Jetzt wird sich einiges ändern (?)

Es ist ein regnerischer Freitagnachmittag. Ich sitze am Wohnzimmertisch und denke über die Woche nach. Doch anders als sonst schreibe ich diesen Eintrag in Tbilisi, in der WG von drei Freiwilligen. Denn diese Woche war ich auf dem Zwischenseminar in Saguramo, einem kleinen Dorf unweit von Tbilisi.

Mit zwei Trainern aus Deutschland und den anderen Freiwilligen aus Armenien, Georgien und Aserbaidschan, mit denen ich schon auf dem Vorbereitungsseminar in einer „Homezone“ war, kamen wir zusammen, um die ersten zwei Monate unseres Einsatzes zu reflektieren. Fünf Tage verbrachten wir in einem kleinen Kindergarten, sprachen über unsere Erfolge und Herausforderungen, tauschten uns in Kleingruppen intensiv über unsere Arbeit aus und sammelten Anregungen und Ideen für zukünftige Projekte. Die Stimmung war toll und vertraut, wir kannten uns alle bereits und waren zusammen ein klasse Team. Abends saßen wir in gemütlicher Runde beisammen, unterhielten uns, spielten Karten und hörten Musik. Es war wie ein kurzer Urlaub – schön und erholsam. Der Ort war mit seiner Ruhe und Abgeschiedenheit perfekt, denn so hatte ich kaum Ablenkung und war mit meinen Gedanken die ganze Zeit anwesend.Die beiden Trainer Nina und Sarah waren super und haben uns nicht mit Inhalten überladen, sondern mit einigen wenigen Übungen Denkanstöße an den richtigen Stellen gesetzt. Ich habe viel über meine Arbeit nachgedacht, was ich ändern und besser machen möchte. Oberster Punkt auf meiner imaginären Liste ist „das sinnlose Herumsitzen im Unterricht minimieren“, denn zurzeit sitze ich noch stumpf meine Zeit ab. Na gut, stimmt nicht ganz, denn die Zeit nutze ich zum Unterricht vorbereiten, Russisch lernen und lesen. Doch obwohl mir das sehr bequem geworden ist, ist es nicht der Sinn der Sache. Ich muss raus aus der Komfortzone, rein ins Unterrichtsgeschehen, aktiver und präsenter sein, mich selbstständiger einbringen. Das ist jetzt mein oberstes Ziel, denn das Herumsitzen hindert mich daran, meine Arbeit interessanter zu gestalten.Ich habe aber auch viel über mich persönlich nachgedacht. Während dieser fünf Tage mit unterschiedlichen Menschen sind mir Dinge an mir selbst aufgefallen, die ich so nicht unverändert lassen möchte. Doch das wird im Vergleich zu meiner Arbeit die wesentlich schwierigere Baustelle…

Es gab aber auch weniger denkintensive Momente. Wir unternahmen zwei Ausflüge – einen nach Jvari zu einer alten Kirche, die auf einem hohen Berg liegt, und einen Tagesausflug nach Tbilisi. Dort bekamen wir eine exklusive Stadtführung von den Freiwilligen, speisten gutes typisch georgisches Essen (sehr lecker fand ich Khinkali – mit Hackfleisch und Brühe gefüllte Teigtaschen) und besuchten die Human Rights Stiftung. Die Mitarbeiter dort setzen sich unter anderem für die Rechte der LGBT-Community ein, was in Georgien und auch in Armenien dringend nötig ist, denn sie sind großer Intoleranz un auch Gewalt ausgesetzt. Insgesamt war es der anstrengendste Tag und am Ende war ich platt und hatte genug. Ich habe die Zeit sehr genossen, aber es wurde mir dann doch zu entspannt und die vier Tage haben mir gereicht. Ich vermisse auch schon meine Schüler und freue mich wieder auf das College, meinen eigenen Unterricht und die Tanz-AG. Heute Abend machen wir noch gemeinsam Tbilisi unsicher, bevor es dann morgen in wahrscheinlich mäßig gutem Zustand sechs Stunden lang zurück nach Jerewan geht.

Nachtrag: Der Schlafmangel der letzten Tage hat volle Wirkung gezeigt, sodass ich abends nicht mehr mit den anderen losgezogen bin. Wird also eine angenehme Marschrutka-Fahrt.

