Un año después – ein Jahr später

Liebe Lea,

wenn du diesen Brief liest, blickst du hoffentlich mit Freude, aber auch etwas wehmütig auf das letzte halbe Jahr zurück.

Es ist fast erschreckend, meine eigene Stimme in den Ohren zu haben, wenn ich diesen Brief vom 10. März 2017 lese. Zum Glück fallen den Trainer*innen bei kulturweit so gute pädagogische Maßnahmen ein, die mich ein Jahr nach meiner Ausreise immer noch beschäftigen. Nicht zu glauben, aber genau vor einem Jahr überquerte unser Flugzeug die Anden, landete in Santiago und spuckte mich in einem Land aus, das für die nächsten sechs Monate mein ‚zuhause’ sein sollte. Die Luft roch fremd und warm, das Spanisch war kaum verständlich und ich wußte nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Meine ersten Wochen in Chile waren ein vorsichtiges umhertasten, ein Fühler ausstrecken. In meinem kleinen Zimmer in vitacura bei einem sehr herzlichen Paar, in einer St. Ursula Schule auf einem anderen Kontinent und in einer Stadt, die hinter jeder Ecke neu war.

Du wolltest nicht mehr Hilfe für Länder bieten, die nicht so weit waren wie Deutschland, sondern beobachten, zuhören, aufnehmen. Viel eher nahmst du dir vor, dir deiner unglaublichen Privilegien immer wieder bewusst zu werden und eine neue Perspektive auf Gesellschaft, Geschichte, Europa und dich selbst mit nach Hause zu nehmen.

Das Bewusstsein für meine Privilegien hat sich auf jeden Fall geschärft. Im täglichen Schulalltag war es manchmal schwer, meine selbstverordnete Bescheidenheit einzuhalten und die Rolle der Beobachterin und Zuhörerin anzunehmen, ohne zu hadern. Aber meine Perspektive auf die Rolle von Europa und Freiwilligenarbeit auf die ‚Entwicklung’ der Welt wurde sicherlich kritischer und facettenreicher.

Du warst gespannt, wie du dich durch diese Zeit verändern würdest. Vielleicht bist du ernster geworden, erwachsener.

An diesem Märztag bin ich von zu Hause ausgezogen. Ich hatte gar nicht viel anderes übrig, als einen Teil meiner Kindheit hinter mir zu lassen, aus dem Nest am Schwarzwald aufzubrechen und zu lernen, mein Leben ein bisschen mehr selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin so froh, dass meine Familie hinter mir steht und mir diese Reise sehr vereinfacht. Aber trotzdem ist es wohl nur natürlich, dass ich angesichts all dieser Erfahrungen ernster geworden bin. Erwachsener? Vielleicht. Aber was heißt das schon.

Du wolltest auf keinen Fall einsam auf deinem Zimmer rumhängen, sondern die Stadt entdecken und Menschen begegnen. Hoffentlich würdest du nicht nur in deiner vitacura-Blase leben.

Es war sehr verlockend, aber ich habe versucht, es zu vermeiden. Bin umgezogen und habe dadurch wundervolle Menschen kennengelernt, mit denen ich ein kleines (wenn auch sehr kaltes und manchmal klappriges) Juwel einer Wohnung teilte. Ich würde meine Palta-Girls nicht mehr missen wollen, die genau nachvollziehen konnten, in welchen Gedankenverwirrungen ich mich befand und darauf mit einem sehr grünen Basilikum-Pisco Sour anstießen. Ich habe tolle Schülerinnen und Lehrer*innen kennengelernt, die begeistert von der deutschen Sprache waren. Natürlich auch welche, bei denen die Beigeisterungsversuche nicht so anschlugen. Aber wer könnte es ihnen verübeln, wenn es bei jeder zweiten Grammatikeinheit heißt: „Da gibt es keine Regel, das ist einfach so.“ Ich habe mein Leben für ein halbes Jahr mit Menschen geteilt, die mir immer weniger fremd wurden und ein Teil meiner Erinnerungen bleiben werden.

Und außerdem ein undurchsichtiger Nebel, wo und wie es in Zukunft weitergehen würde: Maastricht? Freiburg? Oder doch kein ‚Liberal Arts and Sciences’?

Wer hätte es gedacht – ohne ein einziges Mal vorher in Maastricht aufzukreuzen, bin ich von Berlin mit einem riesigen Rucksack in Maastricht angekommen, mit dem Plan, hier die nächsten drei Jahre meines Lebens zu verbringen und etwas zu studieren, von dem ich selbst nicht so genau wußte, was es sein sollte. Trotz aller Komplikationen hat es geklappt. Ein kleines Zimmer in einem alten Haus, in dem sich das Laminat vom Boden hebt, wenn ich sauge. Eine kleine Fakultät, die sich schon ein bisschen wie zu Hause anfühlt, wenn ich dem vertrauten Rauschen der Rohre in der Bibliothek lausche. Eine kleine Stadt, der ich warme Gefühle entgegenbringe, die in mir in ihrer Enge und verwinkelten Eigenheit aber auch wieder das Fernweh keimen lässt. Einige vertraute Gesichter, die meins aufleuchten lassen, wenn ich sie sehe. Hier lässt es sich lernen und leben.

Im Rückblick wirst du wahrscheinlich verstehen: Ja, deshalb war ich hier.

Ich habe die Antwort nicht gefunden. Das ist, wie wenn einen jemand fragt: Was ist der Sinn des Lebens? Die meisten werden nicht in einem Satz antworten können, sondern haben eher so ein Gefühl. Wahrscheinlich irgendwas mit Liebe? Mit geben? Mit versuchen? Im Rückblick habe ich auch eher ein Gefühl. Etwas anderes als Europa zu sehen und dort zu leben. Unterhaltungen mit Menschen, die mir einen Einblick in ihre Lebensrealität gaben. Reisen zu können, mit Menschen die ich liebe. Und trotzdem immer noch das Bewusstsein, dass ich nur einen sehr begrenzten, sehr komfortablen Teil von Santiago und Chile gesehen habe.

Mir bleibt nur zu hoffen, dass du immer wieder dankbar bist (für Entwicklung auf Staatskosten…).

Muchas gracias por todo.

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