Das Wsjo-Paka-Prinzip

Orscha, 13. November 2018. – Heute wieder ein neuer Beitrag aus der Stadt, in der es schon längst hätte schneien sollen, mit einem Rückblick auf die letzten Tage und Beobachtungen aus meiner Zeit hier im Osten.

Von Donnerstagabend bis Sonntagnachmittag bin ich in Minsk, wo das PASCH-Theaterfestival stattfindet. Da in diesem Jahr die Initiative PASCH: Schulen – Partner der Zukunft (immer noch kein guter Name) ihren zehnjährigen Geburtstag feiert, ist der Aufwand besonders groß. Die Schulen mit ihren Theatergruppen mussten sich zuerst bewerben, um teilnehmen zu dürfen und in den Genuss unterschiedlicher Theater-Workshops zu kommen. (Das Bewerbungsverfahren dient vermutlich nur dem Zweck, zu verhindern, dass absolut jeder teilnehmen kann, wie in den letzten Jahren.) Ich selbst bin aber in keinem der Workshops anwesend, da wir Freiwilligen die meiste Zeit hinter den Kulissen aktiv sind. Soll heißen, wir bereiten die Kaffeepausen vor, tragen Zeugs hin und her, kümmern uns um die Mülltrennung (also die Trennung des Mülls vom restlichen Zeugs, weiter geht man hier nicht) und essen vor allem Kekse.

Viele Kekse.

Am Freitagabend können wir noch eine „echte“ Theateraufführung besuchen. Das Stück mit dem deutschen Namen „Aufzug“ ist allerdings auf Belarussisch – in der Sprache also, die hier kaum jemand freiwillig spricht, die aber in der Kultur einen großen Stellenwert zu haben scheint. Ich höre den Unterschied zu Russisch fast nur an einigen belarussischen Wörtern, die ich kenne – der Rest könnte auch Russisch sein, obwohl es auf Russisch vielleicht einfacher zu verstehen wäre. Wie auch immer, die Handlung ist zwar grob verständlich, die langen Dialoge allerdings kaum bis gar nicht.

Das Highlight am Samstagabend ist natürlich die Aufführung der Theatergruppen. Wieder sind wir hinter den Kulissen aktiv, aber auch von dort ist es sehr eindrucksvoll. Alle Gruppen haben etwas ganz Eigenes vorbereitet, und auch der Beitrag aus Orscha kommt gut an. Vor allem sind wir alle mit unseren Schauspielerinnen (unten) sehr zufrieden. Die Mischung aus drei älteren (Klasse 10) und zwei jüngeren Mädchen (Klasse 4) ist gewissermaßen ideal, ich kann es kaum richtig beschreiben und bin beeindruckt, wie gut alle ihre Rollen ausgefüllt haben. Die kleinen waren während des Wochenendes fast durchgängig von allem begeistert – Zitat Irina: „Sie haben nix verstanden, aber fanden alles toll.“ Der volle Erfolg unseres „Debüts“ liegt vor allem an unseren Schauspielerinnen, keine Frage.

Die beiden Mädchen aus Klasse 4 spielen im Stück zwei Freundinnen…

…und die großen Zehntklässlerinnen deren Mütter und die Kellnerin

Der Fairness halber muss man aber sagen, dass die Gastgruppe aus Litauen mit Abstand am besten war. Die Litauer haben die Belarussen deutlich in den Schatten gestellt, werden das nächste Mal also wahrscheinlich nicht mehr über die Grenze gelassen.

Nach noch ein bisschen Zeit in Minsk komme ich wieder zurück nach Orscha. Ich weiß immer noch nicht, ob mir Minsk gefällt, um ehrlich zu sein, ich kenne die Stadt wenig. Und ich weiß auch nicht, ob mir das Leben in so einer Metropole gefallen würde. Es gibt natürlich Vor- und Nachteile, ich kann sie einfach nicht abwägen. Orscha ist bereits groß im Vergleich zu Gießen, das merke ich, aber hier komme ich soweit gut klar. Wie es in einer Millionenstadt wäre – keine Ahnung.

