Arvin

Es gibt nicht viele Orte in Ulgii, an denen man sich so richtig wie in Europa fühlt. Allein die ständige Aussicht auf die kahlen weitgefächerten Berge, der strahlend türkisene Himmel mit der noch strahlenderen Sonne im Zentrum und die stechend klare und inzwischen auch recht kühle Luft lassen mich in jedem Augenblick fühlen wo ich bin. Dazu kommt natürlich die Stadt, die ungewohnte Züge nirgendsvermissen lässt – die, sich den Bewohnern anpassend, verwaiste freilaufende und durch Müll stöbernde Hunde durch Kühe ersetzt hat, die so staubig und trocken ist, dass man nur einen kleinen Schritt tun muss, um sich die Schuhe völlig zu verstauben und die es selbst in ihrer Kleinstadtgröße schafft einen halbwegs chaotischen Verkehr zu beherbergen, sei es durch zu viele parallel gewagte Überholmanöver oder durch riesige Tierherden und widerspenstige Einzeltiere, die natürlich auch die Hauptstraße und die einzige Brücke über den Fluss nutzen und diese allzu gerne hartnäckig blockieren. Nein, all das kann ich selten ignorieren – aber immerhin getrost hinter mir lassen, wenn ich mich einmal durch die Tür des Arvin bewege. Ein Cafe – klein, gemütlich, englischsprachig. Mit Sofas, gutem und echtem Kaffee, Marylin-Monroe-Kissen, Pizza, Sandwiches und einer Bücherecke mit einer Auswahl deutscher und englischer Bücher. Es lädt geradezu dazu ein typisch Mongolisches zu vergessen und auf deutsche Gewohnheiten umzuschwenken. Fleisch- und fetttriefende Teigtaschen und Eintöpfe durch amerikanische Pizza und Americano zu ersetzen. Der neueste Clou: das i-Tüpfelchen der westlichen Kultur, eine Auswahl der fünf nervigsten englischen Weihnachtslieder in Dauerschleife – Jingle Bells, Last Christmas, All I want for Christmas, nichts muss man vermissen… Aber immerhin – Weihnachtslieder im so konservativen, muslimischen Bayan-Ulgii! Da beginnt man sich richtig darüber zu freuen weit weg von jeglichem Weihnachtstrubel zu sein. Ein Plastebäumchen im Supermarkt und ein paar Lieder im Kaffee sind mehr als genug!

Das Arvin jedenfalls bietet mit Sicherheit (trotz der Dauerschleife) einen guten Anlaufpunkt wenn man einen ruhigen Moment braucht. Denn wie in fast allen  ulgiischen Restaurants kann man sich sicher sein, die Stille zu finden – Gäste scheinen meist rareres Gut zu sein als Mitarbeiter. Wie dabei die finanzielle Seite aussieht bleibt mir rätselhaft, aber eine Massenschließung deutet sich bisher noch nicht an und ich bin sicher oft genug zu Gast, um dieses Jahr erstmal abzusichern. Auf alle Fälle ist mir diese Einsamkeit mehr als Recht.

Wider erwarten ist Einsamkeit nämlich das, was ich in Ulgii am allerwenigsten finde. Mit meinen Mitbewohnern, vor allem dem Mitfreiwilligen Nikolaj teile ich schließlich so ziemlich alles – Wohn- und Schlafraum, Arbeit, Freizeit, Wochenenden, musikalische Interessen und nicht zuletzt eben auch die meisten Besuche in jenen leeren Restaurants. Alleinsein bleibt bei dieser Konstellation ein seltenes Gut – was mich so wenig stört wie vorher kaum vorstellbar. Wie habe ich mich in Deutschland noch darauf gefreut, mich mal alleine durchbeißen zu müssen und mich in vielen einsamen Stunden mit mir selbst auseinander setzen zu können. Nicht im Ansatz ist das eingetreten, aber – völlig egal! Was könnte in der Freizeit schließlich besser sein als zusammen alle findbaren möglichst vulgären Mozart-Kanonse, Comedian Harmonists oder Clapping Music einzuüben?

Ich kann weder sagen, dass ich das Alleinsein noch das „Europa-Feeling“ vermisse. Aber es ist trotzdem gut zu wissen, beides in der Nähe finden zu können und es nicht gleich eine Reise nach UB braucht, wenn das Bedürfnis nach diesen beiden Heimatgefühlen doch einmal da ist.

27.09.

Ein kleines Loch inmitten des Stresses. Ein wenig Verlässlichkeit inmitten der Verlorenheit in einer fremden und verwirrenden Mentalität. Ein Tintenklecks in zartem Orange, der sich unerbitterlich durch die graue Hektik frisst und unhaltbar seine Fäden spinnt. Fäden der Hoffnung, Fäden der Ruhe. Für diesen Augenblick schweigt der Wind in der Steppe. Der erkaltende Atem schwebt vor uns und treibt langsam auseinander. Die Staubspuren in der Ferne tun es ihm gleich. Da ist nichts bombastisches, kein Donner. Alles ruht in blassen Schleiertönen. Der Muezzin ruft zum Gebet, wartet auf meinen nächsten Atemstoß und schickt seine Botschaft abermals in die Weite. Fernes Beben, ferne Autos. Wie ein hauchdünn geschnittenes Schollenfilet liegt eine Wolke in der Luft, unfähig zu entkommen bevor die Nacht sie veratmet. Es gibt Sekunden die niemals enden sollten. Es gibt Momente in denen es wichtig ist nicht allein zu sein, auch wenn man kein Wort spricht, keinen Blick und vermutlich auch keinen Gedanken teilt. Da ist eine Kiesgrube, wohl außer Benutzung, klein und mit einem alten kaputten Förderband. Die Berge verschwimmen ineinander zu einem dunklen, blauen Grau – sie haben ihre Tiefe verloren und sind nur noch Fassaden.

