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Colombia the Beautiful #3 Sierra Nevada del Cocuy

Noch im Halbschlaf steigen wir aus unserem Nachtbus aus. Es ist erst 6 Uhr morgens, Sonntag, und dementsprechend verschlafen empfängt uns El Cocuy mit Kälte und kleinen, leeren Strassenzügen aus weissen Häusern mit Sockeln in Einheitstürkisgrün. Nur ein einzelner Mann eilt schon putzmunter zu dieser frühen Stunde auf uns zu. Er hat seine Chance gewidmet: blonde Haare, grosser Rucksack, das sind doch bestimmt Touristen, die ihre nächsten Tage in den Bergen, im Parque Nacional El Cocuy verbringen wollen. Er liegt richtig. Dankbar sind wir dafür, von ihm eine kleine Einführung in die Sierra Nevada, die örtlichen, schneegekrönten Berge, zu erhalten. Das geht am Besten natürlich am riesigen Modell, das den Hauptplatz des Dorfes schmückt. Wie erwartet ist es noch immer nicht möglich, nachts innerhalb des Nationalparks zu bleiben. Nach monatelanger kompletter Schliessung sind wir froh, überhaupt dieses kolumbianische Höhenparadies betreten zu dürfen. Die Gründe der Schliessung bleiben nicht ganz klar. Laut Regierung war es ein Konflikt mit der lokalen Bevölkerung, die im Park leben, vor Ort hören wir die Theorie, dass vielleicht doch illegale Gruppierungen verwickelt sind, die auf ihren Routen das Nationalparkgebiet passieren.

Eindeutig hingegen: es heisst Adios, Zeltplätze mit Gletscherblick. Vielleicht ist es aber auch ganz gut, am Ende jeder Wanderung wieder auf etwas sauerstoffreichere Höhen abzusteigen. Denn wir dürfen uns trotzdem auf zwei Tagestouren freuen, die bis auf 4900 Meter hochführen. Doch erstmal ist ein Bisschen Schlaf nachzuholen, der im Nachtbus ein wenig kurz kam, und den restlichen Tag wenigstens schon einmal zur Akklimatisierung auf 2700 Metern zu nutzen.

Denn schon am nächsten Tag geht es los, noch vor vier stehen wir auf. Währen die Sonne langsam aufgeht, hoppeln wir 2 Stunden im Jeep über die unbefestigten Gebirgsstrassen, bis hin zu einer Berghütte, wo wir loslaufen und auch die nächste Nacht verbringen können. Unser Ziel des Tages lautet El Blanco, der Weisse, ein sehr passender Name für einen riesigen Gletscher. Seit der Wiedereröffnung des Parks ist das Wandern ohne Guide nicht mehr möglich, und so leitet uns ein netter Einheimischer aus El Cocuy namens Yamid sicher durch die noch vom Morgennebel verschleierte Paramo-Landschaft.

Frailejones, die wunderschönen Anden-endemischen Sukkulenten, säumen unseren Weg. Mit zunehmender Höhe wird dieser zunehmend karg, aber bleibt konstant schön. Aussichten belohnen die Anstrengung und Arbeit, die mehr Lunge und Herz als tatsächlich die Beine zu leisten scheinen, denn die Luft wird dünner. Und plötzlich fängt es auch noch der für Kolumbien untypischste Niederschlag an: tatsächlich schneit es. Leider wird dieses Bisschen Schnee nie das zu kompensieren schaffen, was dem Gletscher oben schon an Grösse fehlt. Weggeschmolzen ist ein Grossteil der einstigen Eisflaeche von El Blanco und hat ein rotes, abgeschliffenes Gestein hinterlassen, was allen Besuchern die Folgen der Erderwärmung drastisch verdeutlicht.

Hinunter geht es deutlich schneller als hinauf, zumal uns eine gemütliche Berghütte mit der Aussicht auf eine warme Dusche, ein Feuer im Kamin und heissem agua de panela lockt. Letzteres besteht, wie der Name schon vermuten lässt, aus zwei blossen Zutaten: Wasser und Panela, einer aus Zuckerrohrsaft gekochten und anschliessend getrockneten Masse. Es gibt nichts besseres!

