecht viel zu selten eine Rolle in Unterricht, Urlaubsplanung und Träumen in unseren Köpfen. Doch vielleicht ist es auch gerade diese Verkennung, die seinen Charme ausmacht – zu viel Popularität und Touristenmassen würden dieser so eigenen und un- oder zumindest wenigberührten Region unserer Erde bestimmt nicht gut tun. Also, packen Sie Ihren Koffer, besuchen Sie das Baltikum, aber erzählen Sie ihrem Nachbar nichts davon…

22/07/2018 – 32 Grad

Dienstag, 12 Uhr Mittags, strahlend blauer Himmel und der Park am Stadtkanal in dem ich gerade sitze ist dennoch wie leer gefegt. Der Grund ist nicht, dass wieder einmal einer der unzähligen Nationalfeiertage stattfindet, von denen es in Lettland so viele zu geben scheint, dass einem oft nicht einmal die Eingeborenen sagen können, warum gerade schon wieder überall die rot-weißen Flaggen hängen. Nein, es ist eine sängende Hitze, die die Menschen im Haus hält und zur Siesta à la Südeuropa zwingt. Seit drei Tagen sind hier nun über 30 Grad. Jeder, der die Chance dazu hat, entflieht der, in den Straßen der Stadt angestauten Hitze und nimmt den nächsten Zug raus an einen der vielen Strände, wo einen die kühle Meeresbriese und die immer noch wunderbar eiskalte Ostsee retten. Obwohl bereits Sonderzüge in Richtung Jurmala (dem beliebtesten Strand 20 Minuten von Riga) fahren, musste ich gestern bösen Blicken standhalten, als ich mit meinem Fahrrad dem überfüllten Zug noch etwas mehr zumutete.

Eine der wichtigsten Lehren, die ich persönlich von den Balten übernehmen möchte ist die Wertschätzung der kleinen Dinge, Momente und Freuden. Anders als in Südamerika oder Südostasien scheint die Natur hier zunächst weniger zu bieten zu haben, ja böse gesagt sogar langweilig zu sein – Wälder, Bäume, mal ein Fluss oder See und noch mehr Wälder. Doch diese unaufgeregte Landschaft erlaubt es einem, sich die Zeit zu nehmen, um auch kleine Details wie z.B. diese Grashalme am Strand wahrzunehmen und zu bewundern, die bei genauererBetrachtung nicht viel weniger spektakulär sind als der Grand Canyon.

