Was mache ich hier?

Vier Wochen sind vorbei – Zeit, um mehr darüber zu erzählen, was ich hier überhaupt mache.

Ich arbeite am staatlichen geisteswissenschaftlichen College, das eine Art Berufsschule ist. Die Schüler lernen hier von der zehnten bis zur dreizehnten Stufe eine bestimmte Berufsrichtung, z.B. Übersetzung, Sachbearbeitung oder Tourismus. Deutsch wird von zwei armenischen Lehrern und einem deutschen Muttersprachler – meinem Betreuer – unterrichtet. Die Deutschgruppen bestehen aus 15-20 Schülern – größtenteils Mädchen – im Alter zwischen 15 und 18 Jahren, die das DSD I-Sprachdiplom für Deutschkenntnisse auf A2/B1-Niveau erwerben können. Ab 2021 wird es auch das DSD II-Sprachdiplom für Kenntnisse auf B2/C1-Niveau geben.

Das College liegt im Nordwesten der Stadt, ca. 40 Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt. Die perfekte Länge für eine Podcast-Folge. Mit etwas Glück habe ich vom Klassenzimmer aus, wie auf dem Foto zu sehen ist, einen wunderbaren Ausblick auf den Ararat! Die Schule hat vier Stockwerke, wobei der Unterricht auf den obersten beiden stattfindet. Darunter sind die Sporthalle, die Aula und die Verwaltung.

Der Unterricht beginnt jeden Tag um 9 Uhr und endet spätestens um 14:20 Uhr. Eine Unterrichtsstunde dauert 70 Minuten, kleine Pausen 10 Minuten und große 20 Minuten. Die Pausen verbringe ich meistens mit den Deutschlehrern, trinke Kaffee über Alltägliches, meine Arbeit oder plane zukünftige Projekte.

In den ersten beiden Wochen habe ich ausschließlich in den zwölften und dreizehnten Jahrgängen hospitiert (was ich heute auch noch mache, aber weniger). So konnte ich mir einen guten Eindruck von der Unterrichtsweise machen. Einen großen Teil des Unterrichts machen die Schüler Aufgaben aus dem Buch, üben aber auch viel das freie Sprechen.  So müssen sie z.B. Texte, die zum Hörverstehen vorgespielt werden, nacherzählen, kurze Szenen spielen oder ihre Meinung zu verschiedenen Themen äußern. Abgesehen davon wird aber wenig Methodik angewandt: Die Schüler erarbeiten nicht, wie ich es von meiner alten Schule in Deutschland kenne, ein bestimmtes Thema während einer Unterrichtsstunde z.B. durch Gruppenarbeit, Stationen oder Recherche, sondern bekommen alles vom Lehrer direkt vermittelt. Tafelbilder werden nur selten benutzt und meistens werden nur Vokabeln und Grammatik angeschrieben.

Was für mich am Anfang sehr komisch war: Schüler und Lehrer haben einen engeren Kontakt zueinander, als ich es aus Deutschland kenne. Sie sind auf Facebook befreundet, kommentieren und liken gegenseitig Beiträge und kommunizieren auch privat über den Messenger. Mittlerweile finde ich es aber ziemlich cool und mache es auch, weil die Kommunikation so viel leichter ist.

Seit zwei Wochen nimmt meine Arbeit konkretere Züge an und wird zunehmend interessanter. Mein Fokus liegt zurzeit auf zehn Schülern aus der dreizehnten Stufe, die bereits das DSD I-Diplom abgelegt haben und Deutschkenntnisse auf B1-Niveau besitzen. Da sie sprachlich deutlich weiter als ihre Mitschüler sind und im regulären Unterricht unterfordert wären, gehe ich mit ihnen während des Unterrichts in ein anderes Klassenzimmer und übe intensiv das freie Sprechen. Was sie erstaunlicherweise schon sehr gut können, da sie bereits einen vierwöchigen Austausch mit Schülern aus Deutschland gemacht haben. Sie sind sehr motiviert, ihr Deutsch zu verbessern und einige planen sogar schon fest damit, in Deutschland zu studieren.

