Archiv für den Monat: Februar 2018

Alles hat ein Ende, nur Kulturweit hat zwei

Im Zug, alles erscheint so unwirklich und die Zeit verging seltsam schnell, draußen im Wald joggt rückwärts ein Mann. Ich kann es nicht begreifen und trotzdem vermiss ich jetzt schon alles. Meine WG mit Pizzabacken, Mona und Anne, die mir immer und überall die Zeit versüßt haben, meine 6. Klasse, die mir wie kleine Geschwister ans Herz gewachsen sind und mich nur unter Gruppenkuschelumarmungen gehen lassen, aber natürlich auch meine ganzen anderen Schülerinnen und Schüler, allgemein Polen, im speziellen natürlich lublin, mein zweites zu Hause mit allen schönen Ecken und Kannten, die wunderschöne Sprache, herzliche Gastfreundschaft und sowieso alles. Ich fahre, vollgepackt mit Sachen, Erinnerungen und Ehrfahrungen, meinem bestandenen polnisch A1 Level und jeder Menge neuer Eindrücke. Versuche in meinen Gedanken nochmal zurückzudenken, wünsche, dass ich, so wie der Mann im Wald rückwärts joggt, auch zurück könnte um einfach Momente noch einmal zu durchleben. Ich fahre und plane schon gleichzeitig meine Rückkehr, denn eins steht fest: ich komme wieder!
Schon sind wir in Berlin, obwohl wir fast entgleist sind und stecken wieder mitten drinnen im Kulturweitflow. In der Hoffnung, dass nicht alles im Fluss der Zeit verschwindet, bin ich gespannt darauf zumindest einige der Kulturweitfreiwilligen und natürlich meine Freunde und Familie wieder zu sehen und hoffe, dass sich alles, aber auch nichts verändert hat. Dass wir reich geworden sind an Erfahrung und Eindrücken und gleichzeitig immer noch so vertraut miteinander umgehen können. voll Vorfreude und Ungewissheit stehe ich am Ende und am Anfang, unschlüssig wie alles weiter gehen soll, Melancholie beschleicht mich im Rückblick auf mein vergangenes halbes Jahr und doch gleichzeitig Freude und Spannung neue Grenzen zu überschreiten.

-und was ist sonst noch so passiert-

Schon eine Weile her, aber vielleicht ganz erwähnenswert, war der 6. Januar, heilige drei Könige. Eigentlich wollten wir nach Nałeczów fahren, ein kleiner Kurort in der Nähe, welcher ganz nett sein soll. Als wir am Busbahnhof ankommen ist alles voller Menschen, denn vor dem Schloss in Lublin gibt es einen riesen Auflauf. Große Königsfiguren und rauchende Weihrauchatrappen werden an Kränen hochgezogen und es gibt eine kleine Vorstellung mit Gesang. Fast alle Leute haben bunte Papierkronen auf und nach einiger Zeit beginnt der Umzug durch die Stadt, wobei wirklich drei Männer in Sänften durch die Straßen getragen werden. Ein riesiges Spektakel für alle Beteiligten und wirklich sehr schön. Nach Nałeczów sind wir am nächsten Tag sogar dann doch noch gefahren, dort ist allerdings bis auf ein E.Wedel Café mit echter dicker Schokolade und einen schönen Park nicht viel los.

An meinem eigentlich letzten Wochenende in Lublin war viel los, wenig schlaf und viel feiern, spontaner Besuch aus der Slowakei und ein Ausflug nach Zamość.
Die kleine Stadt ist wunderschön und wurde im 16. Jahrhundert im Stil der italienischen Renaissance erbaut, daher auch der Beiname „Padua des Nordens“. Die größtenteils erhaltene Altstadt, mit drei Märkten, dem achteckigen Uhrenturm, der alten Synagoge, dem Geburtshaus Rosa Luxemburgs und den farbenfrohen armenischen Bürgerhäusern gehört zum UNESCO Weltkulturerben.
Die Rotunde ist ein altes Festungsgebäude der Stadt und wurde im zweiten Weltkrieg als Gefängnis und Massenmordstätte genutzt, vor allem zur Vernichtung der polnischen Intelligenz. Heute finden sich hier Gräber von 45 482 Personen, Kriegsopfer, polnische und sowjetische Soldaten, Juden und Opfer des Stalin Terrors.

