Halbzeit

12.3.2019

Ein sehr herzliches Hallo an jeden, der sich nach fast drei Monaten der Funkstille noch für ein Lebenszeichen aus dem warmen, lebensfrohen und chaotischen Barranquilla interessiert!

Am Ende des letzten Eintrages habe ich über meine bevorstehende Reise nach Medellin gesprochen. Unglaublich! Das fühlt sich schon so lange her an, nun drei Monate sind ja auch nicht nichts!
Eine exakte chronologische Aufarbeitung der Ereignisse seitdem ist mir nicht nur durch ihren Umfang, sondern insbesondere durch das Vergessen einzelner Teilaspekte gar nicht mehr möglich. Dementsprechend wird dieser Eintrag nach inzwischen genau 6 Monaten Kolumbien(!) etwas anders aussehen als die Vorigen.

Beginnen tue ich mit einer recht knappen Zusammenfassung der Geschehnisse, die mich seit meinem letzten Eintrag ereilt haben.

Medellin: Diese etwa fünf Millionen-Einwohner-Stadt erweckte des Häufigeren in mir den Eindruck, dass ich in einem anderen Land gelandet war.
Es ist eine Stadt des Aufbruches, die ihre Vergangenheit als eine der gefährlichsten Städte der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts eindeutig hinter sich gelassen hat.
Nun ja, perfekt ist dort sicherlich lange nicht alles und dieses Narrativ einer neuen Epoche in der Stadt, wie es einem jeden Touristen präsentiert wird, täuscht sicherlich über einiges hinweg, was man in nur zwei Wochen von der Stadt nicht sieht. Aber nichts desto trotz stellt die Stadt des ewigen Frühlings, die unter anderem die einzige Metro Kolumbiens besitzt, ein wirkliches schönes Reiseziel da.
Durch Sprach- und Tanzkurs und die vielen anderen Kulturangebote der Sprachschule konnte ich den zwei Wochen ein sehr vielseitiges Bild der Stadt kennen lernen. Insbesondere da ich über Weihnachten, Neujahr und meinen Geburtstag dort war, habe ich dort so manchen herrlichen Moment in ganz besonderer Atmosphäre erlebt.
Mit anderen Kulturweit-Freiwilligen bin ich zu einigen sehr schönen Ausflugszielen in der Umgebung der Stadt gefahren. Mein Highlight der gesamten Zeit war sicherlich das kleine und sehr ruhige Jardin, welches mitten in der Kaffeeregion liegt. Es tat sehr gut, etwas ruhige Zeit außerhalb des Großstadttrubels von Medellin und Barranquilla zu verbringen.
Nach meiner Zeit in Medellin habe ich noch eine kurze Reise in die Sierra Nevada de Santa Marta gemacht, wo ich einige weitere ruhige Tage in der Natur verbringen konnte.
Seitdem bin ich wieder in der Schule tätig. Meine Aufgaben haben sich nicht großartig geändert. Mein Musikprojekt hat jetzt doch “nur” den Umfang eines Stückes für das Orchester. Das Komponieren von über fünf Minuten Musik für ein ganz spezifisches (Schul-)Orchester mit begrenzten Fähigkeiten hat sich allerdings tatsächlich als eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe entpuppt. Es wird sicherlich spannend, meine Musik zum ersten Mal live zu hören und dabei aktiv durch Proben und Adaptionen noch etwas verändern zu können. Noch hat dieser Prozess nicht angefangen, schließlich ist das Konzert auch erst im Juni.
Etwas unerfreulich war, dass ich sehr spontan in der letzten Woche umziehen musste. Aber dank örtlicher Kontakte habe ich zum Glück sehr schnell Lösungen zur Hand gehabt.

