Ist wirklich alles so anders?

                        

 

Ich bin jetzt seit mehr als einem Monat hier und ehrlich gesagt kommt es mir länger vor. Die aufregende Phase des Neuentdeckens ist vorbei und der Alltag hat sich eingespielt, obwohl das auch nicht hundertprozentig stimmt, weil doch jeder Tag ein bisschen anders ist.

Ich kann sagen, dass ich mich hier mittlerweile so weit zuhause fühle, wie das möglich ist. Ich kenne meine Metro-Linien auswendig und bin genervt, wenn Leute das Fahrkartensystem nicht direkt verstehen und die ganze Schlange aufhalten. Apropos Schlange, die ist hier echt wichtig und man sollte nicht trödeln oder sich vordrängeln oder irgendetwas tun, was das Prinzip der Schlange stört. Stammt noch aus der Zeit der Sovietunion.

Letzten Montag bin ich in meine (erste!) eigene Wohnung gezogen und ich liebe es. Sie ist genauso, wie ich mir immer meine erste Wohnung vorgestellt habe: Klein, etwas verranzt und sporadisch, aber heimelig. Streng genommen ist es noch nicht meine eigene Wohnung, da meine Vermieterin Lena gleichzeitig meine Halbzeitmitbewohnerin ist. Sie wird bald einen Deutschen heiraten und nach Berlin ziehen, aber bis der ganze organisatorische Kram bezüglich Visum erledigt ist, wird sie noch hierbleiben. Damit habe ich aber kein Problem, sie ist superlieb, spricht Deutsch und wir verstehen uns gut. Gestern Abend haben wir Wein getrunken und auf ihre Freunde gewartet, die ihr Bett abgeholt haben. Außerdem raucht sie genauso viel wie ich und das ist ziemlich geil, weil die Wohnung keinen Balkon hat und wir am Fenster rauchen bzw ich in meinem Bett rauchen kann.

Ihre Katze Dosha  hat mein Bett zu ihrem Zuhause gemacht und wer Katzen hat weiß, dass man das nicht hinterfragt. Meine Naps finden also in komischen Positionen statt, um sie nicht zu stören.

Was Freizeit und soziale Kontakte betrifft, bin ich ziemlich zufrieden. Ich mache ehrlich gesagt weniger mit den anderen deutschen Freiwilligen als gedacht, aber das finde ich nicht schlimm. Ich habe ein paar ukrainische Leute getroffen und mit denen unternehme ich öfter etwas.

Nach der Arbeit, die meistens gegen 14:00 vorbei ist, trete ich meinen einstündigen Heimweg an. Dann wird erst mal gechillt. Ich bin leider etwas zu oft auf Netflix, aber gegen Abend gehe ich meistens noch mal raus, um etwas einzukaufen. Ich gehe fast jeden Tag einkaufen, weil irgendwas immer fehlt. Stichwort Wasser. Dieses ganze Containergeschleppe geht mir echt auf die Eierstöcke und das anfallende Platik überfordert mich immer noch. Hat mich aber auch dazu gebracht, „kreativ“ zu werden. Die leeren Container werden zu Mülleimern, leere Milchflaschen zu Aschenbechern (besser als Wasserflaschen weil sie haben eine größere Öffnung) und andere Flaschen werden als Gläser benutzt.

Am Wochenende war ich das erste Mal Raven und es war sehr geil. Ich bin immer wieder überrascht, wie einfach es ist, bei TechnoRaves Anschluss zu finden und coole Leute zu treffen. Ich war da mit zwei Deutschen, habe sie aber fast direkt verloren und schwupssdiwupps fand ich mich am nächsten Morgen/Mittag in einer gemütlichen Runde im Studentenwohnheim wieder.

Ich habe mich gefragt, ob es hier wirklich so anders ist als in Berlin. Auf den ersten Blick würde ich nein sagen, da ich ähnliche Sachen mache, allerdings habe ich auch echt oft „Wow-Momente“, wo mir kleine und große Aspekte auffallen, die mich faszinieren. Eine kleine Sache ist zb, dass hier alle wahnsinnig Wert auf saubere Schuhe legen und ich mit meinen Dreckssneakern echt die Ausnahme bilde. Außerdem schmeißt man selten Kippen und die Straße.

Ich glaube der größte Unterschied ist wirklich die Mentalität. Zumindest die Jugendlichen, mit denen ich gesprochen haben, haben eine trockene, selbstironische Sicht auf die Lage der Ukraine und ihre Zukunft. „Life in Ukraine is suffering“ -klingt sehr hart, wird aber zynisch auf alles bezogen, auch wenn man zb mal die Metro verpasst.

Es gibt so viele verschiedene (An-)sichten auf die Ukraine, dass ich manchmal wirklich etwas überfordert bin. Ich denke, dass liegt an den ganzen verschiedenen Ereignissen und Einflüssen. Sowietunion, Euromaidan, Krim… Ich kann und will mir aber (noch) keine Meinung bilden, sondern versuchen so viele Meinungen wie möglich mitzubekommen.

 

PS: Selbstzweifel was ich hier mache habe ich nicht mehr, ich freue mich einfach hart meine Freunde bald wiederzusehen.