scheinen bei diesem Wetter die gleiche Idee gehabt zu haben, sodass ich nach fünf Monaten zum ersten Mal lettische Menschenfülle erleben darf. Wobei nicht ganz zum ersten Mal, denn vor zwei Wochen, am 08.Juli fand das Finale des alle fünf Jahre stattfindenden Sängerfest im „Mezaparks“ statt. Dieser ca. 40 Radminuten vom Zentrum gelegene Park ist bei Rigaern normalerweise aufgrund seiner Weitläufigkeit beliebtester Skate-, Longboard-, und Radfahrort – an dem entsprechenden Sonntagabend war er jedoch so voll, dass man schon Schwierigkeiten hatte zu Fuß voranzukommen. Auch wenn man bereits vorher viel über die Bedeutung dieses Festivals hört, welches zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO gehört, so war ich dennoch von den Dimensionen überrascht. Gleichzeitig beginnt man jedoch schon am Eingang des Parks, der noch einen guten Kilometer vom Stadion, in dem das Konzert stattfindet entfernt ist, zu begreifen, was all diese Menschen hierher getrieben hat.
Melodien die zart und kraftvoll, nah und fern zugleich klingen, finden ihren Weg durch die Bäume – dieses Jahr von rund 17.000 Stimmen gesungen. Chöre und Musiker aus Lettland, Deutschland und der der ganzen Welt erzeugen gemeinsam diese wundervollen Klänge, die Jung und Alt in den Mezaparks zieht.
Und noch ein weiteres Großevents durfte ich in den letzten Monaten hier miterleben. Die Feier des Mitsommerfestes, in Lettland Jani,nach Johannes dem Täufer benannt. Dieses Fest ist hier wichtiger als Weihnachten und Ostern und wird sehr traditionell, meistens im engen Kreis auf dem Land begangen. Dass das Mitsommenwochenende dieses Jahr genau auf die ersten und bislang einzigen Schlechtwettertage des Sommers fiel hält einen wahren Letten natürlich nicht vom Feiern ab. Ganz im Gegenteil – wie mir ein Brotverkäufer auf dem Markt erklärte wäre „Jani nicht Jani, ohne dicke Winterjacken und einen Liter Black Balsam (lokaler Schnaps) gegen die Kälte“.
Ich selbst entschied mich dennoch gegen die 19 Grad und Regen und blieb in der Stadt, wo für die nicht ganz so hart gesottenen Frostbeulen unter uns alternativ ein Straßenfest an den Ufern der Daugava stattfand, welches einem deutschen Stadtfest auf der einen Seite sehr ähnlich, gleichzeitig jedoch auch sehr anders war. Trotz riesigen Konzertbühnen, Buden, großen Lagerfeuern, Tanz, Musik und Alkohol beinhaltete die Atmosphäre eine unterschwellige Melancholie. Denn den längsten Tag des Jahres zu feiern, bedeutet gleichzeitig auch, dass es von nun an wieder auf den Winter zugeht. Neben Spaß und Tradition ist Jani deshalb auch eine Art weihevolles Abschiednehmen von Licht und Sommer. Denn sechs Monate später, zur Wintersommerwende liegen zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang rund 10 Stunden weniger Licht als am 21. Juni. Im letzten Jahr war der kürzeste Tag genau sechs Stunden und 44 Minuten land, der längste hingegen 17 Stunden und 53 Minuten. Nicht nur historisch, politisch und ökonomisch wurde und wird Lettland ständig auf die Probe gestellt. Nein, als wäre all dies nicht schon genug setzten die Naturgewalten meteorologisch noch einen oben drauf. Aber wie man sagt man doch so schön: „What doesn’t kills you makes you stronger“ oder in Lettisch „Ko nav nogalina jūs padara jūs spēcīgāku“

Was ist für dich das Schönste an Lettland? – Was magst du überhaupt nicht?

Inga und Paula

Inga: „Am Schönsten sind die Sonnenuntergänge! Aber mich stört sehr, dass zurzeit überall neue Häuser gebaut werden, sodass man keinen Baum mehr sehen kann, geschweige denn einen Sonnenuntergang – das macht ich wirklich wahnsinnig!“

Paula: „Am Schönsten ist Alt-Riga, die Natur und die Sonnenuntergänge. Aber ich mag nicht, dass es so viele alte, renovierungsbedürftige Häuser gibt.“

 

Ralfs und Reinis

Ralfs: „Am Schönsten ist die Natur und Alt-Riga in Lettland. Am Schlimmsten ist die Luftverschmutzung“

Reinis: „Am Schönsten ist Natur in Lettland und am Schlimmsten sind die Bauarbeiten.“

Eliza, Liviāna und Emīlija

Eliza und Liviāna: „Am Schönsten sind die Natur und die Sonnenuntergänge in Lettland. Am Schlimmsten sind die Bauarbeiten.“

Emīlija: „Am Schönsten sind die Natur, die Leute, Brot und Kaffee in Lettland, am Schlimmsten die Straßenarbeiten.“

Die Antworten der 7.Klasse des 3.Staatsgymnasiums Riga verdeutlichen ein weiteres Mal die enge Naturverbundenheit die mir bei den lettischen Großstädtern begegnet. Anders als beispielsweise in Berlin, wo man sich selbst eher als „Berliner/ -in“ als als „Deutsche/ -r“ fühlt und präsentiert sind die Einwohner Rigas eher stolz darauf Letten zu sein und lassen keine Gelegenheit aus auf das die Stadt umgebende Land zu fahren. Dies wird auch besonders daran deutlich, dass das wichtigste Fest, das „Jani“ (Mittsommer) traditionell auf dem Land mit Lagerfeuertänzen und Blumenschmuck gefeiert wird, sodass die Hauptstadt am 23. und 24. Juni wohl mehr oder weniger ausgestorben daliegt.