Es ist seltsam, wie ich manchmal sehr viel und manchmal kaum etwas zu tun habe, was meine Arbeit angeht. Für diese Woche sind relativ plötzlich drei neue Episoden meiner Powerpoint-Präsentationsserie (PPPS) dazugekommen, dazu noch einige der Dinge, die ich weiter aufschiebe oder zu lange aufgeschoben habe. Es gibt viel zu organisieren für die nächsten Wochen, während die Zeit hier sehr schnell zu vergehen scheint. Am kommenden Montag beginnt schon das halbzeitige Zwischenseminar und ich plane bereits bis weit danach (muss ich auch), was mir gewissen Stress macht.

Noch ein paar kurze Beobachtungen direkt von heute.

–Immer häufiger werde ich in der Schule für andere Aufgaben als im Unterricht eingesetzt – zum Beispiel Texte formulieren. Irina überlässt es gerne mir, die Texte „красиво“ (schön) zu gestalten, was mir auch wirklich Spaß macht. Wenn Irina dadurch beim Goethe-Institut Pluspunkte sammelt, haben alle etwas davon. Und ich schreibe recht gerne, wie man auch in meinem Blog sieht… Außerdem kommen vielleicht Musikprojekte, wir werden es noch sehen.

–Es ist auffällig, wie sehr die starken Schüler hier gefördert werden. Die Deutschlehrer nehmen sich viel Zeit für die starken Deutschschüler (de facto nur Mädchen, natürlich). Diese bekommen viele Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln, und nutzen das auch. Ich kann nicht sagen, ob das in anderen Fächern auch so ist; ich kenne nur den Deutschunterricht, und hier fällt es mir auf.

–Heute Morgen durfte ich Klasse 10 das deutsche Schulsystem präsentieren, was für die Schüler ziemlich interessant war. Vom Föderalismus über die Notengebung bis zu den Abschlussprüfungen, alles ist in Deutschland ganz anders als in Belarus. Wahrscheinlich waren die SuS nach dieser Stunde gründlich verwirrt bzw. konstruktiv irritiert.

–Für Klasse 4 habe ich einen Übungstext geschrieben und dort mit den Sätzen „Um 8 Uhr habe ich Belarussisch. Das ist doof. Belarussisch ist nicht mein Lieblingsfach.“ genau den Nerv der Klasse getroffen. Yay)

Am Ende sollte ich noch den Titel dieses Beitrags erklären. Es geht um etwas, das mir schon vor längerer Zeit aufgefallen ist: ich nenne es das wsjo-paká-Prinzip (russ. всё пока). Hier sieht man nämlich einen tatsächlichen kulturellen Unterschied, wenn man das so bezeichnen will: auf Russisch ist es vollkommen legitim, ein Gespräch ausschließlich mit den Worten „Alles. Tschüss.“ zu beenden, wobei „alles“ (всё) im Sinne von „das wars, das war alles“ gemeint ist. Man hört es ständig, wenn Leute in der Öffentlichkeit telefonieren, wahlweise auch als „всё, давай“. Im Restaurant fragen die Kellner nicht „Darf es noch etwas sein?“ sondern nur „всё?“ usw. usf. In vielen Situationen kann man hier sehr viel weniger Wörter verwenden, ohne unhöflich zu wirken – in den meisten Alltagssituationen muss man kaum oder gar nicht reden. Es gilt, wie fast immer in Belarus: wenn man sich ein bisschen auskennt, ist es kinderleicht, und wenn man sich gar nicht auskennt, hat man ein Problem.

Sich zu verabschieden dauert auf Russisch in der Regel jedenfalls maximal 1,5 Sekunden, Abschiedsworte sind meistens nicht erwünscht oder sogar unangemessen. Meiner Erfahrung nach zumindest. Das ist ein relativ grundsätzlicher Unterschied zu Deutschland, wo man am Telefon kaum so schnell fertig werden wird, ohne unhöflich zu sein.

Wie mir das gefällt, weiß ich noch nicht, es hat aber auch jeden Fall seinen Reiz.

Zuletzt das Wetter: 0 bis 1°C, kalt aber trocken. Angeblich schneit es morgen. Посмотрим.

Всё. До свидания!

Jonathan