Majdanek

Ich war vor einiger Zeit auch endlich in Majdanek, der Gedenkstätte in Lublin. Es ist schon seltsam, dass ich es erst in meiner letzten Zeit hier geschafft habe, das ehemalige Konzentrationslager zu besuchen, wahrscheinlich hatte ich doch eine Art innere Hemmung oder so etwas. Es ist eine sehr gute Ausstellung.
Das als „multifunktionales Provisorium ohne eindeutige Bestimmung und klare Zielsetzung“ beschriebene Lager war das erste im besetzten Polen und wurde hier aufgrund der verhältnismäßig hohen Anzahl jüdischer Bevölkerung errichtet. 1930 befand sich in Lublin noch die größte Talmundschule der Welt, weshalb es auch als „Jerusalem im Osten“ oder „Oxford Polens“ bekannt war. Warum nur wird so viel zerstört.
Es ist kalt und unbegreiflich und beim lesen der Augenzeugenberichte wird mir immer wieder übel und ich bekomme Gänsehaut. Es ist einfach nur absurd dies alles vor sich zu sehen und zu wissen, das ist wirklich passiert. Ich versuche es zu fassen, doch verstehen es nicht, kann nicht begreifen, wie wir Menschen zu so etwas fähig sein können. Meine Oma hatte mir vor meiner Ausreise von einem Gedicht erzählt, „Kinderschuhe aus Lublin“.

Johannes R. Becher – Kinderschuhe aus Lublin

Von all den Zeugen, die geladen,
Vergeß ich auch die Zeugen nicht,
Als sie in Reihn den Saal betraten,
Erhob sich schweigend das Gericht.

Wir blickten auf die Kleinen nieder,
ein Zug zog paarweis durch den Saal.
Es war, als tönten Kinderlieder,
Ganz leise, fern, wie ein Choral.

Es war ein langer bunter Reigen,
Der durch den ganzen Saal sich schlang.
Und immer tiefer ward das Schweigen
Bei diesem Gang und Kindersang.

Voran die kleinsten von den Kleinen,
sie lernten jetzt erst richtig gehen
-Auch Schuhchen können lachen, weinen -.
Ward je ein solcher Zug gesehn!

Es tritt ein winzig Paar zur Seite,
Um sich ein wenig auszuruhn,
Und weiter zieht es in die Weite-
Es war ein Zug von Kinderschuhn.

Man sieht, wie sie den Füßchen passten-
Sie haben niemals weh getan,
Und Händchen spielten mit den Quasten.
Das Kind zog gern die Schuhchen an.

Ein Paar aus Samt, ein Paar aus Seiden,
Und eines war bestickt sogar
Mit Blumen, wie sie ziehn, die beiden
Sind ein schmuckes Hochzeitspaar.

Mit Bändchen, Schnallen und mit Spangen,
Zwergenhafte Wesen, federleicht-
Und viel’ sind viel zu lang gegangen,
Und sind vom Regen durchgeweicht.

Man sieht die Mutter auf den Armen
Das Kind, vor einem Laden stehn:
„Die Schuhchen, die, die weichen, warmen,
Ach, Mutter, sind die Schuhchen schön!“

„Wie soll ich nur die Schuhchen zahlen.
Wo nehm das Geld ich dafür her…“
Es naht ein Paar von Holzsandalen,
Es ist schon müd und schleppt sich schwer.
Es muß ein Strümpfchen mit sich schleifen,
Das wundgescheuert ist am Knie…
Was soll der Zug? Wer kann’s begreifen?
Und diese ferne Melodie…

Auch Schuhchen können weinen, lachen…
Da fährt in einem leeren Schuh
Ein Püppchen wie in einem Nachen
Und winkt uns wie im Märchen zu.

Hier geht ein Paar von einem Jungen,
Das hat sich schon als Schuh gefühlt,
Das ist gelaufen und gesprungen
Und hat auch wohl schon Ball gespielt.

Ein Stiefelchen hat sich verloren
Und findet den Gefährten nicht,
Vielleicht ist er am Weg erfroren-
Ach, damals fiel der Schnee so dicht…

Zum Schluß ein Paar, ganz abgetragen,
Das macht noch immer mit, wozu?
Als hätte es noch was zu sagen,
Ein Paar zerrissener Kinderschuh.