 

 

20.04.2018/ 20°C

I don’t know where I am going from here, but I promise it won’t be boring. -David Bowie-

Fast zwei Monate, sprich ein knappes Drittel meiner Zeit mit Kulturweit sind nun schon um. Ich fühle mich, als hätte ich das Flugzeug am 12. März nie verlassen, anders kann ich mir kaum erklären, wie die Zeit so schnell verfliegen konnte. Ein bisschen fühlt es sich so an als befände ich mich im luftleeren, schwerelosen Raum. Woher kommt dieses Gefühl zu schweben?

Seit ich hier bin, versuche ich es zu analysieren. Die Antwort, die mir bisher am wahrscheinlichsten erscheint, ist, dass es durch das Zusammenspiel von grenzenloser Freiheit und fast gänzlich fehlender Routine hervorgerufen wird. Jeder Tag ist anders und fast nichts geplant, da dies die entspannte In-den-Tag-lebe-Mentalität  der mich umgebenden Letten und Erasmusstudenten gar nicht zulässt. Stresste mich dies am Anfang noch, so habe ich angefangen diesen Lebensstil unheimlich zu genießen und offen in jeden Tag zu starten. Ein wichtiger Schritt für diese Akzeptanz war glaube ich auch, mir meine eigenen kleinen Routinen zu schaffen, wie den zwei mal wöchentlichen Russisch- und Lettischunterricht, Jazzklavierstunden, Sport oder einfach das morgendliche Frühstück mit guten Café. (Das Anschaffen einer Macchinetta hat mein Leben hier definitiv verändert!) Das alles hilft mir, die Freiheit zu genießen, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich kann gerade nicht sagen, wohin mich dieser Aufenthalt hier in Riga führen wird oder was mich in den kommenden vier Monaten noch erwartet – ich weiß nur, dass jede Minute genossen werden will und es nicht langweilig wird, um es mit David Bowies Worten zu sagen. (Die nebenbei an einer Wand in meiner Lieblingsbar/ -konzerthalle hier stehen)

Zwar nur ein schnödes Handyfoto, doch irgendwie eines was die beschriebene Grenzenlosigkeit schön widerspiegelt

Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass meine verbleibende Zeit hier begrenzt ist. Allein jeder Blick hoch in die Äste, aus denen seit ein paar Tagen zarte, grüne Blättchen sprießen, beweist mir täglich, dass sich schon ganz schön etwas getan hat, seit ich am ersten Tag an der zugefrorenen Daugava zum Zentralmarkt gelaufen bin. Rückblickend ist dann doch auch schon einiges passiert – viel zu viel um auf alles in diesem Blogeintrag einzugehen, schließlich habe ich mir ja fest vorgenommen bei meinen Lesern keine Langeweile durch langatmige Texte aufkommen zu lassen. Deswegen werde ich versuchen, mich auf die größten Highlights und schönsten Fotos zu beschränken.

Highlight N°1 Hiking-Trips

Knapp die Hälfte aller Letten leben in Riga. Doch die Verbundenheit zum umliegenden Land ist ein fester Bestandteil in der Identität fast jeden Städters, mit dem ich mich bis jetzt unterhalten habe. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Wandern hier eine große Rolle spielt. In den sozialen Netzwerken finden sich einige Gruppen, die spannende Ausflüge anbieten. Zu nennen sind hier besondern „Spontanious Movements“ und „ESN“, eine Studentenorganisation der Universität. Mit ersteren war ich auf einem wunderschönen Sunrise-Hike entlang der Küste und mit ESN durfte ich an einer Fackelwanderung durch alte Katakomben und Bunkeranlagen aus dem ersten Weltkrieg teilnehmen.