Grundsätzlich bin ich frei in dem was ich in den Kleingruppen mache und kann Themen aus Politik, Gesellschaft, Kultur, Umwelt, etc. behandeln, die sowohl die Schüler als auch mich interessieren. Somit kann auch ich mich intensiver mit verschiedenen Themen befassen, über die ich mir teilweise bisher noch kaum Gedanken gemacht habe (z.B. Heimat). Es ist also eine Win-Win-Situation. Gleichzeitig ist es aber auch eine Herausforderung, weil ich anhand eines Themas geeignete Materialien finden und ein Konzept für den Unterricht entwickeln muss. Und mit Kreativität habe ich bisher nicht geglänzt…

Ich habe mir den Anspruch gesetzt, über das Üben des freien Sprechens hinaus die Schüler für gewisse Themen zu sensibilisieren und zum kritischen Hinterfragen zu bewegen. Umwelt und Nachhaltigkeit wäre zum Beispiel ein geeignetes Thema, denn der Verbrauch von Plastiktüten ist hier enorm. Mir ist durchaus bewusst, dass das ein sehr hoher Anspruch für einen 22-jährigen Freiwilligen ohne jegliche Erfahrung im Unterrichten ist. Vielleicht überschätze ich mich auch damit, aber der Herausforderung möchte ich mich stellen.

Diese Woche wurde ich zumindest mit den Grenzen dieses selbsternannten „Auftrags“ konfrontiert, als mir eine Schülerin ihr Bild von Geschlechterrollen und ihre Einstellung zu Homosexualität erklärte. Haushalt sei ausschließlich Frauensache, der Mann habe die Familie zu beschützen, zu arbeiten und wichtige Entscheidungen zu treffen, er habe „männlich“ zu sein und stünde über der Frau. Gegen homosexuelle Menschen habe sie grundsätzlich nichts solange sie nicht in Armenien leben. Ich war sprachlos und verärgert zugleich. Wie kann ein junges Mädchen bereits eine so klare und zweifelslose Haltung zu diesen Themen haben, dachte ich mir.  Ich wollte ihr eigentlich prompt erwidern, dass ihre Denkweise rückschrittlich und intolerant sei, doch wurde mir im selben Moment auch meiner Verantwortung bewusst, neutral zu bleiben. Ich versuchte, sie mit einigen leicht kritischen Fragen zum Nachdenken zu bewegen, doch sie beharrte auf ihrem Standpunkt und verweigerte sich jeder Reflexion. Ich merkte, dass eine Diskussion keinen Sinn hatte, zumindest nicht im Rahmen eines Deutschunterrichts. Auch wurde mir bewusst, dass ich es mir nicht anmaßen kann, sie zu belehren, denn wir sind womöglich unter völlig verschiedenen Umständen aufgewachsen und leben in Gesellschaften mit unterschiedlichen Mentalitäten, die unser Denken geprägt haben.

Neben der Arbeit in den Kleingruppen werde ich demnächst ein Deutschtraining für die zwölften Jahrgänge anbieten, um mit schwächeren Schülern intensiver Deutsch zu lernen und stärkere Schüler auf die DSD I-Prüfung im Frühjahr nächstes Jahr vorzubereiten. Das Ganze wird nach dem Unterricht stattfinden, doch Genaueres muss ich noch mit den Deutschlehrern planen.

Diese Woche habe ich außerdem eine Tanz-AG gestartet, in der ich verschiedene Paartänze von Grund auf beibringen und in Zukunft vielleicht auch die eine oder andere Choreo einstudieren werde. Nachdem ich bisher selber an einer Tanzschule gelernt habe, durfte ich das erste Mal in die Rolle des „Tanzlehrers“ schlüpfen. Es war gar nicht so leicht, den Schülern Tanzschritte und Rhythmus zu erklären, vor allem, da sie noch nicht so gut Deutsch sprechen. Doch es hat viel Spaß gemacht und für die erste Tanzstunde lief es sogar ganz gut. Gebraucht hat es dafür nicht viel: Spotify, meine kleine Musikbox, den Flur im vierten Stock und die großen Spiegel, in denen die Schüler sonst täglich Selfies machen. Wenn es mit dem Tanzen gut läuft, organisiere ich zum Abschluss meines Jahres ja vielleicht eine Tanzparty… ?

 

Danke für’s Lesen und liebe Grüße!

 

 

 

 

 

 

Eine Woche voller Erlebnisse

Eine Woche ist nun rum und es ist so viel passiert, dass ich diesen Eintrag etwas strukturieren muss. Ich hatte schon damit gerechnet, zu Beginn mit Eindrücken überladen zu werden. Doch so viel hatte ich nicht erwartet. Keine Sorge, ich werde nicht jede Woche in dieser Art und Weise Revue passieren lassen, doch bei so vielen neuen Eindrücken finde ich es ganz sinnvoll. Also…

