12.11.19 – Schneetreiben – Prosa aus dem Freiwilligendienst

Ich hab meinen Nachmittag heute mal ein wenig prosaisch aufgearbeitet. Ein second Draft, nicht sonderlich überarbeitet. – 12.11.2019 (23:30) Zugehörige Fotos gibt es in einem zweiten Beitrag. Kombination Bilder + Prosa möglich aber nicht obligatorisch

Er war die Treppe des Hauses mit geschlossenen Augen hinaufgegangen. Die Hand am Geländer, die Schritte vorsichtig setzend und trotzdem häufig ins Leere tretend. Er wusste nicht mehr, ob er sich etwas hatte beweisen wollen, oder ob er einfach zu faul gewesen war, die Augen nach dem Blinzeln wieder aufzumachen.
Als er glaubte, sein Stockwerk erreicht zu haben, tastete er sich zur Tür durch und stellte fest, dass der Schlüssel zwar passte, sich aber nicht drehen lies. Das war vorher noch nicht vorgekommen. Er öffnete die Augen.
Als er die Tür schließlich offen hatte, nahm er kurz davon Notiz, dass seine Schlüssel zwar für jeweils beide Schlösser passten, aber sich nur in einem drehen ließen.
Dann öfnete sich die Tür und Licht strahlte ihm entgegen.
Es war so golden, dass er kurz dachte: Ein Feuer?
Dann verscheuchte der rationalere Gedanke den irrationalen: Du hast bestimmt das Licht angelassen.
Aber auch dieser Gedanke war irrational, denn er war sich sicher, das Licht ausgemacht zu haben.
Als die Tür weit genug geöffnet war, dass er die Quelle des Lichtes sehen konnte, kniff er kurz geblendet die Augen zusammen.
Die Abendsonne warf ihre letzten Strahlen über Betongebäude und zwischen ihnen gespannten Kabeln hindurch durch schmutzige Fensterscheiben.
Die Szenerie büßte durch dieses malerische Licht nichts an ihrer Charakteristik ein. Sie blieb die Betonkulisse, die ihn häufig an einen Ort erinnerte, in dem er sich postapokalyptische Szenen vorstellte.
Seit gestern war diese Kulisse von Schnee bedeckt, der die Farben zu verschlucken schien. Graublauer Himmel, Weißer Schnee, Grau Gebäude. Die Welt dort vor dem Fenster sah farblos aus.
Als er durch den knirschenden Schnee zum Geldautomaten stapfte, war das gelbe Licht der Abendsonne durch das gelbe Licht der Straßenlaternen ersetzt worden.
Er hatte das Gefühlgeräusch von knirschendem Schnee schon immer nicht gemocht. Jetzt erschien es ihm merkwürdig passend.
Die neuen Stiefel waren zwar warm aber sehr schwer.
In der Atemmaske war es Feucht und warm und wenn er sich ablenkte, konnte er fast vergessen, dass er sie trug.
Die Luft biss in jedes Fitzelchen Haut, das nicht bedeckt war und schlich sich in schneidendem Wind in die Ritze zwischen Mütze und Wollkragen.

Die Betonlandschaft, der Schnee, die Kälte, die Stiefel, die Maske, all das kam ihm vor, als hätte es ihn wirklich in eine Zeit nach der Apokalypse verschlagen. Unter diesem Gesichtspunkt wirkten selbst die Menschen unwirklich, die ihm entgegen kamen. Sie waren auch nicht präsent. Sie achteten nicht auf ihn, er achtete nicht auf sie. Ihre schwarzen Jacken ließen sie im gelben Licht der Laternen zu einer nicht zu unterscheidenden Masse verschmelzen.
Viele, oder einer.
Oder keiner.
Er stellte sich vor, er wäre wirklich allein. Seine Spuren die einzigen, die im Schnee hinter ihm zurückblieben.
Er stellte sich vor, er hätte wirklich sein ganzes Haus im Rucksack, wie alle immer witzelten.
Er stellte sich vor, er sei schon seit Wochen, Monaten, Jahren unterwegs.

Er betrat einen Platz, auf dem das Geräusch der Schneeschipper sich laut und kratzend den Weg in sein Bewusstsein bahnte. Er war immer noch in Ulanbator. Es gab keine Apokalypse. Die Neonreklamen an den Geschäften funktionierten. Die Menschen die da Schnee schippten waren real. Es war der 12. November. In der Gegenwart.
Die Stiefel und die Maske waren trotzdem notwendig. Und er war trotzdem allein.

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