Auch am nächsten Tag geht es wieder hoch hinauf, bis zur grossen Lagune der Sierra Nevada, die von begletscherten Gipfeln und schroffen Felsformationen umgeben ist. Die Mittagspause legen wir direkt am Fusse des Grössten der Gletscher ein. Trotz vor Kaelte tauber Finger lohnt sich der Picknickplatz, denn mit Blick auf Eismassen schmeckt ein Avocado-Brot gleich doppelt so gut. Die Laune auf dem Rückweg kann uns noch nicht einmal das Einsetzen eines ergiebigen Regens verderben. Denn die Paramos Kolumbiens haben nicht umsonst den Beinamen „Fuentes de agua“, Wasserquellen, sondern speichern und distribuieren das wertvolle Regenwasser unglaublich gut. Nur 1,7% der Fläche Kolumbiens ist von Paramos bedeckt, dennoch entstammen aus ihnen beeindruckende 85% des im Land vorhandenen Trinkwassers. Ein vom ganzen Land sehr willkommener Regen also.

Am dritten Tag sind wir zurück im Dörfchen und treffen durch Zufall auf unseren Guide. Er freut sich und lädt uns gleich zu einer kleinen Dorftour ein. Bei strahlendem Sonnenschein schlendern wir die ehemalige Hauptstrasse entlang, die heute erholsam ruhig ist.
Kartoffeln, die aus der Region Boyacá in viele viele Teile Kolumbiens exportiert werden, liegen in grossen Säcken vor einer der vielen helltürkis gestrichenen Türen. Ein Motiv wie für die Postkarte.

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Mehr Fotos von Dorf & Bergen findet ihr hier

Ein Bisschen Klassik

Über ein halbes Jahr durfte ich im Orchester der Universidad Central Bogotá als Gast mitspielen. Das hieß: mit dem Cello quer durch Bogotá bis ins Zentrum, zweimal in der Woche 3 Stunden Probe, neue und bereits bekannte Orchestermusik, ein Konzert alle zwei Monate, aber vor Allem neue Kontakte zu 60 Musikstudent*innen, die sich mit der Zeit izu guten Freundschaften weiterentwickelten. Jede Woche wieder im schönsten Konzertsaal, in dem ich bisher auf regelmässiger Basis proben durfte. Teppichbedeckt, moderne Architektur, weiträumig, sehr gute Akustik. Besonders mit den 4 anderen Cellistinnen verstand ich mich von Anfang an bestens. Umso mehr Spaß machte es, Stücke wie Beethovens erste Sinfonie, Tchaikovskys Slawischen Tanz oder Mozarts Zauberflötenouvertüre zu spielen, aber auch Tolú, im Ursprung bekannt durch den kolumbianischen Cumbiakomponisten und -interpreten Lucho Bermúdez und später für sinfonisches Orchester adaptiert.

Es ist kurz vor den Semesterferien und das Orchesterjahr endet mit zwei Highlights. Zum Einen verleiht die Universidad Central einen Ehrendoktor an Humberto de la Calle- einen kolumbianischen Anwalt und Politiker, der Verhandlungsführer auf Seiten der Regierung bei den Friedengesprächen mit der FARC in Havanna war. Wir dürfen die Zeremonie musikalisch mit Händel umrahmen.

Zum anderen findet die erste große interuniversitäre Chor- und Orchesterbegegnung statt. Für uns bedeutet das, zusammen mit dem Orchester der Universidad Distrital in einem der bedeutendsten Säle Bogotás ein Konzert geben zu dürfen: im Auditorium „Leon de Greiff“ der Universidad Nacional. Erst spielt das eine Orchester, dann das andere und am Ende vereinen wir uns, um Tchaikovsky und Bermúdez mit noch grösserer Klangfülle zu spielen.

Am Sonntag folgt dann das grosse Abschlusskonzert des Treffens. Dazu waren alle Musiker*innen der teilnehmenden Orchester eingeladen, mit den Student*innen der Universidad Nacional mitzuspielen. Die Nacho, wie die Uni kurz genannt wird, ist national in vielen Fachbereichen führend. Auch die Musikfakultät ist die beste des Landes, was man am Niveau der einzelnen Student*innen und auch am Gesamtorchesterklang klar merkt. Eine Ehre also, für ein Konzert einmal mit diesem Orchester spielen zu dürfen.