Samstag: Abgesehen davon, dass ich am Flughafen in Düsseldorf beinahe nicht in den Flieger gelassen wurde, weil zwischen meinem Hin- und Rückflug mehr als 180 Tage liegen, ich mich ohne Aufenthaltsgenehmigung (die ich noch nicht habe) aber nur 180 Tage im Land aufhalten darf, und ich somit unter einem kleinen Schock vor Ort meinen Rückflug umbuchen musste, verlief die Anreise ohne nennenswerte Komplikationen. In der Wohnung angekommen (am Samstag um 5 Uhr morgens), traf ich auf den Vermieter, der mir auf Armenisch und Russisch versuchte, die Wohnung zu zeigen und alles Wichtige zu erklären. Erschöpft, aber nicht müde genug um einzuschlafen, verbrachte ich den restlichen Samstag gammelnd auf der Couch und installierte vorsorglich die ersten Stadt-Entdeckungs- und WG-Management-Apps, um den Start ins neue Abenteuer so professionell wie möglich zu gestalten.

Sonntag: Mit meinen beiden Mitbewohnern Elisa und Aljosha machte mir einen ersten Eindruck von Jerewan. Die Stadt gefiel mir auf Anhieb sehr. Man erkennt viele orientalische, aber auch westliche Einflüsse, die Jerewan einen ganz besondern Charakter geben. Gebäude in ockergelben und terracotta Farben, viele grüne Ecken und Parks, unzählige Denkmäler wichtiger Persönlichkeiten, Obst- und Gemüsehändler an jeder Ecke, viel Verkehr, Hupkonzerte. Die Stadt scheint zum Abend hin erst richtig aufzuwachen. Geschäfte haben bis spät in die Nacht geöffnet, Straßen sind nachts rappelvoll. Auffallend ist die im Vergleich zu Deutschland recht hohe Polizeipräsenz, und selbst Militärs kann man antreffen. Überrascht war ich unter anderem von den vielen Getränke- und Snackautomaten, die mitten auf dem Gehweg stehen. Auch gibt es überall kleine Bezahlterminals, an denen man ganz leicht sein Handyguthaben aufladen kann.

Montag: Der erste Tag im geisteswissenschaftlichen College. Ich wurde den Deutschlehrern und dem Schuldirektor vorgestellt und habe die fünf Austauschschüler getroffen, die von der deutschen Partnerschule für eine Woche nach Jerewan gekommen sind.  Nach einem kurzen Empfang gab es im Büro des Direktors einen Cognac auf die Schulpartnerschaft und anschließend besuchten wir das historische Stadtmuseum. Abends sahen wir uns das eindrucksvolle, mit Musik untermalte Wasserspiel am Platz der Republik an, das jeden Abend Hunderte von Menschen anlockt.

Dienstag: Glücklicherweise durfte ich mich der Austauschgruppe auf ihrer Exkursion in den Süden Armeniens anschließen, denn so lernte ich von Beginn an das Land besser kennen. Die anstrengende Fahrt über äußerst holprige Straßen hat sich mehr als gelohnt. Unterwegs konnten wir eine atemberaubende Landschaft aus unzähligen Gebirgsketten und Schluchten bestaunen. Auch die mitten im Nirgendwo den Weg versperrende Schafsherde, die ich bereits aus dem Reiseführer kannte, hat nicht gefehlt. Nach fünf Stunden kamen wir im Dorf Tatev an, wo wir in die Wings of Tatev (die „längste, in einer Sektion mit durchgehendem Tragseil ausgeführte Pendelbahn der Welt“) stiegen, um zum Kloster von Tatev zu kommen. Auch hier bot sich ein wunderschöner Ausblick auf die Worotan-Schlucht und die umliegenden Berge. Auf einem Hügel mitten in der Schlucht lag die Klosteranlage, von der aufgrund eines Erdbebens heute nur noch ein kleiner Teil existiert. Fotos hier, Fotos da, ein kurzer Vortrag zur Geschichte des Klosters, und schon ging es wieder zurück. Schließlich hatten wir nochmal fünf Stunden Fahrt vor uns. Unterwegs hielten wir bei Zorats Karer, einer mehrere tausend Jahre alten Grabstätte, die ein wenig an Stonehenge erinnert. Bei Bekannten unseres Fahrers hielten wir dann zum Abendessen an. Es gab das typisch armenische Gericht Lavash (hauchdünnes Fladenbrot mit allerlei Gemüse und Kräutern gefüllt) und ich lernte sofort den wichtigsten Satz auf Armenisch, „Yes li yem“ – „Ich bin satt“. In den folgenden Tagen sollte sich dessen Bedeutung noch bestätigen…

Mittwoch: Ich nahm an den ersten Deutschstunden teil. Von den Schülern wurde ich mit Freundlichkeit und Interesse aufgenommen, was mich positiv für die kommende Zeit stimmte. Gegen Mittag war für mich dann Feierabend, und da am Donnerstag keine Deutschlehrer in der Schule waren, auch schon Wochenende. Freitag war nämlich Nationalfeiertag. Anstrengender hätte die erste Woche nicht sein können. Mittlerweile fand ich mich auch immer besser in der Umgebung zurecht und konnte sogar schon mit den ersten armenischen Vokabeln glänzen. Ein kurzes „barev dzez“ (Guten Tag) oder auch das lange  „shnorhakalut’yun“ (Danke) zauberte den Einheimischen ein Lächeln ins Gesicht. Als ich dann im Restaurant nach der „haschiwe“ (Rechnung) fragte, hatte sogar der anfangs eher mürrische Kellner plötzlich gute Laune.