Ihr heimatlosen, kinderlosen,
Wer schickt euch? Wer zog euch aus?
Wo sind die Füßchen, all die bloßen?
Ließt ihr sie ohne Schuh’ zu Haus…?

Der Richter kann die Frage deuten.
Er nennt der toten Kinder Zahl…
Ein Kinderchor. Ein Totenläuten.
Die Zeugen gehen durch den Saal.

Die Deutschen waren schon vertrieben,
Da fand man diesen schlimmen Fund.
Wo sind die Kinder nur geblieben?
Die Schuhe tun die Wahrheit kund:

Es war ein harter, dunkler Wagen.
Wir fuhren mit der Eisenbahn.
Und wie wir in dem Dunkel lagen,
so kamen wir im Dunkel an.

Es kamen aus den Läden allen
Viel Schuhchen an in einem fort,
Und manche stolpern schon und fallen,
Bevor sie treffen ein am Ort.

Die Mutter sagte: “Wieviel Wochen
Wir hatten schon nichts Warmes mehr!
Nun wird ich uns ein Süppchen kochen.“
Ein Mann mit Hund ging nebenher:

„Es wird sich schon ein Plätzchen finden“,
So lachte er, „und warm ist’s auch,
Hier braucht sich keiner abzuschinden…“
Bis in den Himmel kroch ein Rauch.

„Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
Wir heizen immer tüchtig ein.
Ich kann Lublin nur warm empfehlen,
Bei uns herrscht ewiger Sonnenschein.“

Und es war eine deutsche Tante,
die uns im Lager von Lublin
Empfing und „Engelspüppchen“ nannte,
Um uns die Schuhchen auszuziehn,

Und als wir fingen an zu weinen,
Da sprach die Tante: „Sollt mal sehn,
Gleich wird die Sonne prächtig scheinen,
Und darum dürft ihr barfuß gehen…

Stellt euch mal auf und lasst euch zählen,
So, seid ihr auch hübsch unbeschuht?
Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
Dafür sorgt unsere Sonnenglut…
Was, weint ihr noch? ‚s ist eine Schande!
Was tut euch denn, ihr Püppchen, weh?
Ich bin die deutsche Märchentante!
Die gute deutsche Puppenfee.

’s ist Zeit, ihr Püppchen, angetreten!
Was fällt euch ein denn, hinzuknien.
Auf, lasst uns singen und nicht beten!
Es scheint die Sonne in Lublin!“

Es sang ein Lied die deutsche Tante.
Strafft sich den Rock und geht voraus,
Und dort, wo heiß die Sonne brannte,
Zählt sie uns nochmals vor dem Haus.

Zu hundert, nackt in einer Zelle,
Ein letzter Kinderschrei erstickt…
Dann wurden von der Sammelstelle
Die Schuhchen in das Reich geschickt.

Es schien sich das Geschäft zu lohnen,
Das Todeslager von Lublin.
Gefangenenzüge, Prozessionen.
Und- eine deutsche Sonne schien…

Wenn Tote einst als Rächer schreiten,
Und über Deutschland hallt ihr Schritt,
Und weithin sich die Schatten breiten-
Dann ziehen auch die Schuhchen mit.

Ein Zug von abertausend Zwergen,
So ziehen sie dahin in Reihn,
Und wo die Schergen sich verbergen,
Dort treten sie unheimlich ein.

Sie schleichen sich herauf die Stiegen,
Sie treten in die Zimmer leis.
Die Henker wie gefesselt liegen
Und zittern vor dem Schuldbeweis.

Es wird die Sonne brennend scheinen.
Die Wahrheit tut sich allen kund.
Es ist ein großes Kinderweinen,
Ein Grabgesang aus Kindermund…
Der Kindermord ist klar erwiesen.
Die Zeugen all bekunden ihn.
Und nie vergeß ich unter diesen
Die Kinderschuhe aus Lublin.