Auf dem Programm stehem die Estancia-Suite von Ginastera und Beethovens Chorfantasie. Wir spielen das Konzert vor ausverkauftem Saal. Der Klaviersolist, durch einen interuniversitären Wettbewerb ausgewählt, spielt makellos und wunderbar musikalisch. Die Gesangssolisten leiten mit Ausdrucksstärke hin zum majestätischen Finale, das besonders durch den Einsatz des Chores an unglaublicher Grösse gewinnt. Ich sitze mit Gänsehaut auf der Bühne, tausche ein zufriedenes Lächeln mit meinem lieben Pultnachbarn aus und bin gleichzeitig ein Bisschen traurig, dass dies mein letztes Konzert in Kolumbien sein wird.

Frag doch mal in Kolumbien #2: Bildung, Arbeit, Chancen

 

Für Runde Nummer zwei in unserer weltweiten Interview-Aktion durfte ich ein Interview mit einem Deutschlehrer meiner Schule machen. Er heißt Camilo und unterrichtet seit fast einem Jahr am SCALAS. Er schildert uns seine Meinung über das kolumbianische Bildungssystem und einige andere Aspekte. 

Unser Thema für den Monat Mai ist Bildung, Arbeit, Chancen. Camilo, du bist Deutschlehrer. Wie bist du zu diesem Beruf gekommen? Wie war deine akademische Laufbahn?

Also, zuerst habe ich die Schule beendet und mich danach bei der Universität beworben. In Kolumbien gibt es einige öffentliche Universitäten, aber es ist schwierig, dort einen Studienplatz zu bekommen. Deswegen gibt es an einigen Aufnahmeprüfungen, um zu zeigen, dass man über das geforderte Niveau verfügt, um dort studieren zu können. Ich habe also diese Prüfung abgelegt und danach mein Studium begonnen, genauer gesagt in Philologie, in Germanistik.

 

Du hast die öffentlichen Universitäten erwähnt. Welche Unterschiede gibt es zwischen den öffentlichen und den privaten Universitäten? Von welchem Typ gibt es mehr?

In Kolumbien gibt es viel mehr private Universitäten. Öffentliche gibt es nur ein paar wenige, in Bogotá zum Beispiel sind es drei. Der Hauptunterschied ist, dass die öffentlichen Unis meist einen sehr guten Ruf haben. Die privaten sind teuer und ja, es gibt ebenfalls ein paar sehr gute, aber auch andere, die nicht so gut sind.

 

Denkst du, dass mit der Bildung in Kolumbien ein Geschäft gemacht wird?

Ja, ich persönlich denke das. Es fällt einem besonders auf, wenn man die vielen Institute sieht, die mal ganz klein angefangen haben, aber heutzutage Universitäten sind. Sie bieten eine Option für monatliche Raten an, es ist also, als würdest du einen Kredit abbezahlen.
Das hängt auch damit zusammen, dass die Leute die Wahrnehmung haben, dass Bildung der Weg ist, um später ein besseres Gehalt und ein besseres Leben zu haben. Deswegen gibt es viele Institutionen, die private Bildung anbieten, natürlich gegen Bezahlung, und leider nur wenige öffentliche Einrichtungen. Die Leute suchen Zugänge zur Bildung, es gibt eine hohe Nachfrage. Dementsprechend werden genau diese privaten Angebote kreiert. Ich denke, dass es so nicht sein sollte, aber so ist es nun einmal. Bildung wird wie ein Geschäft in Kolumbien gesehen, oder ist es sogar.

 

Das heißt also, dass es leichter ist, für jemanden mit viel Geld Zugang zu einer guten Bildung zu erhalten?

Ja. Eine der besten Universitäten Kolumbiens ist sehr sehr teuer, die Universidad de los Andes. Sie hat eine wirklich gute Qualität, aber nicht jeder kann es sich leisten, dort zu studieren. Natürlich gibt es Stipendien und Optionen, damit Leute mit geringen finanziellen Mitteln dort studieren können, aber sie sind sehr knapp. Generell ist die Bildung, die den Leuten leichter zugänglich ist, oftmals von nicht so guter Qualität.

 

Welche Unterschiede gibt es zwischen deiner akademischen Laufbahn und der von deinen Eltern oder Großeltern? Hat sich viel verändert?