 

Kleines Abenteuer

Letztes Wochenende bin ich weggefahren. Ich wolllte mal raus aus der Großstadt, in die Natur, und etwas Ruhe und Zeit für mich haben. Das Ziel war Dilijan, eine Region im Nordosten Armeniens, auch als „Armenische Schweiz“ angepriesen. Einen Wochenendausflug wert, dachte ich mir. So stieg ich erwartungsvoll in die Marschrutka, tuckerte zwei Stunden durch das Land, vorbei an Feldern, Schluchten und Gebirgsketten. Wie vom Taxifahrer, der mich zur Busstation in Jerewan brachte, versprochen, eröffnete sich mir nach Durchquerung eines zwei Kilometer langen Tunnels eine wunderschöne Aussicht auf die Berge und Wälder Dilijans. Prägten gerade noch kahle Felder und Berge das Landschaftsbild, herrschte hier auf der anderen Seite des Tunnels eine völlig andere Vegetation. Ich malte mir aus, wie viel schöner es vor einigen Wochen gewesen sein musste, als die Wälder noch in rot, gelb und grün strahlten.

Doch auch jetzt war das Bild, das sich mir bot, eindrucksvoll. Über lange Serpentinen gelangten wir in das tiefer gelegene Dilijan. Als Kurort bietet es nicht viel mehr als ein paar Restaurants, Geschäfte mit handgemachten Produkten, ein Museum und natürlich ganz viel frische Luft. Angekommen, machte ich mich sofort auf die Suche nach dem Apartment, das ich für eine Nacht gebucht hatte. Da mich sowohl booking.com als auch Google Maps in die Irre führten, musste ich drei Mal durch die Stadt laufen, um endlich das Haus zu finden. Meine Gastgeberin, eine ältere äußerst sympathische Frau, empfing mich und begann, als sie merkte, dass ich etwas Russisch verstehe, mich auf ebendieser Sprache zuzutexten (jedoch positiv gemeint!). So kam ich sehr schnell in einen Redefluss und konnte eine einigermaßen inhaltsvolle Unterhaltung führen. Nachdem sie mir zahlreiche Fotos und Videos von ihrer Tochter, ihrer Familie, Bekannten und ehemaligen Gästen zeigte, organisierte sie mir ein Taxi zu Parz Lich, einem kleinen, im Wald versteckten See. Die Autofahrt gestaltete sich aufgrund unzähliger Bodenwellen und Krater aufregend. Der See an sich war jedoch nichts Besonderes. Es gab Tretboote, einen kleinen Hochseilgarten, und einen Wanderweg um den See herum, für den ich mich entschied. Währenddessen wartete mein Fahrer geduldig auf mich.

Abends kam ich zurück zum Haus und unterhielt ich mich mit meiner Gastgeberin und ihrer Tochter, die in der Zwischenzeit vom Musikcollege zurückgekommen ist. Sie spielte mir einige Stücke auf dem Klavier vor, und als ihrer Mutter eine Gitarre hervorholte, versuchten wir sogar ein Duett, das aber wegen meiner schwindenen Fertigkeiten mittelmäßig klang…Als es dunkel genug war, machte ich einige Fotos vom Sternenhimmel, der mich wirklich umhaute!

Am nächsten Morgen fuhr ich mit einem Bekannten meiner Gastgeberin, ein Priester aus Dilijan, zum Kloster Haghardzin – die Hauptsehenswürdigkeit dort. Das Kloster lag mitten im Wald auf einem kleinen Hügel, von allen Seiten von Gebirge umgeben.

Von dort machte ich mich auf zu einer zwölf Kilometer langen Wanderung durch Berge und Wald, die mich fast zur Verzweiflung brachte. Ich war nur mit einer ungenauen Karte aus meinem Reiseführer ausgestattet, Schilder gab es unterwegs nicht. Bei den ersten Weggabelungen war ich noch ziemlich sicher, wo ich abbiegen musste, doch nach einigen Kilometern kam ich ins Grübeln. Der Weg links führte scheinbar ins Nichts, der Weg rechts führte noch weiter von der Route auf der Karte ab. Bin ich den vorletzten Pfad falsch abgebogen? Oder den letzten? Zurück konnte ich nicht, denn dann würde ich mit Sicherheit die letzte Marschrutka zurück nach Jerewan verpassen. Ich musste weitergehen, in der Hoffnung, dass ich doch richtig lag. Die befestigten Wege mussten doch irgendwohin führen. Ich ging weiter, weiter bergauf, hechelnd, alle paar Meter eine kurze Verschnaufpause machend. Ich erreichte den höchsten Punkt, eine idyllische Weide, sah das Panorama und warf mich erschöpft auf den Boden. Die Aussicht war fantastisch, die Ruhe war unendlich. Hier oben schien die Natur in purer Harmonie zu liegen. Das Gefühl war unbeschreiblich.

