Von Privilegien, den Dimensionen eines Freiwilligendienstes, dem „homezone“-Feeling und ganz vielen Kartoffeln – das „kulturweit“-Vorbereitungsseminar

Von Privilegien, den Dimensionen eines Freiwilligendienstes, dem „homezone“-Feeling und ganz vielen Kartoffeln – das „kulturweit“-Vorbereitungsseminar

Hallo liebe Leser*innen,

gerade sitze ich im ICE auf dem Weg nach Hause, jedenfalls den Ort, den ich bis Mittwoch noch mein „Zuhause“ nennen kann. Zehn intensive Tage Vorbereitungsseminar liegen hinter uns kulturweit-Freiwilligen. Zehn Tage voller interessanter Inhalte, spannender Diskussionen und vieler neuer Menschen, die wie ich ab sofort das Weite suchen! Lokalität dieses Seminars war die wunderschön im Nirgendwo gelegene EJB Werbellinsee bei Eberswalde in Brandenburg, deren Köche uns täglich mit der wichtigen Ration an Kartoffeln versorgten.

Das Vorbereitungsseminar am Werbellinsee – 01.09.2017

Vieles geht mir nach diesem Seminar durch den Kopf, während ich hier im Zug sitze. Wörter wie „privilegiert“, „Kulturimperialismus“ oder „strukturelle Diskriminierung“ blitzen immer wieder auf. Eindrücke aus Workshops, Einheiten, Gesprächen, Filmen und Diskussionen haben in meinem Gedächtnis Spuren hinterlassen. In der Nachbetrachtung dieser prägenden, teils erschreckenden Inhalte stelle ich mir die Frage: Sind die Motive, mit denen wir unseren Freiwilligendienst in den Ländern des Globalen Südens angehen, wirklich so gut und richtig, wie wir geglaubt haben? Ist ein solcher Freiwilligendienst nicht ein weiteres Beispiel für die unzähligen Privilegien der „weißen“ Bevölkerung in Europa und Nordamerika.

Schauen wir uns doch einmal den Deutschen Pass an. Wie einfach es ist in andere Länder zu reisen, allein in über 170 Länder, für die ein Deutscher bei der Einreise kein Visum benötigt, und wie leicht die Deutschen doch an Visen und Aufenthaltsgenehmigungen gelangen, sofern diese benötigt werden. Das ist eines meiner Privilegien. Doch geht dies noch viel weiter: Hast Du Dir je die Frage gestellt, ob diese/r Friseur*in in der Lage ist, Deine Haare zu schneiden, weil Deine Haare eine andere Struktur haben als Andere? Hast Du Dir je die Frage gestellt, ob Du aufgrund Deiner Religion oder Deiner sexuellen Orientierung verfolgt werden könntest oder sogar ins Gefängnis kommen könntest? Hast Du Dir je die Frage gestellt, dass Du keine Schule besuchen könntest, da diese zu teuer ist und du zu Hause auf dem Feld gebraucht wirst?

Das alles zeigt doch, wie privilegiert ich und andere, die sich diese Fragen nicht stellen müssen, sind. Ich kann „grenzenlos“ reisen. Ich muss mir keine finanziellen Sorgen machen und bin ausgestattet mit allem, was ich zum Leben brauche. Ich lebe in einem freien, demokratischen Land, in dem niemand verfolgt oder diskriminiert werden darf. UND: Ich kann einen einjährigen Freiwilligendienst im Ausland absolviern, der dazu dient, die deutsche Sprache und Kultur zu vermitteln!

Meine Homezone mit Trainerin Lena – 05.09.2017

Zentrum der Erarbeitung solcher Erkenntnisse war die „Homezone“. Dort versammeln sich die Freiwillige mit unter Leitung eines/-r Trainer*in, die in die gleichen Länder oder die gleichen Weltregionen gehen. In meiner Homezone waren wir zwölf Freiwillige, die nach Namibia, Sambia, Lesotho und Malawi gehen. Gecoacht wurden wir von Trainerin Lena, die uns immer wieder mit den kritischen Fragen konfrontierte. Wem bringt denn der Freiwilligendienst etwas? Uns Freiwilligen oder der einheimischen Bevölkerung? Sind diese Freiwilligendienste nicht Teil einer neuen Form des Kolonialismus? Geht es nicht darum, der deutschen Wirtschaft zu dienen, indem ich als Freiwilliger die Deutsche Sprache und Kultur lehre und somit für Leben und Arbeiten in Deutschland werbe?