Sunrise Hike in Saulkrasti
Fackelwanderung in den Nachtstunden

Auf dem Rückweg ist dann nicht nur der Kopf mit wunderschönen Impressionen gefüllt, sondern auch der Telefonspeicher mit neuen, unternehmungslustigen Kontakten.

Gerade bei den Essenpausen lernt man sich sehr gut kennen, wenn man sich einen Stein und mitgebrachte Brote teilen muss

Auch die Zukunft hält hier schöne Sachen bereit – nächstes Wochenende geht es mit ESN nach Latgale, in die östlichste Region Lettlands, anschließend direkt nach Tallin und ein Wochenende später mit Spontanious Movement auf eine Nachtwanderung zu einem Baumhauskonzert.

Highlight n°2 Strände und Wälder

Etwa 30 Minuten außerhalb des Zentrums befindet sich in diesem Wald neben einem riesigen See das Ethnographische Museum Lettlands – schöne Möglichkeit draußen zu sein und gleichzeitig ein bisschen mehr übers Land zu erfahren

Auch wenn die 20°C in der Überschrift exzeptionell waren, so wird es grundsätzlich wärmer und wärmer, was bedeutet, dass sich Frischluftaufenthalte nicht länger auf zwei Stunden beschränken müssen, sondern auf ganze Tage ausgedehnt werden können. Da ich Riga, trotz aller Schönheit als relativ laute Stadt empfinde, lasse ich deshalb keinen freien Tag aus, aus dem Stadtzentrum raus, ins umliegende Land zu fahren. An den lichtdurchfluteten Wäldern, breiten Sandstränden und Seen kann ich mich einfach nicht satt sehen, zumal die Fahrtzeiten, anders als in Deutschland, fast immer unter einer Stunde bleiben und man auch viele Orte mit dem Fahrrad erreichen kann.

Allein schon für das Bahnhofsgebäude hätte sich der Ausflug in den Nationalpark Kemeri gelohnt – man sollte nur aufpassen das man den eigentlichen Park vor lauter Bäumen nicht verfehlt, Verlaufgefahr ist groß! 
Strände gibt es in Riga wie Sand am Meer – zum Beispiel Jurmala, Vecaki, Saulkrasti oder sämtliche Küstenstreifen zwischen diesen Orten

 

Highlight n°3 Hipsterviertel „Centrs“

Wer aus der Altstadt raus in Richtung Norden läuft, wird nicht nur mit wunderschöner Jugendstil-Architektur belohnt, sondern kommt auch in die Gegend der süßen kleinen Cafés, coolen Vintage-Läden, alternativen Bars und preiswerten, szenigen Restaurants. Besonders angetan hat es mir persönlich die „Gertrudes Iela“, in der sich ein liebevoll dekorierter Humana Vintage befindet (in dem zum Ende eines jeden Monats jedes Teil nur 1€ kostet) und zur Stärkung nach dem anstrengenden Shopping-Trip auch eines meiner Lieblingsrestaurants „Stockpot“, sowie eine süße Kuchenbäckerei, die die gesamte Straße mit wundervoll duftenden Schwaden füllt, sodass man hier fast nur in glückselige, verträumte Gesichter guckt. „Centrs“ ist jedoch grundsätzlich ein Stadtviertel, in dem es sich lohnt, einfach ohne Plan auf Entdeckungsreise zu gehen und vorher genug Geld abzuheben…

 

