warten auf das Durcheinander

Ein Mann läuft über das rote Granulat, seine Haut glänzt von Schweiß und Wassertropfen. Runde um Runde läuft er allein. Die Lichter der Stadt, die an den Bergen im Hintergrund klebt, färben den Abend grau. Ein Maschendrahtzaun grenzt den Sportplatz von den Zuschauertribünen ab, daneben sprühen Scheinwerfer auf dünnen Pfählen ihr Gelb durch den Nieselregen.

Ich setze meinen Weg fort, zum Schreibwarenladen, der Pinsel anbietet, Handtücher, Kekse und Eier. Der abschüssige Weg ist schlammüberlaufen, der Regen ein Vorbote des Taifuns, auf den wir seit zwei Tagen warten: Auf der Handykarte kommt er immer näher an die Stadt heran, auf der Straße drückt die Luft.

Mir schliddern Studenten entgegen, kleine Gruppen, tragen Tüten voller Tütensuppen.

Es ist ihr Universitätscampus, über den wir laufen. Ihre Sprache verstehe ich nicht, ihre Mienen kann ich nicht deuten, wenn sie mir ins Gesicht starren. Starren und vorbeigehen. Mir fällt auf, dass ich ihr Alter schwer abschätzen kann, vielleicht liegt es daran, dass sich um ihre Augen keine Fältchen bilden. Ich starre zurück. Blondes zwischen schwarzem Haar. Schon einmal bin ich aufgefallen, hier ist es wieder so.

Nach China zu reisen, bedeutet, das erste Mal nach meinem Aufenthalt in Mexiko vor zwei Jahren wieder in ein Flugzeug zu steigen. Zehn Stunden Flug um den Erdball in die genau entgegengesetzte Richtung – dieses mal bleibe ich nur drei Wochen.

Anders als damals regt es mich nicht auf, dass ich anders aussehe als die Menschen im fremden Land. Ich begegne diesem Umstand mit Gleichgültigkeit. Drei Wochen Aufenthalt, viel zu wenig Zeit, um sich wirklich aufzuregen, ich bleibe gelassen. Dumpf und wie betäubt noch von dem Stress, der mich bis zum Abflug zerfaserte.

Ein Buch über China ist meine ganze Auseinandersetzung. Ich habe mir nicht einmal die App heruntergeladen, mit der man hier sogar an Straßenständen bezahlt. Namen spreche ich nicht richtig aus oder vergesse sie sofort. Ich hänge an E. und die an ihrem Handy, das ein paar Brocken Mandarin beherrscht und uns durch die Straßen leitet, in denen wir nichts lesen können. Und doch: Der Besuch im Schreibwarenladen ist schnell getan. Ich bezahle wortlos bei der jungen Frau meinen Einkauf, wie aus Routine.

Die durchsichtigen Plastiklamellen, die den Eingang verhängen, schlagen schmatzend hinter mir zusammen, als ich zurück ins Freie trete. Jeder Atemzug fällt mir schwer. Vielleicht nicht nur, weil ich auf einen Sturm warte. Ich warte auf ein Ereignis.

Der Taifun enttäuscht und es tritt nichts sein. Nur langsam schwemmt er nach den ersten Tagen meine Betäubung fort und dann kommt doch langsam: Die Aufregung. Plötzlich ist China eine Festtafel für mich.

Die Menschen mit denen ich sprechen kann, sind ebenfalls Ausländer und jeder trägt eine andere Brille. Ich setze alle einzeln auf, unterhalte mich ausgiebig. Wir teilen einige Gemeinsamkeiten: Eine Russin, ein Pakistani, ein Kolumbianer, ein Franzose und zwei Deutsche tanzen Salsa auf dem Dach in die Nacht hinein. Cocktails mit dampfendem Trockeneis. Gesprochen wird Englisch und Spanisch.

Im Treppenhaus treffen wir P. ein paar Mal, er wird später noch wichtig werden.

Dann reisen zwei junge Frauen nach Shanghai. Sieben Stunden lang mit dem Zug. Was sie dort wollen? Kennenlernen. Sehen, begegnen. Was sie dort tuen? Schwitzen.

28 bis 35 Grad im Schatten, jeder Schritt nur innerhalb des Radius, den der Sonnenschirm spannt. Dankbarkeit für jede Klimaanlage. Gestapelt im Sechs-Bett-Zimmer des Hostels versteht man sich mit Barcelona sehr gut. Überhaupt: Alles ist sehr reinlich.

