Arvin

Es gibt nicht viele Orte in Ulgii, an denen man sich so richtig wie in Europa fühlt. Allein die ständige Aussicht auf die kahlen weitgefächerten Berge, der strahlend türkisene Himmel mit der noch strahlenderen Sonne im Zentrum und die stechend klare und inzwischen auch recht kühle Luft lassen mich in jedem Augenblick fühlen wo ich bin. Dazu kommt natürlich die Stadt, die ungewohnte Züge nirgendsvermissen lässt – die, sich den Bewohnern anpassend, verwaiste freilaufende und durch Müll stöbernde Hunde durch Kühe ersetzt hat, die so staubig und trocken ist, dass man nur einen kleinen Schritt tun muss, um sich die Schuhe völlig zu verstauben und die es selbst in ihrer Kleinstadtgröße schafft einen halbwegs chaotischen Verkehr zu beherbergen, sei es durch zu viele parallel gewagte Überholmanöver oder durch riesige Tierherden und widerspenstige Einzeltiere, die natürlich auch die Hauptstraße und die einzige Brücke über den Fluss nutzen und diese allzu gerne hartnäckig blockieren. Nein, all das kann ich selten ignorieren – aber immerhin getrost hinter mir lassen, wenn ich mich einmal durch die Tür des Arvin bewege. Ein Cafe – klein, gemütlich, englischsprachig. Mit Sofas, gutem und echtem Kaffee, Marylin-Monroe-Kissen, Pizza, Sandwiches und einer Bücherecke mit einer Auswahl deutscher und englischer Bücher. Es lädt geradezu dazu ein typisch Mongolisches zu vergessen und auf deutsche Gewohnheiten umzuschwenken. Fleisch- und fetttriefende Teigtaschen und Eintöpfe durch amerikanische Pizza und Americano zu ersetzen. Der neueste Clou: das i-Tüpfelchen der westlichen Kultur, eine Auswahl der fünf nervigsten englischen Weihnachtslieder in Dauerschleife – Jingle Bells, Last Christmas, All I want for Christmas, nichts muss man vermissen… Aber immerhin – Weihnachtslieder im so konservativen, muslimischen Bayan-Ulgii! Da beginnt man sich richtig darüber zu freuen weit weg von jeglichem Weihnachtstrubel zu sein. Ein Plastebäumchen im Supermarkt und ein paar Lieder im Kaffee sind mehr als genug!

Das Arvin jedenfalls bietet mit Sicherheit (trotz der Dauerschleife) einen guten Anlaufpunkt wenn man einen ruhigen Moment braucht. Denn wie in fast allen  ulgiischen Restaurants kann man sich sicher sein, die Stille zu finden – Gäste scheinen meist rareres Gut zu sein als Mitarbeiter. Wie dabei die finanzielle Seite aussieht bleibt mir rätselhaft, aber eine Massenschließung deutet sich bisher noch nicht an und ich bin sicher oft genug zu Gast, um dieses Jahr erstmal abzusichern. Auf alle Fälle ist mir diese Einsamkeit mehr als Recht.

Wider erwarten ist Einsamkeit nämlich das, was ich in Ulgii am allerwenigsten finde. Mit meinen Mitbewohnern, vor allem dem Mitfreiwilligen Nikolaj teile ich schließlich so ziemlich alles – Wohn- und Schlafraum, Arbeit, Freizeit, Wochenenden, musikalische Interessen und nicht zuletzt eben auch die meisten Besuche in jenen leeren Restaurants. Alleinsein bleibt bei dieser Konstellation ein seltenes Gut – was mich so wenig stört wie vorher kaum vorstellbar. Wie habe ich mich in Deutschland noch darauf gefreut, mich mal alleine durchbeißen zu müssen und mich in vielen einsamen Stunden mit mir selbst auseinander setzen zu können. Nicht im Ansatz ist das eingetreten, aber – völlig egal! Was könnte in der Freizeit schließlich besser sein als zusammen alle findbaren möglichst vulgären Mozart-Kanonse, Comedian Harmonists oder Clapping Music einzuüben?

Ich kann weder sagen, dass ich das Alleinsein noch das „Europa-Feeling“ vermisse. Aber es ist trotzdem gut zu wissen, beides in der Nähe finden zu können und es nicht gleich eine Reise nach UB braucht, wenn das Bedürfnis nach diesen beiden Heimatgefühlen doch einmal da ist.