Es ist berechtigt, diese Fragen zu stellen und sich der Probleme bewusst zu sein. Trotzdem heist das jetzt nicht, dass ich aus moralischen Gründen meinen Freiwilligendienst abbreche. Letztendlich lerne ich von diesem Jahr, ich mache Erfahrungen, die mich ein Leben lang prägen und wachse. Das soll nicht egoistisch wirken. Ich denke, man kann einen solchen Freiwilligendienst angehen, ohne Skrupel zu haben, wenn man sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat und sich den negativen Aspekten bewusst ist. Wir können in diesem einen Jahr die Welt nicht besser machen. Doch können wir einen Anspruch haben, offen in unsere Gastländer zu reisen und den Austausch mit den Einheimischen zu suchen, um die weltverbindende Wirkung von Begegnungen, Gesprächen und Freunschaften zu beweisen.

Ein weiterer Schwerpunkt in der Homezone war die Auseinandersetzung mit den Spuren von Kolonialismus. Seien es die Studenten in Südafrika, die gegen Überbleibsel der Apartheid und zu hohe Studiengebühren demonstrieren und es dabei ablehnen von einer weißen Reporterin begleitet zu werden, da diese ihnen nicht helfen kann und wird und sie doch über die eigenen Probleme in Europa berichten soll.. (Film: „Fuck White Tears“ – Sehenswert!) Utopien spielen für sie keine Rollen mehr. Die Realität lässt keine Hoffnung mehr zu an eine bessere Zukunft. Gleichzeitig werden Spendenorganisationen mit Bildern von schwarzen Kindern, Armut und Elend und nehmen der schwarzen Bevölkerung ihre Individualität, indem man diese zum Objekt degradiert. Es macht einen wütend zu sehen, dass das Bild des armen, hilfsbedürftigen Afrika vorherrschend ist, während die kreative, vielfältige, bunte und faszinierende Sicht auf diesen Kontinent ignoriert wird. Um es drastisch in den Worten einer afrikanischstämmigen Professorin auszudrücken: Die Spenden der Europäer dienen in erster Linie der individuellen Wiedergutmachung der europäischen Schuld im Imperialismus.

Hier in diesem Blog sehe ich auch meine Aufgabe, fair und umfassend zu berichten, um die Gefahr der „single story“ (https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story/transcript – Rede der nigerianischen Autorin Chimamanda Adichie: unbedingt ansehen), also einer einseitigen, unausgeglichenen Geschichte, zu vermeiden. Trotzdem, und das möchte ich von Anfang an klarstellen, kann ich hier nur subjektive Eindrücke wiedergeben. Ich versuche mögliche vorschnelle Wertungen, Verallgemeinerungen und Pauschalisierungen zu vermeiden. Trotzdem ist es nicht möglich, einer rein objektiven Bericherstattung gerecht zu werden. Daher verzeiht mir, dass ich hier kein Bild des „echten“, „authentischen“ Afrika zeichnen kann, denn dieses existiert nicht!

Bei allen Gedanken, die mir durch den Kopf gehen und die ich mit Euch geteilt habe, ist auch die Vorfreude da. Die zehn Tage haben in mir die finale Bereitschaft ausgelöst auszureisen. Es kann losgehen! Außerdem weiß ich jetzt, wer meine Begleiter auf meiner Reise sind. Insgesamt werden acht Freiwillige in Windhoek sein, mit denen ich Namibia unsicher machen will. In unserer Homezone konnten wir uns bereits kennenlernen. Dabei zeigte sich ein harmonisches, vertrauensvolles, lustiges und offenes Klima, auch dank unserer Trainerin Lena. Ich weiß jetzt: Mit diesen Mitfreiwilligen in Windhoek wird mein Freiwilligendienst eine tolle Zeit. Als ganze Homezone werden wir bald schon wieder zusammenkommen, wenn wir uns im November beim Zwischenseminar wiedersehen.

 

Unser gemeinsames Projekt in der Homezone – 09.09.2017

So langsam macht sich bei mir die Müdigkeit breit. Nach intensiven Auseinandersetzungen mit den Inhalten und den Debatten, Spaß, Sport im und am See, eher kaltem und schlechtem Wetter, wenig Schlaf, mehreren Kilogramm Kartoffeln und einer großen Party gestern ist das ja kein Wunder. Jetzt heißt es ein letztes Mal ankommen und die letzten Tage in der Heimat verbringen, Kraft tanken und mich verabschieden, bevor ich am Mittwoch endlich nach Windhoek starte. Noch dreimal in meinem Bett schlafen, noch einmal Wäsche waschen und dann packen, noch einmal allen wichtigen Menschen „Goodbye“ sagen. Noch ist alles so surreal und nicht realisiert. Aber ich freue mich auf alles, was kommt.

Den nächsten Blogeintrag schreibe ich in der Frühlingssonne Namibias! Bis dahin Euch eine gute Zeit und allen Freiwilligen eine gute Reise und ein gutes Ankommen in den Gastländern! 

Bis bald!

Euer Jonathan

Baden im Werbellinsee während des Sonnenuntergangs – 09.09.2017

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