Ja. In früheren Generationen dachten die Leute, dass man es im Leben wirklich zu etwas gebracht hat, wenn man es zur Universität geschafft hat oder einen akademischen Abschluss hat. Es war etwas besonderes. Die Eltern von vielen meiner Bekannten sind nicht zur Universität gegangen. In den meisten Fällen machte man nur die Schule fertig und suchte sich danach eine Arbeit. Bei meinen Eltern hatte sich das dann schon etwas gewandelt. Sie haben zwar selbst auch nur das Bachillerato (wie deutsches Abitur) gemacht, aber es war auch wegen ihnen, dass ich an die Universität gegangen bin. Es galt schon der Konsens, dass man für eine bessere Lebensqualität am Besten einen Universitätsabschluss macht.

 

Welches sind momentan in Kolumbien die Berufe mit den besten Perspektiven?

Kolumbien ist ein Land, was sich sehr auf Industrie konzentriert. Landwirtschaft war schon immer weit verbreitet, aber die Industrie ist in den letzten Jahrzehnten am Wichtigsten geworden. Deswegen werden viele Ingenieure gesucht. Sie haben mehr Einsatzbereiche und es geht ihnen viel besser im Vergleich zu Studierten aus anderen Bereichen, wie zum Beispiel den Geisteswissenschaften.

 

Von internationaler Perspektive aus gesehen, was denkst du? Gibt es viele Leute, die Kolumbien verlassen für Arbeit, für bessere oder auch einfach andere Möglichkeiten? Gibt es viele Ausländer, die nach Kolumbien kommen, um zu arbeiten?

Heutzutage ist die Welt viel stärker verbunden als früher. Die Leute merken, dass es in viele andere Möglichkeiten gibt für Studium und Beruf in anderen Ländern. Kolumbien hat sein Bild in der Welt auch verändert. Es ist jetzt nicht mehr das Land mit Gewalt, sondern ein Land zum Entdecken. Das ist sehr positiv. Es gehen viele Kolumbianer ins Ausland. Viele Menschen denken, dass ins Ausland zu gehen, sei es für Studium, Beruf oder Leben, bedeutet, die Lebensqualität zu verbessern. Und Ausländer in Kolumbien: ja, dank des neuen Gesichts, was Kolumbien der Welt zeigt, gibt es auch viel mehr Leute, die zum Studieren oder Arbeiten hierher kommen. Es ist sehr interessant.

 

Bogota in Bewegung #2: Zweimal Fahrrad

Fahrrad fahren in Bogotá

Für meinen Schulweg bin ich weder auf normalen Bus noch auf TransMilenio angewiesen. Voller Freude über diese entspannte Unabhängigkeit schiebe ich jeden Morgen wieder um kurz nach sechs mein kleines blaues Fahrrad aus der Haustür heraus auf die noch kaum belebte Straße. Es geht direkt los, ohne langwierige Wartezeit an einer Haltestelle auf einen Bus, der entweder wirklich überhaupt keinen festen Fahrplan hat oder einen, der nirgendwo ersichtlich ist und auch gern mal missachtet wird.

Meine tägliche Fahrradroutine teile ich mit vielen anderen Bogotanos. Uns vereinen nicht nur die gemeinsam genutzten Fahrradwege, von denen es in Bogotá wirklich eine beeindruckende Menge gibt, sondern auch gewisse Muster im Fahrverhalten. Die üblichen Hindernisse werden geschickt umfahren oder unschädlich gemacht: durch die große Pfütze mit voller Geschwindigkeit durch, rechtzeitig die Füße von den Pedalen hochgenommen und schon bleibt man trockenen Fußes. Manche Fahrradampeln müssen nicht immer unbedingt grün sein, damit man es unbeschadet über die Straße schaffen kann. Man lernt hier außerdem schnell alle offenstehenden Möglichkeiten des Überholens, um sein eigenes Vorankommen nicht von langsameren Radlern einschränken zu lassen. Links kann überholt werden, klar, denn die Fahrradwege sind eigentlich fast immer zweispurig. Aber gegen rechts ist eigentlich auch nichts einzuwenden, und links geht das Überholmanöver im Notfall auch mal dreispurig. Ein jeder fahre, so schnell er kann, und so sicher wie nötig.
Doch Achtung ist geboten: denn nicht selten würde man mit einer riskanten Aktion nicht nur sich selbst und eine weitere Person auf dem anderen Fahrrad gefährden, sondern gleich 2 oder 3. Denn Fahrräder können durchaus auch als Transportmittel für (fast) die ganze Familie gleichzeitig dienen. Auf meinem Weg zur Schule begegne ich fast jeden Tag Müttern und Vätern, die ihr Kind so zur Schule bringen. Das Kind sitzt dafür entweder auf dem Gepäckträger, die oft auch schon mit aufgebautem Sitz daherkommen, oder vorne auf dem Rahmen.

