Hier kommt viel Text, aber es lohnt sich

Orscha, 16. September 2018. – Dieser Blogeintrag wird vermutlich sehr textlastig sein, da ich in den letzten Tagen kaum zum Fotografieren gekommen bin (man wird sehen, warum). Trotzdem versuche ich, ihn möglichst interessant zu gestalten.

Am Freitag (14.) haben wir Belarus-Freiwillige einen Vorbereitungstag im Goethe-Institut (GI), zu dem ich nicht viel mehr sagen werde – es ist einfach die übliche entspannte Professionalität. Immer wieder erscheint im Gespräch der Geist meiner Vorgängerin („letztes Jahr gab es einen Fall…“), aber unsere Kontaktpersonen am GI sind zuversichtlich, dass in diesem (halben) Jahr alles gut geht. Dazu gibt es Landeskunde-Input: wir vergleichen z.B. das blr. und das dt. Schulsystem und scheitern völlig daran, das dt. Modell einigermaßen zusammenhängend zu erklären, während das blr. System innerhalb weniger Minuten abgehakt ist. Im Verlauf des Nachmittags treffen wir unsere Ansprechpersonen aus den Einsatzstellen und können uns weiter kennenlernen.  Mein guter Eindruck von Irina bestätigt sich, ich bin für den Anfang beruhigt und freue mich auf die kommende Zeit.

Btw: Anna-Lina, falls Du das liest, lass gerne mal einen Kommentar oder eine Nachricht da, ich würde mich freuen :) ich habe auch kein schlechtes Bild von Dir, ich habe Deinen Blog gelesen und kann das meiste nachvollziehen.

Im Verlauf des Wochenendes wird es dann sehr viel abenteuerlicher. Nach etwas mehr als zwei Stunden Zugfahrt kommen Irina und ich mit leichter Verspätung in Orscha an – ein regelrechter Skandal, da die Züge doch angeblich stets pünktlich sind. Mich beunruhigt es aber noch mehr, dass der (staatlich angestellte!) Taxifahrer, der uns am Abend vom Bahnhof in die Stadt bringt, es nicht für nötig hält, sich anzuschnallen – aber wie ich später in der Gastfamilie merke, scheint das generell keine Priorität in Belarus zu sein. Nehme ich einfach mal so hin.

Seit Freitag Abend bin ich also in einer Gastfamilie, bis einschl. nächsten Donnerstag. Familie D. besteht aus vier Personen: V. mit seiner Frau I. und den Zwillingen A. und S. – V. ist Direktor einer Bank und I. ist Buchhalterin, während die beiden Jungs zur Schule gehen. Ich habe den Eindruck, dass die Familie mir in der Woche bei ihnen das volle belarussische Paket nahebringen will, wie man vielleicht an ein paar Stichpunkten aus dem Wochenende sieht:

*Essen/Trinken: Nach Draniki und Bliny konnte ich in der Familie schon Borschtsch und Schaschlik, Birkensaft und Kwas probieren. Mir wird alles angeboten: нравится? нравится? Gefällt es dir? в германии есть? Gibt es das in Deutschland? Vielleicht geht es allen Gästen so, aber vermutlich mir als Ausländer besonders: ich kenne vieles hier nicht und soll es dann beurteilen. Dazu der Vorwurf, ich würde schlecht (плохо) essen – das klassische „du bist doch so dünn…“. Die Gastfreundschaft ist einfach überwältigend. Irina hat mir schon gesagt, mein Vorvorgänger Chris habe in der Zeit in Belarus mehrere Kilo zugenommen. Tolle Aussichten. Nach dieser Woche brauche ich wahrscheinlich erstmal eine Diät, am liebsten mit sehr viel weniger Fleisch als jetzt gerade, das gibt es nämlich schon zum Frühstück (und nicht nur dann).

*Wohnsituation: die Familie lebt in einer kleinen Wohnung in einem der vielen riesigen Wohnblöcke. Einfamilienhäuser gibt es in Orscha anscheinend auch, aber nur selten. Stattdessen besitzt man üblicherweise eine Datscha, ein Wochenend- oder Sommerhaus, wo z.B. auch Gemüse oder Obst angebaut wird. An den Wochenenden fährt man „за годод“, aufs Land, und ruht sich aus.

*Die Datscha: wir verbringen den Samstag Nachmittag auf der Datscha von Freunden. Was man da macht? Рыбачить (Angeln), русская баня (russisches Dampfbad) und noch mehr essen, dazu Wodka (40%). Mir wird wiederum alles angeboten, ich darf (soll) bei allem mitmachen. Angeln ist nicht so mein Ding, aber immerhin erweitere ich meinen Wortschatz um die entsprechenden Begriffe – z.B. „окунь“, auf Deutsch Barsch (hatte ich an der Angel). Das Dampfbad wiederum ist angenehmer, als ich gedacht hätte. Als der Besitzer merkt, dass es mir gefällt, bietet er an, ich könnte jede Woche herkommen. Auch er freut sich unheimlich über mich als Gast.

Übrigens regnet es am Nachmittag fast durchgängig, aber das ist nach der Zeit im баня auch ganz angenehm.

Bleibt noch die Frage, wie wir überhaupt kommunizieren. Die Jungs sprechen vermutlich etwas besser Deutsch als ich Russisch, aber im Verhältnis zur Lernzeit ist es trotzdem ziemlich schlecht, das muss man einfach so sagen. (Dass ich mich überhaupt mit ihnen vergleichen kann, obwohl sie theoretisch gute zwölf Mal so viel Lernzeit hatten wie ich, ist ziemlich traurig.) Meistens geht es mit Russisch irgendwie. Englisch geht sowieso nicht.

