Chile got me like

Ich muss ehrlich sagen, dass ich Sätze wie „Während eines Auslandsjahres findet man sich selbst“ oder „Nach einem Jahr im Ausland weiß man, was man mit seinem Leben anfangen will“ immer für Floskeln gehalten haben. Klar, man macht viele Erfahrungen, die einen prägen und in gewisser Weise auch verändern. Aber man wacht doch nicht eines Tages auf und weiß plötzlich, was man studieren will oder wer man ist bzw. sein will. Allerdings muss ich zugeben, dass ich eines Besseren belehrt wurde. Ich weiß jetzt nicht nur was ich studieren will – und das hat absolut nichts mit meiner Arbeit hier zu tun – sondern ich merke selbst, dass ich mich tatsächlich verändert habe. Diese Erkenntnisse kamen zwar nicht über Nacht, aber sie kamen. Keine Frage, ich bin noch ich, aber ich habe mich entwickelt. Ich habe gelernt, Dinge auf mich zukommen zu lassen, Dinge zuzulassen, Dinge passieren zu lassen. Ich muss nicht immer vorher genau wissen und planen, wie alles ablaufen wird. In Chile ist das auch einfach gar nicht möglich, es kommt eh immer alles anders. Man kann auch mal andere machen lassen. Es muss nicht immer alles perfekt sein. Zwangsweise muss ich mich auf Dinge einfach einlassen und das tut mir gut. Das tut mir unglaublich gut. Das habe ich gebraucht.

Ich kann ehrlich und aufrichtig sagen, dass ich mit mir selbst zufrieden bin, mit mir selbst im Reinen. Ich weiß, was mir wichtig ist. Ich weiß, was mir gut tut. Ich weiß, wen ich um mich haben möchte. Auch das habe ich hier gelernt. Stress von außen ist nicht vermeidbar, sich selbst stressen jedoch schon. Jeder, der mich gut kennt bzw. vor meiner Chile-Zeit gut kannte, weiß, dass ich absoluter Meister im mich-selbst-stressen war. Bloß keine Verschnaufpause, so viel wie möglich vor haben, am besten immer unterwegs sein, ja nichts verpassen, überall dabei sein. Das tat mir nicht gut, das wusste ich auch, aber es war mir egal. Kopfschmerzen? Egal, muss ich halt durch, ich gehe trotzdem zum Sport. Und am besten danach noch mehr Pläne und direkt weiter. Das soll absolut nicht heißen, dass ich jetzt kein unternehmungsfreudiger und aktiver Mensch mehr bin, das ist nach wie vor das, was mich ausmacht, aber ich habe gelernt, auf meinen Körper zu hören, auf mich selbst zu hören, zu reflektieren. Wenns nicht geht, dann ist das halt so. Ich mache, was mir gut tut. Wie dumm war ich noch vor einem Jahr, das nicht zuzulassen. Umso stolzer bin ich jetzt, behaupten zu können, dass ich darin wirklich besser geworden. Nicht perfekt, aber besser. Ich bin despacito geworden. Danke, Chile. Noch vor einem Jahr habe ich es gehasst, Vormittage im Bett zu verbringen, ohne etwas Produktives zu tun, ich konnte das einfach nicht. Jetzt weiß ich, dass das manchmal einfach sein muss. Dass mir das gut tut. Solange ich am Ende des Tages trotzdem behaupten kann, im Laufe des Tages etwas geschafft zu haben. Nach wie vor achte ich diszipliniert darauf, was ich esse und dass ich genug Sport treibe, aber auch in der Hinsicht bin ich nicht mehr so krampfhaft. Stress von außen ist oft nicht vermeidbar, auch hier nicht. Und ich merke auch immer wieder, dass ich unter Stress produktiver und zielorientierter arbeiten kann. Aber Stress von innen ist vermeidbar.

Eine Sache treibt mich allerdings nach wie vor in den Wahnsinn, da hilft kein Despacito, kein Durchatmen oder was auch immer, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich das in den mir noch verbleibenden knapp vier Monaten ändern wird: langsamgehende Menschen. Nirgendwo auf der Welt gehen die Menschen so langsam wie in Chile, das Gefühl habe ich hier zumindest. Ja klar, das spiegelt die Mentalität wieder, die Ruhe, das Sich-nicht-stressen-lassen, die Entspanntheit. In gewisser Weise ein Gegenpol zur Hektik der 8-Millionen-Einwohner-Großstadt. Ich jedoch kriege tagtäglich wieder eine Krise, wenn Leute vor mir plötzlich einfach stehen bleiben oder gefühlt während des Gehens beinahe einschlafen. So gelassen bin ich dann wohl doch wieder nicht.

Noch etwas ist mir klar geworden, während meiner Zeit als Freiwillige. Nämlich wie wertvoll es ist, sich an kleinen Dingen zu erfreuen. Wie wenig tatsächlich reicht, um glücklich zu sein. Die richtigen Leute um einen herum, die strahlende Sonne, wenn man morgens die Gardinen aufmacht, der teure Ziegenkäse im Supermarkt im Angebot, strahlende Gesichter, wenn ich den Klassenraum betrete. Solche Dinge reichen. Ich bin froh, dass mir solche Dinge reichen. Ich bin froh, gelernt zu haben, mich an kleinen Dingen zu erfreuen.

Es sind mittlerweile weniger als vier Monate bis zu meiner Heimreise. 7 Wochen arbeite ich noch an meiner Schule, dann sind Sommerferien. Ich muss ehrlich sagen, die Arbeit erfüllt mich nicht, ich möchte nach wie vor keine Lehrerin werden und meine Aufgaben fordern mich nicht. Trotzdem könnte ich nicht dankbarer sein für die Möglichkeiten, die die Arbeit an der Schule mir bietet. Für mein Verhältnis zu den Lehrerinnen und vor allem zu den Schülern. Ich gebe und bekomme dafür so viel mehr zurück. Bestätigung, Dankbarkeit, Liebenswürdigkeit. Letzte Woche haben wir eine „Deutsche Woche“ an der Schule durchgeführt, die ich mit organisiert, vorbereitet und begleitet habe. Wir haben viele verschiedene Workshops, Projekte und Präsentationen vorbereitet, die bei den Schülern super ankamen und ein voller Erfolg waren. So ein Feedback macht allen damit verbunden Stress wieder wett. Ich werde geschätzt für meine „buena onda“ und ein schöneres Kompliment könnte man mir nicht machen.

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