Manchmal begegnet man auch einer ganz speziellen Dreierkombination: der Vater auf dem Sattel, in die Pedale tretend, mit einer Hand am Lenker, die Mutter seitlich auf der Stange sitzend und das Kind noch oben drauf, entweder auf dem Schoß der Mutter sitzend oder tatsächlich stehend auf dem Rahmen. In letzterem Fall wird es dann noch vom Vater mit einer Hand festgehalten, und der Lenker mit Bremse bekommt nur noch die andere Hand ab. So riskant wie es klingt, ist es auch.

Zum Glück kann ich aber mindestens ebenso viele Kinder beobachten, die stolz schon auf ihrem eigenen kleinen Fahrrad mit Stützrädern durch die Gegend brausen, gefolgt von einem radelnden Elternteil.

 

Die Ciclovía

Wenn jemand allerdings Bogotas größte Vielfalt an Fahrrädern und ihren verschiedensten Fahrern erleben will, dann lautet die richtige Adresse Ciclovia. Bogotá ist international bekannt als absolute Fahrradstadt, insbesondere für eben genau diese geniale Intiative, die schon seit 1976 das sonn- und feiertägliche Stadtleben prägt. Viele große Hauptverkehrsstraßen werden an diesen Tagen von 7 Uhr morgens bis 2 Uhr mittags für Autos gesperrt und in die Hände von Radlern, Skatern und Läufern gelegt.

Es ist Sonntagmorgen und ich bin zu einem Matineekonzert einiger Cellofreundinnen in die Universidad Javeriana eingeladen. Die Sonne erhellt den Himmel und ich mache mich mit großer Vorfreude auf den Weg, denn dieser wird mich nach 10 Minuten Fahrradweg danach für 40 Minuten über zwei paradiesisch breite Fahrradstraßen der Ciclovía führen. Ich bin bei Weitem nicht die einzige, je näher ich dem Stadtzentrum komme, desto mehr und mehr Menschen begeben sich in die abgesperrte Hauptstraße. Zu voll wird es trotzdem nicht, ein Gefühl von Gemeinschaft und Volksfeststimmung entsteht hingegen schon. Für Viele ist die Ciclovía Tradition fast schon ein fester Bestandteil der Wochenroutine. Es ist die perfekte Mischung aus Vorankommen und Fahrvergnügen, aus Sport und Genießen.

Mein Weg führt mich an offiziellen Ciclovía-Ständen vorbei, die hungrigen Radlern Früchte, Säfte und Snacks anbieten. Gleich daneben ein kleines Zelt mit Fahrradservice, damit selbst ein platter Reifen die Weiterfahrt nicht lange verhindert. Fast 20 Minuten fahre ich, ohne einer einzigen Ampel zu begegnen. Das nenne ich freie Fahrt.

Nebenbei habe ich Zeit, um mein Umfeld genau unter die Lupe zu nehmen. Es ist eine bunte Mischung. Fahrräder in allen Farben, allen Formen, allen Preisklassen. Rennfahrer mit professionellen Rennrädern und passendem Outfit. Jungs, die auf Fahrrädern ohne Gangschaltung aber mit viel Energie durch die Gegend strampeln. Familien, deren jüngstes Kind gerade erst Fahrrad fahren lernt, während die älteren die Eltern schon abhängen. Ein Typ, der ohne Hemd auf einem grell türkisgrünen Fahrrad an mir vorbeifährt. Eine Gruppe Mädchen mit Inline Skates. Ein Pärchen, das am Rand mit Hund spazieren geht. Auf dem Seitenstreifen wird ein Junge nach einem Sturz von einem Sanitäter verarztet. Die Ciclovía-Sanitäter benutzen ebenfalls das obligatorische Fortbewegungsmittel und treten kräftig in die Pedale, um dorthin zu kommen, wo sie gebraucht werden. Die nach langer Zeit erste Ampel  wird rot, als ich mich ihr nähere. Zusammen mit 20 anderen Personen warten wir hinter einem Absperrband, dass von einem Ciclovía-Helfer vorsorglich bei jedem Rot hochgehalten wird. So kommen alle sicher selbst über die gefährlichste Kreuzung. Danach geht es weiter, durch das Stadtzentrum hindurch, vorbei am Nationalmuseum, an den Glaspalästen der Banken, an kleinen und großen Häusern, bis direkt vor das Eingangstor der Universität. Ein echter Fahrradfahr-Luxus, von dem sich viele europäische Großstädte ruhig inspirieren lassen könnten.

