Das Andere.

Wo lebe ich eigentlich? Was genau macht meine Lebenswirklichkeit aus? Was genau mein „Alltag“ meine „Kultur“ ist, wird mir erst hier klar, 14.000 km entfernt, durch alles, was anders ist.

Ich laufe in der Mittagssonne die Straße entlang und wechsle die Straßenseite, um im Schatten gehen zu können. Moment – Mittag, sollte da der Schatten nicht nördlich der Bäume verlaufen. Dann fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren: Südhalbkugel bedeutet, dass die Sonne hier im Norden ihren Lauf nimmt und im Süden nie zu sehen ist, ver-rückt. Genauso wächst der Mond hier von unten nach oben, am Nachthimmel sucht man vergeblich den großen Wagen.

Doch das Andere besteht nicht nur der Verschiedenheit der Geographie: Nicht nur, dass es manche Dinge kaum gibt (Stichwort Gewürze und Kokosmilch), Sahne schmeckt ganz anders, Joghurt ist viel flüssiger und wird – wie Frischmilch – in Beuteln verkauft. Der Thunfisch aus der Dose – ganz anders. Und dann beim Grillen: Pimpen wir doch unsere Steacks mit allerlei Saucen und Marinaden begleitet von allerlei Beilagen, steht hier das Fleisch im Mittelpunkt: In Ausnahmen gibt es ein Chimichurri, eine scharfe Sauce dazu, und i.d.R. einen Salat und ein bisschen Maniok als Beilage.

Mein Tag beginnt nicht mehr mit dem gleichmäßigen Rauschen des Berufsverkehrs, durchzogen von dem Dröhnen der vorbeifahrenden Trambahn – stattdessen singen Vögel mit ganz komischen Lauten, die ich teils erst für Telefone gehalten habe. Orchideen wachsen nicht in kleinen Töpfen voller Torf, sondern meterlang an den Bäumen. Die münchner Stadt-Bourgeoisie flieht für gewöhnlich am Wochenende in das Alpenvorland, um in der Natur zu entspannen. Hier ist die Natur fasst schon ein feindlicher Begriff: Im Busch tummeln sich lauter Schlangen und Moskitos, die böse Krankheiten übertragen, wie mir schon der sechsjährige Enkel meiner Vermieterin detailliert berichtet.

Kinder. Das nächste Thema. Helikoptermütter umkreisen bei uns ihren Nachwuchs, Rentner klagen gegen Kindergärten, Erziehung ist ein Konzept, dass aktive betrieben wird. Und trotzdem klagt jeder über die Jugend von heute – könnte es damit zusammenhängen, das unsere Kinder und Jugendlichen vielleicht zu viel verwaltet werden? Hier laufen die Kinder aufgedreht rum, Grenzen scheinen eher lapidar gesetzt. Eine Szene: 24 Uhr, wir sind gerade erst fertig mit dem Essen, vollkommen überdreht laufen die 2,5 Jahre alten Kinder rum. Man wundert sich, warum sie noch so fit seien und schenkt ihnen noch ein Glas Cola ein. Da liegt doch mindestens eine Korrelation vor…

Aber eine Erkenntnis, die ich nach drei Wochen gewonnen habe, ist, dass hier ganz andere Dinge als Problem wahrgenommen werden und dann ganz anders damit umgegangen wird: der Bus kommt nicht – eher kein Problem, da wird schon ein anderer kommen. Wie fahren wir morgen auf ein Fest und können dann darüber am Donnerstag im lokalen Fernseher darüber berichten? Eher ein geringes Problem, vamos a ver. Keine Siesta, weil Zeitdruck – ein extremes Problem, weil es wohl nicht durch Improvisation und Kommunikation ändern kann. Und wie schaut es bei uns? Eine S-Bahn fällt aus – Skandal! Viel zu Arbeit – ein bedingtes Problem, man kann ja mehr arbeiten. Der Handwerker kommt doch erst morgen – nicht hinnehmbar. Alles, was den deutschen Terminkalender aus Gewissheiten durcheinanderwirbelt, ist ein arges Problem. Ich habe letzte Woche versucht, eben solche Gewissheiten für meine Termine nächste Woche zu schaffen – no chance. Die Problemlösungsnetzwerke kann man nicht durchbrechen, genauso wenig wie man in Deutschland mit der Entschuldigung, der Bus sei nicht gekommen, eine Stunde zu spät kommen kann, so kann man hier nicht erwarten, eine feste Zusage für einen Arbeitsauftrag nächstes Wochenende zu bekommen.

So im Kontrast werde ich mir darüber bewusst, was meine Gewissheiten und Verhaltensmuster eigentlich sind, wie sie funktionieren, was für Erwartungshalten „die Normalität“ darstellen. Und welche Gewissheit wird morgen durch das Andere kontrastiert? Vamos a ver.