Im Foyer strahlt ein Affengott im Kinofilm. Der Rezeptionist bietet Entenkopf als Snack. Na gut. Ob mich das schlauer macht?

Hinter mir ein Jemand, der in Bremen an der European Flight Academy arbeitet.

Plötzlich: Mexiko in China. Herzliches Lachen und Alkohol, Nähe entsteht an einem Abend. Ganz nebenbei treffe ich Hamburg auf der Tanzfläche. Besichtigungen mit Kater und Schlafmangel und 1.000 anderen Menschen. Ich kleide mich in viel zu teure Seide, am selben Abend wird mir Essen geschenkt. E. verfasst ein kritisches Gedicht über das Land, das seine Mitte sucht.

Wir durchsteifen die Französische Konzession und machen noch mehr Sightseeing. Uns folg ein Mann die Promenade entlang, der mich an den Schultern berührt.

Dann die Fahrt zurück nach Qingdao.

Dort angekommen plagen mich fremde Sorgen. Zum Glück, sage ich jetzt, denn ich lerne dabei viel. Gute Gespräche, lange Gespräche. E. und ich lachen laut und sind gnadenlos ehrlich. Wir blicken bereits auf einiges zurück, eine Freundschaft noch aus Mexiko und stellen uns in anderen Kontexten ähnliche Fragen. Auch oder gerade wegen: unseres Altersunterschieds. Ich frage mich, ob ich wirklich zu viel in Zahlen denke. Wer steht mit wie vielen Jahren wo in seinem Leben? Ist das wichtig?

Wieder treffen wir P. im Treppenhaus, dieses Mal mit Absicht: Ein hagerer Typ in Shorts und Karohemd und einer Unruhe in den grünen Augen. Studiert hat er einiges, abgebrochen vieles und beendet Islamwissenschaften und Informatik in Freiburg. Einen Flugschein hat er auch. Heute ist er Deutschlehrer. Er sagt: Ich glaube, habe einfach gerne Recht und springt von Thema zu Thema und wieder zurück.

P. gibt mir an einem Abend Antworten auf Fragen, die ich nicht laut ausspreche. Wir fühlen uns gleich, oder ich mich ihm ähnlich, zumindest einen Moment lang.

Am selben Abend ist die Stadt lila und gelb in den Smog geschmiert. Ein weiß gefliestes Häuschen glänzt unter uns. Zwei Männer und zwei Frauen stehen im Schein der Laterne, viele Unterschiede und ein gemeinsames Schweigen.

Wir stützen uns auf der Brüstung ab, wir haben die Messe verpasst. Die alte Steinkirche verschließt sich vor uns. Der Gestank von Urin in den Straßen und Risse im Asphalt, ein bisschen Weinen. Der Messner schlägt aus dem Autofenster heraus Ersatztermine vor. Kakteen hinter kalt beleuchteten Plexiglasfenstern beim Gang die leere Straße hinab. Chinesisch dringt gedämpft nach draußen. Ein Passant steckt sich den Finger in den Hals und kotzt hinter eine Mülltonne.

Danach trinken wir alle das gleiche Bier, tanzen Bachata im Sand. Außerdem scharfer Fels unter nackten Füßen. P. weiß, mit welcher Maschine Walter Faber über Campeche abgestürzt ist und sagt Schreiben ist ein Handwerk. Wir stehen und erleben.

Ein paar Tage später, Kochen im Kreise. Mein Blick auf China bleibt verzerrt, denn auch hier fast alle nicht von hier. Wir hören Bamboleo und kneten Teigtaschen. Ich stelle fest, dass auch die anderen Auswanderer China verschwommen sehen: Nur ein paar scheinen sich gut unter den Einwohnern integriert zu fühlen. Die Sprache ist nur ein Problem. Egal, wie lange man schon hier ist, die Einsamkeit ist nah.

Was hilft ihr zu entkommen ist die Flucht in die group. Auch ich werde sehr schnell aufgenommen in die group. Verbindung entsteht hier durch Musik und Sport und Humor und Alkohol ist ganz wichtig. Eine kleine Spritztour auf einem E-Roller. W. und ich schwingen gemeinsam die Pinsel. W., Ein Kolumbianer, der Spanisch genauso bedacht wie Deutsch spricht, ein Kunst- und Englischlehrer in Qingdao. Taktgefühl fehlt ihm. Ich streiche das Wort liebenswürdig aus seiner Beschreibung, obwohl ich es passend fände. Seit ein paar Monaten ist er hier mit einem Studentenvisum und lacht über Joko und Klaas.