17/03/2018 – 1°Celsius

Wie lang ist eine Woche? Verglichen mit der durchschnittlichen Lebenszeit eines Menschen ist sie nicht viel mehr als ein Fingerschnipsen, gleichzeitig reden wir jedoch von 168 Stunden, 10080 Minuten, 604800 Sekunden. Nie spüre ich die Relativität von Zeit so sehr, wie auf Reisen. Auf der einen Seite vergeht sie wie im Flug, auf der anderen Seite erlebt man gerade die ersten Tage so viel intensiver, dass einem eine Woche rückblickend vorkommt, wie eine halbe Ewigkeit. Diese Abenteuerlust , die einem automatisch in die Knochen fährt, wenn man an einen fremden Ort fährt spendet mehr Energie als ein halber Liter Kaffee. Alleine in einer fremden Stadt aufzuwachen, völlig frei und losgelöst von jeglichen Verpflichtungen ist eine der schönsten Empfindungen, die es gibt.

Alle die mich kennen werden sich bei dem folgenden Satz denken „Was haben sie mit Anne gemacht?!“, aber: Kälte kann auch echt schön sein! Auf der zugefrorenen Ostsee langzulaufen war unvergesslich!
Ein weiterer großer Glücksfall: Sehr nette zukünftige Mitbewohner, die einen schon jetzt mit zu Ausflügen aufs Land nehmen. Hier im Bild waren wir auf dem sogenannten Bumbu-Aussichtsturm mitten in einer wunderschönen Dünen-Kieferlandschaft

Ich glaube es ist überflüssig noch einmal zu sagen, dass meine erste Woche in Riga sehr spannend und schön war! Wenn die äußere Temperatur auch nur um 2° angestiegen ist, so bin ich mindestens 20° grad wärmer mit Riga geworden. Es ist jedes mal beeindruckend zu sehen, wie einfach es ist an einem neuen Ort Fuß zu fassen. All die Sorgen und Ängste vor einsamen Stunden waren mal wieder völlig unbegründet. Wobei es in dieser Hinsicht wahrscheinlich ein großes Glück ist in Riga, einer europäischen Kulturhauptstadt und nicht auf dem Land gelandet zu sein. Es gibt unglaublich viel spannendes Neues, das sich zum Glück auch ohne jegliche Sprachkenntnisse entdecken lässt.

Riga von oben (Blick auf St.Petrikirche, Dom, Zentralmarkt) – Es ist einfach eine schöne Stadt!

Was ist es das mich so begeistert und den Charme der Stadt ausmacht? Ich glaube ein großer Pluspunkt ist auf jeden Fall die enge Verknüpfung von Land-und Stadtleben die sich in den frischen Zutaten vom Zentralmarkt, der Meeresbriese und den Möwen in den Straßen und den kurzen Wegen zu Strand, Wald und Dünen widerspiegelt.

Auch das Rigaer Nachtleben hat sich mir bis jetzt glücklicherweise von einer nicht weniger unterhaltsamen Seite gezeigt. Von einem entspannten Brettspiel-Barabend, über einen „Soirée Casino“ im hiesigen Institut Francais bis hin zu einem tollen Techno-Tanzabend in einem alten Holzhaus war alles dabei. Und wenn sonst nichts ansteht ist es immer lohnend sich in das gemütliche Hostelwohnzimmer zu setzten, und sich bei einem Bierchen mit all den Weltenbummlern zu unterhalten. In Lettland gibt es unzählige kleine experimentierfreudige Brauereien (Bisheriger Favorit: Valmiermuiza) – 6 Monate werden wohl kaum ausreichen, um sich hier durchzuprobieren!

 

If I say „Riga“ whats the first thing you have to think about?

 

Kaspers (Geschichtsstudent):

„Lovely Diversity“

„There is so much to discover under the skin“

Erst seit dem 21. August 1991 ist Lettland offiziell ein souveräner, von der Sowjetunion unabhängiger Staat. Die Jahrhunderte lange Fremdherrschaft hat ihre Spuren hinterlassen, sowohl architektonisch, als auch kulturell, sodass man heute ein verwobenes, vielfältiges Kultur- Geflecht in Lettland vorfinden, dass für mich als Außenstehende manchmal nur schwer zu verstehen ist.