Ein ganz besonderes Event meiner Zeit liegt jetzt unmittelbar hinter mir, nämlich der Karneval. Er gilt als das absolute Highlight der Stadt: UNESCO-Weltkulturerbe, der zweit Größte der Welt und von den Bewohnern der Stadt das ganze Jahr sehnsüchtig erwartet. Naja, zumindest von einem gewissen Teil der Einwohner, ein nicht unerheblicher Teil nutzt nämlich die freien Tage, um dem Lärm der Stadt zu entkommen und sich woanders eine schöne Zeit zu machen.
In der Stadt wird vor allem Musik gemacht und getanzt. Selbstverständlich gibt es an jedem der vier Hauptkarnevalstage mehrere große Umzüge und ausgelassene Feiern, bei denen man allerdings leider auch schnell zum Taschendiebstahlsopfer wird, wie ich es von vielen Leuten leider hören musste.
Die Musik und der Tanz sind wirklich etwas Besonderes. Von klein auf tanzen die meisten Barranquilleros/as in ihren Familien und lernen die klassischen Musikrichtungen der Region kennen. Auch wenn ich einige Tanzstunden in Barranquilla genommen habe, bleibe ich da doch im Vergleich immer noch der dumme Deutsche, der versucht seinen steifen Glieder in Bewegung zu versetzen. Aber zumindest der gut gemeinte Versuch kommt bei vielen Leuten schon sehr gut an.
Es ist ein wunderbares Gefühl, sich gemeinsam (und das heißt in Paaren und Gruppen) zur flotten Musik zu bewegen. Es ist vor allem etwas Einzigartiges. Viele der Lieder tragen Barranquilla im Namen und werden in dieser Form nur hier gespielt. Auch besonders ist, dass diese Musik quasi durch alle Generationen hindurch Anklang findet. Wenn ich da an meine örtlichen Diskotheken in Herford denke, ist das schon etwas ganz anderes. Im Radio in Deutschland ist ein Großteil der Musik aus dem englisch sprachigen Raum und das, was aus Deutschland stammt, ist zum Großteil dem Mainstream sehr ähnlich. Damit will ich nicht sagen, dass mir diese Musik nicht auch gefällt, aber es ist gerade deshalb etwas Spannendes zu hören, dass es auch ganz andere Richtungen gibt.
Die Musik hier ist zudem zutiefst von anderen Kulturen der ganzen Welt beeinflusst und bildet daraus ihren ganz eigenen individuellen Mix. So benutzt man in Barranquilla neben afrikanischen Trommeln auch Akkordeons, die, wer hätte es gedacht, aus Deutschland stammen.
Es ist vor allem diese unglaubliche Diversität, die mir von der Hafenstadt Barranquilla aber auch von Kolumbien insgesamt im Kopf bleiben wird: Geographisch, ethnisch, kulturell, ökonomisch und in vielen weiteren Bereichen ist Kolumbien derartig vielseitig, dass man sich schon ab und an wundert, dass das alles zu einem einzigen Land gehört. Es ist eine überaus interessante Erfahrung, wenn man daran denkt, wie viele Schwierigkeiten eine nicht unerhebliche Zahl von Einwohnern des überschaubaren Europas mit neuen kulturellen Einflüssen haben.

Allerdings gibt es auch Spannungen:
Die wirtschaftliche Ungleichheit in Kolumbien ist sehr hoch (es verhungern in manchen Regionen noch immer Menschen), die Korruption gilt als eines der größten Probleme des Landes und die über eine Million Venezolaner im Land werden und können sicherlich auch nicht durch umfassende soziale Sicherungsmaßnahmen aufgenommen, wie es in Deutschland der Fall ist, was zu einer Menge verzweifelter Menschen auf den Straßen führt. Berichte wie aus der Tagesschau beschäftigen sich vor allem mit der innenpolitischen Lage in Venezuela und die außenpolitischen Einflüsse auf das Land. Die humanitäre Not der Flüchtlinge außerhalb des Landes scheint nur im begrenzten Maße adressiert zu werden.

Politik, Geschichte und Kultur des Landes sind für mich sehr schwer zu fassen. Ohnehin sind diese Bereiche in jeder Gesellschaft außerordentlich komplex, allerdings macht die Größe des Landes, seine Diversität und natürlich die immer noch bestehende Sprachbarriere jeden tiefer gehenden und umfassenderen Eindruck sehr schwierig.

Dennoch scheinen all die neuen Erfahrungen schon zum jetzigen Zeitpunkt außerordentlich wertvoll. Ich reflektiere viel und denke noch immer über eine Menge unterschiedlicher Themen nach. Ich bin sehr dankbar, die Gelegenheit dafür zu haben, ganz abseits größerer Verpflichtungen durch Prüfungen oder Geldsorgen. Ob im Cafe, an meinem Schreibtisch oder auf Reisen; immer wieder bietet sich mir die Gelegenheit in Ruhe an einem Musikstück zu arbeiten, Texte zu verfassen oder ein Buch zu lesen.
Einheimische Freunde, tolle Erfahrungen und die Aussicht, dass meine Familie mich in den kommenden Wochen besuchen wird, tuen das Übrige, sodass ich weiterhin vor allem in guter Stimmung verweile.

Ich bin gespannt auf das, was mir noch bevorsteht und blicke mit gelassenem aber auch überaus freudigem Blick auf meine nicht mehr allzu fern scheinende Heimkehr nach Deutschland!

Liebe Grüße

Jan