Ich bin unheimlich froh, schon Einiges gelernt zu haben, denn das zahlt sich jetzt aus. Es ist ein seltsames Gefühl: ich verwende täglich ca. 90% meines gesamten Russisch-Könnens, einfach weil es notwendig ist. Ich verwende ungefähr alle meine vorbereiteten Sätze, von dem typischen „(не) понимаю, понятно, я понял“ (unterschiedliche Abstufungen von „verstehen“) über „дождь ещё идёт?“ (Regnet es noch?) bis zu „во сколько отходит поезд?“ (Wann fährt der Zug?) usw. usf. Ständig höre die Wörter, die ich schon selbst geübt habe – ohne dadurch den Gesamtzusammenhang zu verstehen. Die meisten einfachen Dinge gehen gut, und teilweise schaffen wir auch komplexere Themen (was ein Freiwilliger ist, wie viele es in Belarus gibt, einmal sogar die deutsche Teilung in ganz grob). Wenn die Kommunikation nicht klappt, sagt man mir „alles gut“ und belässt es dabei, die Leute sind nicht böse darum.

Bleibt außerdem noch die Frage, wie es mir damit geht.

Einerseits: natürlich, die Zeit in der Familie ist gewissermaßen perfekt, um die Sprache zu lernen. Ich habe den Klang immer um mich herum, nehme viel mit, lerne neue Wörter, gewöhne mich an den Klang, an einfache Sätze. Somit ein guter Anfang.

Andererseits ist es unglaublich anstrengend, das den ganzen Tag machen zu müssen. Den ganzen Tag alle Russisch-Reserven mobilisieren zu müssen, damit die Kommunikation einigermaßen klappt. Auf Dauer macht es mich fertig und müde, obwohl man immer wieder durch kleine Erfolge belohnt wird. Vielleicht könnte ich so die Sprache am besten lernen, может быть. Die Sache ist nur, dass ich hier in der Familie sehr in Anspruch genommen werde. Wie oben beschrieben, wird mir alles gezeigt, ich werde ständig ausgefragt, so gut es geht, und die beiden Jungs sind etwas zu interessiert. Ich bin nicht der Typ dafür. Zeit alleine würde mir guttun, deswegen freue ich mich auf meine eigene Wohnung. Blöd nur, dass wir nächstes Wochenende wieder zum GI kommen sollen. Naja, mal sehen.

Es gibt noch mehr, was ich erwähnen könnte, über Orscha, Minsk, und Belarus, aber das hebe ich mir noch auf, bis ich mehr weiß. Der Eintrag hier ist sowieso lang genug.

Liebe Grüße и до свидания,

Jonathan

5 Gedanken zu „Hier kommt viel Text, aber es lohnt sich“

  1. Hallo Jonathan,
    wir haben uns auf dem VB nur flüchtig kennengelernt, weiß nichtmal, ob du dich erinnerst. Ich bin begeisterter Leser deines Blogs und finde es echt spannend, deine ganzen Erfahrungen zu lesen, vor allem weil meine sehr unterschiedlich dazu sind. Ich wünsche dir sehr viel Kraft beim Russisch lernen und bei deiner Arbeit.
    Pozdrawiam,

    Moritz

    1. Hallo Moritz, ich erinnere mich tatsächlich noch gut an Dich und habe auch schon in Deinem Blog vorbeigeschaut – man schaut ja immer, ob man Leute findet, die man schon auf dem Seminar gesehen hat. Jetzt bin ich noch mehr gespannt, auf welche Art Deine Erfahrungen anders sind. Vielleicht sehen wir uns noch in der kulturweit-Zeit, Polen liegt ja quasi auf dem Weg… всего хорошего! – Jonathan

  2. Hallo Jonathan,

    dass du gerne und viel schreiben kannst, wissen wir ja – aber es macht riesig Spaß, deine Schilderungen zu lesen und sich dabei vorzustellen, wie du in der jeweiligen Situation reagierst! Vielleicht ist es gerade richtig, dass deine Anfangszeit so vollgepackt ist und du viel Input bekommst, es wird bestimmt auch noch sehr ruhige Tage und einsame Wochenenden geben, an denen du Zeit zum Verarbeiten hast.
    Und wie gut, dass du zumindest schon ein wenig Russisch gelernt hast und nicht ganz sprachlos bist!
    Wir sind sehr gespannt, was du noch alles erlebst – vor allem in der Schule, da habe ich ja auch beruflich großes Interesse und freue mich auf Schilderungen des pädagogischen Alltags :-).

    Hier in Mittelhessen geht der Sommer noch eine weitere Woche in die Verlängerung, die Sonne scheint und in der nächsten Woche wird die 30 Grad Marke erneut überschritten. Wir denken an dich und freuen uns über jede Nachricht!

    Liebe Grüße und pass auf dich auf (also bitte im Auto anschnallen, auch wenn du der Einzige bist),

    Antje, Fredi und Pauline

  3. Das stelle ich mir auch anstrengend vor. Ich bin ganz froh, mein eigenes Zimmer zu haben und heute einfach nur einen Tag für mich, ohne irgendwelche Verpflichtungen. Hoffentlich findest du dann auch bald mal Zeit für dich.

    Grüße aus Sofia!

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