Reisefieber

Endlich Ferien, endlich Sachen packen weg und Ukraine, endlich Friedi wieder sehen.
Fünf Tage, in denen ich merke, wie glücklich mich Freunde machen, wie glücklich mich Sonnenschein nach monatelanger Trübheit macht und wie froh ich sein kann, dass es mir so gut geht und ich reisen kann und im Prinzip machen kann, was ich will.
Mein erster Halt: Lviv/Lwów/Lemberg, eine wunderschöne und bezaubernde Stadt. Was mir als erstes auffällt, so viele tolle Gebäude, jedoch auch ein wenig mitgenommen, an jeder Straßenecke kleine Kaffeestände und Sonne. Angekommen und erstmal mit der Straßenbahn zum Hostel, ein Erlebnis für sich. In der Bahn, welche in Deutschland bestimmt niemals den Tüv bestanden hätte, kauft man das Ticket bei der Fahrerin bzw. beim Fahrer. Das Entwerten macht mir besonders Spaß, es gibt Metallteile, in die man sein Ticket irgendwie hinein schiebt, einen Hebel runter zieht und das Papier auf individuelle Weiße durchlöchert. Ein Mann mit vollem Kaffeebecher und Zigarette steigt ein, setzt sich neben mich und fängt gleich an zu erzählen und möchte mir ständig seinen Kaffee und die Kippe andrehen, ich lehne mehrmals dankend ab und zur Freude der ganzen Bahn holt er nun nacheinander Bananen und Mandarinen heraus und erzählt auch noch von Zitronen und Orangen, die ich haben könne.
Wir besuchen die Kaffeemanufaktur, wo es so unglaublich gut duftet und der Kaffee unten im Keller gelagert wird. Es gibt auch eine Schokoladenfabrik und man kann Becher voll geschmolzener Schokolade trinken/löffeln.
Auf dem Dach vom Haus der Legenden steht ein Trabi und man kann auf die Stadt hinunter sehen oder bei Tee in einer Art kleinen Bibliotheksraum sitzen. Wir finden sogar auch deutsche Texte und schmökern in alten Schulbüchern und Ernährungsratgeber.
Nach vielen Treppenstufen sind wir oben beim Eiffelturm und schauen auf die wunderschöne Stadt, in der man so viel machen und sehen kann, wie z.B. die Oper, eine sitzende Freiheitsstatue, nur blau gelbe Spielplätze, eine alte armenische Kirche oder eine sehr gute und bewegende Fotoausstellung „Two feet under the ground“ und „Live the war“ über den Krieg in der Ukraine.
Wir fahren mit dem Nachtzug nach Chmelnytsky, ein riesiger Zug. Die Wagongs bestehen nur aus Betten und jeder Wagong hat seine eigene Schaffnerin oder Schaffner. Beim einsteigen gibt man sein Ticket ab und wird dann sogar rechtzeitig kurz vorm Ziel persönlich geweckt. Zugfahren ist schon toll. In Chmelnytsky wollten wir uns eigentlich nochmal hinlegen, jedoch lag der Schlüssel nicht unter der Fußmatte, also fahren wir morgens um 6 mit dem Bus in das kleine Dorf Antoniny. Doch während der 2h Strecke kann ich nicht, wie erwartet noch ein wenig weiterdösen. Es ist zwar schön dunkel im Bus, doch dieser springt mehr über die ausbaufähigen Straßen, als das er fährt. So schaukeln wir und währenddessen läuft laute ukrainische Musik und die Sonne geht auf, das hat auf jeden Fall auch seinen Charme.
Antoniny begegnet mir mit einer ganz besonderen Atmosphäre durch die Ruhe und den Sonnenschein. Wir wohnen im Kinderheim, wo Friedi arbeitet. Die Kinder lieben sie und geben mir auch ein wenig ihrer Liebe ab. Wir tanzen und spielen zusammen, wobei ich schnell noch kyrillisch und die ukrainischen Zahlen lernen muss.
Im Dorf sieht man noch die Reste eines Palais von einem polnischen Fürsten, dazu sehen wir uns auch eine kleine Fotoausstellung in der Bibliothek an. Die super Bibliothekarin freut sich riesig und lädt uns noch herzlich zum Tee ein.
In Chmelnytsky haben wir sehr viel gegessen, Karten gespielt, Kaffee mit frischem Orangensaft getrunken und versucht irgendwie die Stadt von oben zu sehen.