Narzisstische Charakterskizze

Die zwei Katastrophen hatten sich schwach abgezeichnet, aber doch hätte man sie erkennen können, die Erstere war damals kurz auf der Jahresfeier sichtbar geworden. Max hatte sich doch schließlich entschließen können dort hinzugehen, auch wenn er es eigentlich wenig leiden konnte, lang unter so vielen Leuten zu sein. Aber alle Kommilitonen waren hingegangen und es gehörte sich nun mal in der Gesellschaft zu der er jetzt gehörte. Außerdem war es die erste solcher Gelegenheiten im Jahr und jetzt bereits zu schwänzen hieße, einen Pflichtsäumpräzedenzfall zu schaffen und das wollte Max auf keinen Fall, denn er war in dieser Hinsicht sehr schwach. Andererseits hatte er auch keine Wahl, denn Herr M. hatte ihn eigens darum gebeten mitzukommen. Es war alles zugegebenermaßen anfangs sogar sehr lustig gewesen, man hatte sich mit den alten Freunden wiedermal getroffen und geplaudert und später wurde Haydn gespielt, Herr M. war erster Geiger und lächelte Max sogar zwischendurch gespannt zu, und der musste grinsen darüber, wie leicht Herr M. seine Aufgabe doch nehmen konnte und wie egal dieses massive Publikum für ihn war. Nachher gingen die meisten noch weiter in das Stammlokal der Studenten und auch Herr M. und einige andere Professoren zogen mit. Er selbstverständlich in Begleitung seiner Frau, die sogar zwischen dem jungen Rest noch Bezauberung ausstrahlte. Zuerst hatte er sich die Nähe des Professors zu ihm noch erschreckt mit einer perversen Leidenschaft erklärt, bis er diese Frau kennenlernte und über die wunderbare Zartheit der Beiden einfach, wie alle anderen auch, nur noch staunen konnte. Danach war die Kameradschaft des Herr M. wieder ein Rätsel geblieben und heute dachte er bloß, dass dieser wohl ein ausgezeichneter Kerl sein müsse und er wollte genauso einmal werden. Also, sie hatten etwas getrunken und es wurden viele Geschichten erzählt. Irgendwann war auch das vorbei und man beschloss weiter aufzubrechen. Ohne die Älteren natürlich, die blieben wahrscheinlich noch eine Weile sitzen. Max war angeheitert und deshalb dachte er nicht daran, jetzt schon nach Hause zu gehen, nein, er war sehr glücklich in der ganzen Gruppe und griff nach seiner Jacke und dem Schal. Und da sah er sie, die blitzenden Augen des Herrn M., wie sie über ihn mit ihrer elektrischen Plötzlichkeit hinweg zuckten und sich dann gleich wegdrehten. Als er schon stand, fragte ihn Herr M. noch freundlich, ob er nicht doch noch eine Weile bleiben wolle und halb über die seltsame Einbildung des gottlosen Blickes, halb über den altbekannten schelmischen Ausdruck seines Gegenübers lachend, verneinte Max und zog von dannen. Nun, diese Vorahnung einer Katstrophe war vor 6 Tagen gewesen, die Zweite war erst wenige Minuten alt. Er hatte den Rückzug des gegnerischen Läufers für eine ungeschickte, aber legitime Rettung aus seiner eigenen Falle gehalten, war dennoch einen Augenblick gestutzt, denn eine derartige Plumpheit hatte er nicht von M.‘s sonstiger Form erwartet. Aber immerhin hatte er endlich eine Chance gewittert, endlich einmal zu gewinnen und dieser Instinkt war zu stark gewesen, als dass er lieber in seinen Gedanken verweilt wäre. So zog er weiter mit denselben grauen Zügen, die er bis jetzt nicht gelernt hatte, bunter zu gestalten. Und unvermeidlich machte dieser freche Läufer einen Satz nach vorn und hatte das ganze System zersprengt. Erst einmal war nun der Turm geschlagen und alles weitere wollte sich Max gar nicht erst ausmalen, die Frustration war groß. Da trat rettend Elisabeth (M.) zum Wohnzimmertisch dazu und fragte Max nach seiner Zeit:

„Ich wollte Ihnen gern noch ein paar meiner neu bestellten Bücher zeigen, Sie sind mir wirklich schon der Liebste geworden, um darüber zu diskutieren.“, lächelt sie und verschränkt die Arme interessiert hinter ihrem Rücken. „Nicht jetzt Liebes, wir beide sind sowieso gleich fertig und dann hat Max alle Zeit der Welt für dich.“, grinst der Professor. Und mit einem Mal, ob es wohl die Frustration oder Elisabeth ist, regt sich eine kleine Rebellion. „Na ja, ich denke du hast wohl wieder klar gewonnen, ich hab es wirklich nicht kommen sehen“, lacht Max, „Ich meine, es ist das Beste, ich gebe einfach auf und wir sehen morgen weiter, bis dahin habe ich ja noch Zeit mir etwas Neues zu überlegen :D!“. „Ich weiß nicht, ich würde das hier gerne noch fertig spielen“. „Ich bitte dich, ich seh es ja auch schon, in drei Zügen bin ich Schachmatt, das will ich nicht noch miterleben, das ist ja Zeitverschwendung und außerdem noch Folterung meines Selbstbewusstseins :D“. „Ja Schatz, das musst du deinem Gast nun wirklich nicht noch zumuten, geb ihn doch frei für heute und ihr spielt dann morgen weiter.“ Und dieses Mal, das schwört ihm sein Bewusstsein, sieht Max Herrn M. verschwinden. Stattdessen sitzt da eine riesige Kröte, bestimmt drei Meter hoch und trieft vor Schleim. „Nein, das brauche ich jetzt wirklich nicht von dir hören, Schluss damit. Ich spiel das hier zu Ende und danach könnt ihr machen, was ihr wollt, dann habt ihr meinen Segen!“ brüllt die Kröte. Max spürt, wie sich mit seiner Wahrnehmung jetzt auch sein Innerstes zu verändern beginnt. Jetzt gibt es kein zurück mehr, er und sein letzter Bauer auf dem Brett beginnen die Rebellion damit, die Höflichkeit vom Tisch zu schlagen. „Also das ist doch nun schon ein bisschen kindisch, denkst du nicht?“, wirft er gereizt Herrn M. entgegen, die Kröte ist verschwunden. Nun, das braucht sich Herr M. von einem halben Kinde wohl nicht bieten zu lassen, das ruft er wutentbrannt durch den Raum, es reicht!…

und da packte Max seinen Mantel und auch seinen Schal und lief schnellen, äußerst entrüsteten Schrittes aus dem Haus. Nach diesem Ereignis war Sonntag und danach war Montag und die Uni fing schon wieder an, doch erst am Freitag trafen die Beiden wieder aufeinander. M. grüßte höflich, sagte sonst aber kein Wort und auch die nächsten Wochen änderte sich nichts daran. Max war wieder ein Mensch wie alle anderen für diesen Herrn geworden und, wenn Max ehrlich in sich horchte, störte ihn das auch kein bisschen, auch nachdem seine Wut auf diesen Menschen schon längst abgeflaut war. Und damit ging sein Leben weiter und zwar schnell. Mit 24 lernte er die schönste Frau der Welt kennen, mit 28 heiratete er, mit 29 promovierte er mit einer exzellenten Arbeit über Traffikationsrhythmen, mit 32 wurde er der jüngste Consultant für den Vorstand dieser einen Firma, mit 34 schlug er jeden seiner Schachgegner, mit 35 ging er jeden Monat einmal ins Konzert oder in die Oper, mit 36 trat er der Partei bei, mit 37 wurde sein erster Sohn 8 Jahre alt und irgendwann in dieser Zeit geschah es, dass er mit Mantel und Hut und Spazierstock aus der Wohnung trat, es war ein Februarabend und es regnete, das sah man im Licht der Straßenlaternen. Und auf dem Bürgersteig lief er an einer gebückten Gestalt vorbei, die seinen Spazierstock an sich riss. Sie griff ihn mit langen weißen Fingern ins Gesicht und patschte in seine Wangen, ihre Augen schossen Blitze. Und mit Todesangst blickte er dem Männlein ins Gesicht, starrte auf die aufgeblasenen Backen und langsam hielt das Männlein sich die andere Hand vor dem Mund und spuckte drauf. Da hockte eine kleine braune Kröte und glotzte unverwandt. Die quetschte es zwischen zwei Finger und stopfte Max damit kurzerhand das Maul.