Noch während ich mein Fahrrad auf dem Campus anschließe, freue ich mich schon wieder auf die Rückfahrt und darauf, noch mehr verschiedenste Menschen auf der Ciclovía zu beobachten.

Bogotá in Bewegung #1 TransMilenio, Bogotás Bussystem

Der TransMilenio füllt sich. Ich habe mir einen der guten Stehplätze sichern können, mein Cello neben mir sicher in der Ecke. Das Gedränge ist schon jetzt, um 4 Uhr nachmittags, ziemlich beeindruckend. Der Bus hält an einer Station, die Tür öffnet sich, wie sie es eigentlich immer sollte: zweifach. Zum Einen die Bustür selbst, zum Anderen die automatische Glasschiebetür der TransMilenio-Station, vor der sie hält. “Eigentlich immer sollte” an dieser Stelle, weil die eben erwähnte Tür der Station nicht immer Lust auf ihre Pflicht zu haben scheint. Das hat dann zur Konsequenz, dass alle gemeinschaftlich und mit vereinten Kräften in den Kampf gegen die Automatik eintreten und sogar ein paar Fahrgäste aus dem Bus heraushüpfen, um hilfsbereit den Leuten mit Einsteigewunsch die Glastür aufzuschieben. Spontanes Teamwork im öffentlichen Raum.

Doch gerade ist das zum Glück nicht nötig. Eine Frau bahnt sich hektisch den Weg durch das Meer aus Menschen und Rucksäcken. Die Zeit zum Aussteigen ist knapp und die Strecke bis zur Tür zurückzulegen scheint oftmals unmöglich. Wenn ich für meine Orchesterprobe nicht glücklicherweise an der Endhaltestelle der Linie aussteigen müsste, könnte ich es vermutlich nicht wagen, TransMilenio zu fahren. Allein die Vorstellung, auch noch ein Cello unter Zeitdruck durch die Massen zu bewegen, überfordert. Während der hora pico, der Rushhour, die hier wochentags schon mal um die 2 bis 3 Stunden dauern kann und Samstags gefühlt den ganzen Tag ist, ist alles noch einmal verschärfter. Der Stadt mangelt es ganz eindeutig nicht an Politiker*innen, die das Versprechen vom Bau einer Metro brechen, wohl aber an einem effizienten und umfassenden Verkehrssystem, das den Menschenmassen gerecht wird.

Ich habe heute dank Zeit und Ort noch einmal Glück im Unglück gehabt mit der Gesamtsituation. Und auch mit der Unterhaltung an Bord. Es stellt sich gerade ein Mann vor die Tür und beginnt, die Busfahrt als Allgemeinwissen-Auffrischung zu gestalten. Seine Quizfragen stoßen auf reges Interesse und Antwortbereitschaft. Welches ist das größte Departamento Kolumbiens? Amazonas! Auf wie vielen Höhenmetern liegt Bogotá? 2600! Unvorstellbar, denke ich, dass sich die Leute in einem Bus oder einer Straßenbahn in irgendeiner deutschen Stadt so offen auf ein solches Spielchen einlassen. Hier ist die Offenheit klar größer.

Irgendjemand betreibt eigentlich immer seine Kunst oder sein Verkaufsgeschäft im TransMilenio. Viele gute, Gitarre spielende Sängerinnen und Sänger durfte ich so schon unerwartet hören, war Publikum von Amateurrappern oder wurde von einer als Clown verkleideten Frau mit Stimmverzerrer mit Smileyaufklebern beklebt. Die Fantasie, womit man im TransMilenio ein Bisschen Geld verdienen könnte, hat keine Grenzen. Das Interesse an meinem Cello meist auch nicht. Auch heute werde ich vom älteren Herrn, der neben mir sitzt, freundlich angesprochen, welches Instrument das denn sei, ob ich in einem Orchester spiele, woher ich komme, wie lange ich schon in Kolumbien bin und was ich hier mache. Echtes, ehrliches Interesse, das uns direkt in ein nettes Gespräch verwickelt, bis wir beide an der Endhaltestelle aussteigen.