Donnerstag: Den ersten Tag vom Wochenende nutzte ich, um mich noch etwas vertrauter mit der Stadt zu machen. Vom Platz der Republik spazierte ich zu den Kaskaden (von wo aus man einen tollen Blick auf die Stadt hat und bei klarer Sicht auch den Ararat sehen kann) und hinterher durch den „grünen Ring“, der Jerewan im Osten umläuft. Es gibt wirklich sehr viele grüne Ecken hier, die das Stadtbild enorm aufwerten und Zuflucht vor dem starken Verkehr bieten. Angesichts der Tatsache, dass viele Autos hier offenbar keinen Abgasfilter mehr besitzen, eine sehr gute Sache…

Freitag: Die Armenier feierten ihren 27. Unabhängigkeitstag mit einer großen Feier auf dem Platz der Republik und anschließendem Feuerwerk, das ich leider verpasste, da ich in dem Moment in der Metro saß…Nichtsdestotrotz war es ein schönes Gefühl, so viele Menschen in guter Stimmung feiern zu sehen, zumal wenn ich bedenke, dass das armenische Volk in seiner Geschichte selten unabhängig war. Tagsüber machte ich mit Elisa und Aljosha einen Ausflug zum Tempel von Garni, dessen Standpunkt den des Klosters von Tatev noch übertrifft. Der Tempel, der auf einem Felsplateau am Rande der Schlucht des Asat ruht, ist der einzige noch erhaltene heidnische Tempel Armeniens. Bei den unzähligen Klöstern und Kirchen eine nette Abwechslung. Im Anschluss stiegen wir in die 150 Meter tiefe Schlucht hinab, spazierten an imposanten Basaltformationen entlang, bestiegen das gegenüberliegende Gebirge, überquerten weite Felder und trafen auf wilde Kühe und Pferde. Die Landschaft hat mich absolut umgehauen. Ich hatte das Gefühl, durch ein Stück noch unberührte Natur zu wandern. Ziel der Wanderung war ein (Oh Wunder!) Kloster, das auf einem einsamen Berg auf über 1,500 Metern thronte. Das zum größten Teil zerstörte Kloster hatte etwas Mystisches an sich, was durch den abgetrennten Hahnenkopf, den wir vor Ort fanden und der stark auf ein Opferritual hindeutete, bestärkt wurde. Der Rückweg war deutlich angenehmer, weil bergab, bot aber nicht weniger tolle Ausblicke auf Schlucht und Berge.

Samstag: Den ersten regulären Wochenendtag begann ich mit einem Lauf zum „street workout“, eine am Straßenrand aufgestellte Sammlung mehrerer Fitnessgeräte. Obwohl gefährlich anmutend und sicherlich keinen Sicherheitsrichtlinien entsprechend, machte es sehr viel Spaß, im rustikalen Stil zu trainieren. Auf der Straße wurde geboxt und im Flüsschen gleich daneben gebadet. Abends waren wir Freiwilligen beim Fachberater zum Grillen eingeladen, lernten neue Kollegen kennen und bekamen in angenehmer Gesellschaft und bei reichlich Lavash (ich erinnere an „Yes li yem“) genauere Vorstellungen von unserer zukünftigen Arbeit.

Sonntag: Heute war ich mit der deutschen Austauschgruppe auf Exkursion am Sewansee, dem größten See Armeniens. Nach einer kurzen Bootsfahrt bestiegen wir einen Hügel auf einer Halbinsel, auf dem – na was wohl? – ja, genau – ein Kloster lag. Auch hier wurden wir mit Hintergrundwissen versorgt, machten die obligatorischen Fotos und ließen die Größe des Sees auf uns wirken. Bei besserem Wetter wäre auch eine Badeeinheit drin gewesen. Schade, vielleicht beim nächsten Mal! Zum Schluss gab es köstlichen Fisch aus dem See mit – genau – Lavash.

Danke für’s Lesen, auf Kommentare freue ich mich sehr 🙂