 

Fischverkäufer auf dem Markt:

„Big City“

Fast alle Letten, mit denen man sich in Riga unterhält, sind auf dem Land aufgewachsen und fahren immer noch häufig zu ihrer dort ansässigen Familie um frisches Essen aus den Gärten zu holen, da in Lettland zurzeit eine große Diskrepanz zwischen dem durchschnittlichen Nettoeinkommen und den Lebensmittelkosten herrscht.

 

Käseverkäufer:

„Dome Church“

Der Dom zu Riga ist die Kathedralkirche der Evangelisch-Lutherischen Kirche und die größte baltische Kirche. Eine Besonderheit des Doms stellt die in Sachsen hergestellte Glocke dar. Sie ist die größte Glocke ihrer Art und wiegt 8,5 Tonnen.

 

Verkäuferin eines Souvernirstandes

„Black cat“

Als ein reicher Kaufmann nicht in die Große Gilde aufgenommen wurde, rächte er sich, indem er ein prächtiges Haus neben das Gildengrundstück baute, auf dessen Turmspitze eine schwarze Katze saß, die den Handelsleuten ihren Hintern entgegenstreckte.

 

Toms, 34, Freewalkingtour-Guide

„Love! I love my Riga“

 

Lieblingsorte

Dies soll kein statischer Blogeintrag werden, sondern eine Liste, die bis zum Ende meiner 6 Monate wächst. Wie der Titel schon verrät, wird dieser Teil meines Blogs dazu dienen bestimmte Orte für mich und euch festzuhalten, die ich interessant, schön oder einfach gemütlich – in jedem Fall bereichernd fand!

 

Rīgas Centrāltirgus

Ein Pflichtbesuch! Gerüche, Geschmäcker, Farben und knackige Frische – auf dem Zentralmarkt findet sich Nahrung für jeden unserer Sinne. Außerdem ist dies der beste Ort, um sich durch traditionelle Lettische Spezialitäten zu probieren. Also, schnappt euch die größte Tragetasche, die ihr finden könnt und nehmt genug Geld mit!

 

Mit Coffee

Coole Kombi aus süßem Café und Hipsterfahrradladen im Keller + köstliche vegane und vegetarische Mittagsangebote für wenig Geld!

 

Kaņepes Kultūras Centrs

Dieses alte Holzhaus hat zwar wenig mit einem klassischen Kulturzentrum zu tun, ein Besuch lohnt sich aber umso mehr! Von lettischem „Ginger Cidre“, Film- und Improtheaterabenden bis hin zu Technotunes – hier wird jedes künstlerisch gesinnte Gemüt glücklich.

 

Jūrmala

Gerade einmal 30 Minuten Bahnfahrt westlich von Riga befindet sich der Kurort Jurmala, mit alten hölzernen Jugendstilvillen und einem kilometerlangen, breiten Strand, mit derart feinem Sand, dass man sogar Fahrrad fahren kann!

Einziges Manko: KEIN Geheimtipp! Alle Letten (und Reiseführer) wissen, wie schön es hier ist, dementsprechend muss man sich darauf einstellen sich den Strand bei gutem Wetter mit einer relativ großen Menschenmenge zu teilen.




Lettische Akademie der Wissenschaften

Das 107 Meter hohe Bürohaus wurde im Jahr 1951 gebaut und ist damit das älteste Hochhaus Lettland. Für 5€ kann man auf einen Balkon in der 16. Etage fahren, von dem aus man eine 360°-Sicht über Riga hat. Die Aussichtsplattform ist jeden Tag von 8.00-22.00Uhr geöffnet, also durchaus auch eine Option für Sonnenauf und -untergänge.

