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Wie die Luft ihm Aufzug fühlst du dich verbraucht. Noch vor wenigen Herzschlägen war dem nicht so. Du hast die Zeit über in deinen Gedanken geschwelgt. In Gedanken. Unwissend, was um dich herum passiert. Deine Wimpernschläge häufen sich. Das Geräusch, der Aufzugsklingel hallt nach. Doch es ist nicht der schrille Ton, der dich auf den Boden der Realität zurückbringt. Sondern deine Begleiter*innen. Oder vielmehr das, was sie abhalten: Abschiedsreden.

>> In Gedenken an dein W. W wie Wetter. Ein Wetter, das einem das Gefühl einer warmen Umarmung gegeben hat. Geborgenheit in der Anonymität der einst fremden Stadt. Geborgenheit in der später vertrauten Stadt. Du hast sie erst zu meinem zweiten Zuhause gemacht. Nun lässt du mich wortwörtlich im Regen stehen. Ich bereue es bereits jetzt, dich nicht noch mehr wertgeschätzt zu haben. Ich bereue es, dass mein Aufenthalt im Winter bereits endet und wir uns nicht mehr in dieser Konstellation sehen werden. Danke für die gemeinsame sonnige Zeit. Leb wohl. <<

>> In Gedenken an dein A. A wie Assistenzrolle. Meine Stunde ist gekommen – oder so gut wie. Immer mehr Verantwortung wird mir hinsichtlich der Interaktion mit den Schüler*innen übertragen. Immer mehr lege ich meine Rolle als stiller Beobachter ab und darf aktiv der Klasse unter die Arme greifen. Ich spüre, dass ich noch mehr tun könnte und hoffe dies künftig auch umzusetzen. Derzeit merke ich ein Ungleichgewicht, da mir so viel gegeben wurde ich aber wenige Chancen bekommen habe mich dafür zu revanchieren. Ich wünsche, dass ich zum Wohle der Schüler*innen immer meinen Aufgaben gerecht werde. Von dir Assistenzrolle nehme ich nun Abschied. Zu dir sage ich „Lebe wohl!“<< .

>> In Gedenken an dein R. R wie Routenplaner bei Googlemaps. Eine Funktion, die mich am Leben erhalten hat. Über die Zeit, in der ich noch in meinem Komaa (Klassischer Orientierungs Mangel Am Anfang) lag und das komplette Warschauer Verkehrsnetz unbeabsichtigt studierte. Über die Zeit, in der ich zum verzweifelten Pantomimen wurde, da mich oft niemand auf Englisch verstand. Nun besitze ich einen besseren Überblick über die Verbindungen (mehr oder weniger durch eine neue App. Allerdings ist diese Lokal). Ich danke dir für die gemeinsame Zeit. Leb wohl. <<

>> In Gedenken an dein S. S wie Schüler*innen. Ich habe das Glück gehabt eine kleine Auswahl an tollen, einzigartigen deutschlernenden Polen und Polinnen kennengelernt zu haben. Von einigen heißt es nun aber Abschied zu nehmen. Sie werden aufgrund privater oder schulischer Gründe nicht mehr das Lyzeum oder den DSD Vorbereitungsunterricht besuchen. Vielleicht gibt es Hoffnung auf ein Wiedersehen. Ich wünsche euch das Beste für euer künftiges Leben. Lebt wohl. <<

>> In Gedenken an dein C. C wie Chaos. In meinem Kopf, in meinem Herzen, aber auch in meiner Wohnung. Der erdrückende Nebel bestehend aus Ängsten, Sorgen, hat sich verzogen. Insbesondere aber der Chaosdunst, der eigentlich nie ein Chaos gewesen ist. Das Chaos einer Wohnung ohne persönlichen Bezug wie Fotos, Erinnerungsstücken und blumiges oder blättriges „Grünzeug“. Nach einer mehr oder weniger individuellen Raumgestaltung fühle ich mich wieder mehr wie Daheim. Für dich Chaos habe ich leider keinen Dank übrig, sorry. Leb wohl. <<

>> In Gedenken an dein H. H wie Hosen. In meinem Bundesland Bayern würde es schon bei höheren Temperaturen sorgende, missfällige und theatralische Blicke auf mich herabregnen. Hier, in einer anhaltenden Unwettersaison, fühle ich mich nicht wie ein Tier im Zoo. Fühle mich verstanden. Es gibt kein schlechtes Wetter, um auf Röcke und Kleider verzichten zu müssen. Seid unbesorgt: Ihr werdet diesen Winter bestimmt noch zum Einsatz kommen. Bis dahin aber „ Hosenträger – nein, danke!“ – lebt (noch) wohl. <<

>> In Gedenken an dein A. A wie Ausreden. Immer wieder muss ich meine Gedanken zurück in die Schranken weisen, wenn mir auffällt, dass ich mich aufgrund meiner Herkunft, meiner Aufenthaltsdauer oder meiner wenigen Sprachkenntnisse, nicht mehr zumute. Wieso schließe ich mich nicht einem Verein an? Wieso gehe ich nur auf Veranstaltungen, bei der eher viele flüchtige als weniger und ernstere Bekanntschaften entstehen? Ich danke dir für meine bisherigen Unternehmungen, sehe aber, dass ich mit euch nie das Leben in Warschau haben werde, dass ich mir wünsche. Also an euch alle – Lebt wohl! <<

>> In Gedenken an dein U. U wie Unterricht. In traditioneller Hinsicht, versteht sich. Du wirst weiterhin einen großen Teil in meinem Leben hier einnehmen – nur, dass du dich weiterentwickelt hast. Modernisiert hast. Eine interaktive Tafel, Kaffeemaschine und ein Fernseher werden künftig als Medium in die Stunden integriert werden. Ich danke dir für die gute alte Zeit, die guten alten Methoden und den guten alten damals als Mangelexemplar geschätzten Tafelwischer. Du bleibst mir im Gedächtnis. Leb wohl. <<

Im selben Atemzug merkst du, dass der Aufzug plötzlich an Gewicht zu verloren haben scheint. Er rattert, noch knattert, noch seufzt er bei jeder Aufwärtsbewegung mehr. Du siehst auf deine Uhr. Die kleine Datumsanzeige bestätigt dir aber deine Vermutung. Es ist noch nicht der 1. November. Es ist noch nicht Allerheiligen. Es ist noch keine Zeit, Friedhofstimmung zu verbreiten. Abrupt kommt dir jedoch der Gedanke, dass es nicht immer ein festgelegter Tag sein muss, an dem man Abschied, an dem man Loslassen darf – und sollte. Das wurde dir in dieser Woche bewusst. Um der Woche an ihrer Ernsthaftigkeit zu nehmen haben deine Begleiter*innen Abschied von Banalitäten genommen. Diese verniedlicht, wie die Polen es mit ihren Vornamen machen. Denn egal was hier auch passiert: Auf die Frage: „jak się masz?“ – wird immer mit „dobrze“ geantwortet.

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