E. nennt die group einen Schwamm, der Fremde schnell aufsaugt und aus Fremden besteht. Oder aus Freunden? Fehlt man mal, fällt man genauso schnell durch eines der Löcher im weichen Material.

Ich trete einen Schritt zurück, und bin ganz zufrieden als Beobachterin. Meine eigene Situation kommt mir im Vergleich auf einmal sehr gefestigt vor – dabei sind die Uni, das Studentenwohnheim, die WG ebenso Schwämme. Aufsaugen, ausspucken im Rhythmus der Semester.

Beständig ist der Fu Shan, der heilige Hausberg von Qingdao. E. und ich wandern sein Rückrat entlang und essen dabei okaye Brezen vom Bäckermeister Harald: Versprengter Bayer, liefert auf Bestellung seiner Kleinen. Ich glaube, er ist alleine hier, sagt E. So, wie er uns ansieht, ist er sogar sehr allein.

Auf dem Bergrücken sind wir das auch, eines der wenigen Male während der drei Wochen in China. Von hier oben sehe ich die Stadt und das Meer und den Wald frage einmal zu viel Warum.

Ich lege die Hand über die Augen und erkenne schon meinen Abflug in der Ferne. Meine Zeit neigt sich dem Ende zu, als ich beschließe: Nicht ohne Glanz!

Zuerst glänzen die Lichter im Club, J. lädt mich ein auf zwei Fahrten, aber kommt selbst etwas schwer in Gang. Dann werde ich Dancing Queen mit dem Russen A. Der liebt mich doppelt, weil ich Deutsche bin und mit ihm hart um die Show kämpfe. Am Ende stehlen wir sie gemeinsam. Von Li und mir lasse ich an diesem und keinem anderen Abend Videos machen und weise einen Älteren zurecht, der sich stammelnd zu verteidigen sucht. S. und C. aus Südafrika verwechsle ich bis zum Schluss. J. verschafft mir derweil den Durchblick in allen Dingen und außerdem den Wohnungsschlüssel, als ich vor verschlossener Tür stehe. Durch vier Nächte in Folge rausche ich mit der group, dann kann ich nicht mehr.

Meine Augen Glänzen vor Krankheit. Doch zum Ausruhen bleibt zwischen Schiebetüren und Koffer packen noch Zeit.

Am letzten Tag fahren E. und ich bis zur letzten U-Bahn Station der längsten Linie und stehen plötzlich zwischen Trümmern. Ruinenhaufen eines Dorfes zwischen hohen Bauskeletten, durch die der Wind pfeift. Ein Durcheinander von Entstehen und Vergehen. Eine schöne Analogie, denke ich

Zum Abschied winkt mir eine Katze.

3 Gedanken zu „warten auf das Durcheinander

  1. Ich bin so sehr verwirrt, wie eigentlich immer, wenn ich deine Texte lese. Ich glaube, dein Schreibstil ist einfach ein paar Spähren zu hoch für mich. Aber auch, wenn ich nicht alle Zusammenhänge aus deinem Bericht mitnehmen konnte, hört er sich ja wirklich nach einer sehr interessanten Reise an – sicherlich verstärkt sich der abenteuerliche Faktor noch deutlich, wenn man in einem Land unterwegs ist, in dem man wirklich nichts lesen oder verstehen kann; vor allem hört es sich nicht so an, also ob du mit Englisch sehr weit gekommen wärst.

    Es wundert mich bei den Leuten, die du dort getroffen hast, auch nicht, dass du einige Zeit in den typischen Austauschstudenten-Kreisen verbracht hast, mit denen du ja, wie es sich anhört, sehr viel Spaß hattest, auch wenn ihre Namen selten länger als ein Buchstabe sind.

    Ein sehr schöner Bericht auf jeden Fall, mit vielen kleinen Anspielungen und Details, auf deren genaue Ausführung ich bereits sehr gespannt bin.

  2. Schön, wieder mal von dir zu lesen, liebe Marilene. Dein“Reisebericht“ gefällt mir sehr. Herzliche Grüße R. Bamberger

Kommentare sind geschlossen.