Nachdem ich den Moment genossen und einige Fotos geschossen habe, machte ich mich wieder auf den Weg. Schließlich musste ich noch die Marschrutka bekommen! Ich erreichte den Gebirgskamm von der einen Seite, blickte auf die andere herab und sah…Häuser! Ich war richtig! Die ganze Zeit. Erleichterung durchdrang mich, ich schrie laut durch die Weite. Froh trottete ich den Pfad bergab, meine Beine waren mittlerweile so erschöpft, dass ich ständig ins Wankeln kam. Links vereinzelt Felsen und Bäume, rechts ein weites Tal und dahinter eine Gebirgskette. Die Natur war wunderschön. Dafür hat sich die Anstrengung gelohnt. Unten im Tal kam ich an einen kleinen Bach, füllte meine Flasche und nahm einen großen Schluck vom eiskalten, frischen Gebirgswasser! Ein großartiges Gefühl.

Ich kam ein paar Arbeitern entgegen, die mitten im Nichts Bäume kleinsägten. Sie waren leicht erstaunt, mich zu sehen. An einem Hof begrüßte mich ein Hund mit aggressivem Bellen und hielt mich unschuldigen, friedlich wirkenden Spaziergänger offenbar für eine so große Gefahr, dass er mir kurzerhand ins Bein biss. Ich, davon völlig überrumpelt, machte einen Satz nach vorne, bereite mich auf einen Kampf vor, doch die Besitzerin kam dazwischen und verscheuchte den Bösewicht. Mein Bein war zum Glück unversehrt, also ging ich weiter meines Weges. Abenteuerlich. Ich durchquerte ein kleines Dorf, in dem weitere bellende Hunde auf mich warteten. Dieses Mal kam es aber nicht zu einer Auseinandersetzung. Spielende Kinder begrüßten mich auf Englisch und riefen mir noch lange „Maaaaartin!“ hinterher. Ich hielt einen an mir vorbeifahrenden Wagen an, bat um eine kurze Mitfahrgelegenheit zur Busstation nach Dilijan und erreichte pünktlich die Marschrutka. Was für ein Wochenende. Etwas leichtsinnig, aber es war eine spannende und lehrreiche Erfahrung…

 

 

 

 

 

 

 

Eingelebt, aber noch fremd

Nächste Woche beende ich meinen zweiten Monat in Jerewan. Vor nicht allzu langer Zeit genoss ich noch warme 20 °C, lies mir die Sonne ins Gesicht strahlen und lief morgens im T-Shirt zur Schule. Doch vor kurzem hat der Herbst auch in Armenien Einzug gehalten und lässt die Menschen seitdem frieren und zittern. Die Heizung im College wird erst am 15. November zentral eingeschaltet. Bis dahin bleibt uns nichts anderes übrig, als Jacken und Mäntel anzulassen. Das stimmt mich nicht sehr positiv für den Winter. Ein starker Cognac wäre ideal.  Ich bin gespannt, wann es das erste Mal schneien wird

Zwei Monate sind erst vergangen, doch ich bin schon voll im Alltag angekommen und habe mich sehr gut eingelebt. Es fühlt sich alles so selbstverständlich an: Aufstehen, Kaffee trinken, zur Schule laufen, hospitieren, selber unterrichten, in der Pause noch einen Kaffee trinken, nochmal hospitieren, montags und freitags noch Tanz-AG, dann nach Hause. Mittwochs und freitags noch zum Russisch-Sprachkurs. Zu Hause noch den nächsten Unterricht vorbereiten, lesen und abends mit den anderen essen. Seit dieser Woche gehe ich auch endlich ins Gym. Hallelujah! Bei gutem Wetter ziehe ich mit meiner neuen Kamera los und übe mich amateurhaft im semiprofessionellen Fotografieren. Ein paar Geschmacksproben findet ihr unten ?

In den letzten Wochen war zudem viel los. Jerewan wurde 2800 Jahre alt, es gab ein Riesenfest in der Innenstadt mit Konzerten und dem obligatorischen Feuerwerk. Gefühlt halb Jerewan hat sich an dem Abend aufgemacht, um dieses Spektakel mitzuerleben. Die Deutsche Botschaft hat ihr alljährliches Herbstfest gefeiert und ein Remake des Animationsfilms „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ mit musikalischer Begleitung von Stephan Graf von Bothmer (unbedingt diesen genialen Mann anschauen!) gezeigt. Das Kulturprogramm wurde abgerundet durch ein eindrucksvolles Konzert des Symphonie-Orchesters und selbstverständlich ein Konzert – wie könnte es auch anders sein – des weltbekannten Jazz-Pianisten Tigran Hamasyan. Dass ich erst nach Armenien ziehen musste, um die Schönheit dieser Musik zu erkennen…

Obwohl mir mein Leben hier fast wie selbstverständlich erscheint, fühle ich mich trotzdem noch sehr fremd. Ich spreche keinen einzigen Satz Armenisch und meine Russisch-Kenntnisse reichen noch nicht zur Kommunikation. Armenische Freunde habe ich bisher nicht gefunden. Ich lebe noch in einer kleinen, halbdurchlässigen Blase.