 

 

ONEONE

Durch ein reich verziertes Tor gelangt man in den Innenhof eines alten Industrieareals. In einem dieser Fabrikgebäude befindet sich der Underground-Club OneOne. Den Namen hat er wohl von den zwei großen Glasfenstern an der Frontseite die eins neben dem anderen gelegen hinter dem DJ-Pult für eine besondere, fast an ein Kirchenschiff erinnernde Atmosphäre sorgen.


 

Labietis

Direkt gegenüber befindet sich eine kleine, lokale Brauerei mit Kultstatus, Labietis. Jeder Bierliebhaber sollte sich definitiv die Zeit nehmen sich hier in den Schankraum zu setzen, von dem aus man durch eine riesige Glasscheibe die Fabrikarbeit verfolgen kann und eine der 40 Biersorten probieren. Persönlicher Tipp: Juniper Red Ale (s.Foto) Bei Interesse mehr Infos hier: http://www.labietis.lv/en/our-beers

 

Autentika

Das alte Holzhaus, in dem sich das Autentika befindet liegt im Innenhof einer alten Fabrikanlage und versprüht damit schon automatisch den perfekten alternativen Charme. Hauptsächlich ein Technoclub öffnet das Haus am Wochenende auch seine Türen für Events, wie kleine Flohmärkte, Sonntagsbrunchs etc.

 

 

Humana Vintage

Während

 

12.03.2018 – -1°Celsius

Als ich am 12.03. während des Landeanflugs auf Riga aus dem Fenster auf eine zugefrorene Ostsee und eingeschneite Birkenhaine und Wälder schaute, hatte ich zwei Gedanken im Kopf:
1) Wow, sieht das atemberaubend schön aus!
2) Au weia, hier ist ja doch noch richtig Winter!
Mein Taxifahrer setzte dann noch Einen oben drauf, als er im Zuge unserer Unterhaltung meinte: „Right now, spring begins in Riga. Today is the first day with more than 0°C“
1°C und zugefrorene Flüsse und Meere – diese Definition von Frühling erschreckte mich doch ein bisschen und einen kurzen Moment musste ich dagegen ankämpfen den Taxifahrer nicht sofort zu bitten umzudrehen und mich in den nächsten Flieger nach Südfrankreich zu setzten. Doch schon nach dem ersten halben Tag durch die Stadt bummeln bin ich mehr als froh diesem Impuls widerstanden zu haben.

Der größte Fluss Rigas „Daugava“auf Eis gelegt

Riga ist meinem ersten Eindruck nach eine Stadt mit wunderschönen Gebäuden und Parks, wobei mich vor allem die vielen Flüsse, oder zum derzeitigen Zeitpunkt Eisschneisen, die die Stadt durchziehen, begeistern. Das spannendste war heute jedoch definitiv der Besuch des Zentralmarkts. Über 5 riesige Hallen, die im 1. Weltkrieg als Hangar für Zeppeline dienten erstreckt sich der größte Lebensmittelmarkt Europas. Bei dieser Größendimension war es nicht weiter schlimm für mich als Vegetarierin, dass in einer der Hallen ausschließlich Fisch und Fleisch angeboten wird – in den restlichen vier deckte ich mich mit ķimeņu siers (traditioneller Kümmelkäse), selbstgemachtem Kefir, köstlichen eingelegten Gemüsesorten und rudzu maize (Roggenbrot) ein. An der Unterseite der Brote kleben noch Ahornblätter, welche die Asche von den frischen Laibern abhalten sollen, die wohl immer noch in alten Steinöfen gebacken werden, wie mir eine Verkäuferin erklärte. Vielleicht war die Kruste deshalb so unglaublich knusprig und lecker. Nach diesem Abendessen fühle ich mich auf jeden Fall schon ein kleines Stückchen mehr in Lettland angekommen und bin gespannt, was mir die kommenden Tage zu bieten haben werden!

Die Möwen scheinen hier auch einen urbanen Lifestyle angenommen zu haben und schlendern ohne jegliche Menschenscheu durch die Stadt