Peking auf dem Weg (Nachtrag zum 14.09.)

Ich habe mit gar nichts gerechnet als ich aus dem Flugzeug stieg. Ich habe mir fest vorgenommen mir in Peking ein Hotel zu suchen, vielleicht über ein zwei Plätze zu schlendern und mich dann aber vor der Ankunft in der Mongolei nochmal auszuschlafen. Es ist schließlich nicht schade um ein kostenloses 72-Stunden Visum, es mit Schlafen zu verbringen.

Logisch, dass es anders kommt. Ich nehme mir kein Hotel, schlafe auch nicht lange und statt zu schlendern wandere ich von 5 Uhr nachmittags bis 5 Uhr morgens mit einer vielzahl an Pausen durch die Straßen und laufe mir außerdem die kleine Zehe wund – aber mein Gefühl, dass ich auf dem Flug in die chinesische Hauptstadt hatte, dieser kleine Abstecher vor meinem FSJ sei überflüssig verdampft schon mit dem Verlassen des Flugzeugs in der heißschwülen pekinger Luft und kommt auch bei allem Verzweifeln zwischendurch nicht wieder.

Mein erstes Ziel in Peking ist es aus dem Flughafen zu entkommen – mag nicht schwer klingen, ist aber durchaus eine Herausforderung. Möglicherweise bin ich auf Grund der dicken Luft, ich fühle mich unter der riesigen Glaskonstruktion des Flughafens wie im leipziger Tropenhaus Gondwanaland, etwas unkonzentriert. Vielleicht haben mich die Anweiser in ihren chinesischen Richtungsangaben tatsächlich falsch gelenkt oder der Weg zur Visavergabe ist einfach mit Absicht versteckt worden, auf jeden Fall schaffe ich es ohne Umschweife, sogar ohne langes Warten, direkt in den Abflugbereich meines Weiterfluges. Lockere 19 Stunden Wartezeit. Natürlich sagt mir jeder den ich frage entweder, dass er kein Englisch kann oder dass hier der Abflugbereich sei, einmal drin immer drin, man könne ja nicht durch die Sicherheitskontrolle wieder zurück. Ich lerne wirklich viele Flughafenmitarbeiter kennen. Irgendwann finde ich heraus, dass ich in eine rätselhafte 3. Etage muss, wo es dorthin geht? Keine Ahnung, keiner. Just all your way back. Thank you. Zuerst mache ich bei diesem kleinen „Escape-the-room“-Spiel mit Freuden mit, aber nachdem die einzigen auffindbaren Aufgänge zu dem ersehnten Stockwerk in den First-Class-Lounges enden und ich dort noch verständnisloser ob meines blöden Anliegens angeschaut werde, bin ich kurz davor aufzugeben. Schließlich geht die Zeit schon um, es ist keine Ewigkeit und ein tiefer langer Schlaf ist auch auf einer Wartebank erholend.

Mein rettender Engel ist am Ende ein „Staff only“-Aufgang, der allzu verlockend hinter einer Glaswand einen Weg nach oben weist. Mir wird sogar ganz offiziell von einer genervten Servicedame bestätigt, dass ich ihretwegen da lang dürfe und nach einer kleinen Diskussion an der Sicherheitstür gelange ich tatsächlich in den Bereich zum Auschecken. Formulare ausgefüllt, eine Menge kostenloses Trinkwasser genossen und totmüde stehe ich kurz dannach mit schlappen drei Stunden Verspätung an der Bushaltestelle vor dem Flughafen.

Peking beeindruckt mich sofort, schon vom Bus aus, in dem zur Begrüßung „typisch“ chinesische Klingelklang-Musik gespielt wird. Was ich von der Stadt bisher gehört habe, war bisher nur von meiner Mutter und meinem Großvater, die Geschichten aus den 80-er Jahren von Kakerlaken in den Zimmern und geschlachteten Tieren, die einfach an den Straßenecken hängen. Von diesem Peking finde ich wenig. Das was ich sehe ist nur die Innenstadt, großteils Touristenviertel und natürlich nicht repräsentativ für über 21 Millionen Einwohner des Großraums, aber zumindest auf meiner Tour überwiegt die Moderne völlig – fast schon wie eine Filmkulisse wirkt es, als ein paar mal zwischen den riesigen Repräsentationsplätzen und gläsernen Hochhäusern ein chinesisches Viertel auftaucht wie man es sich vorstellt: enge Gassen, quirlige Architektur mit vielen kleinen Läden, spitze grüne Dächer mit ausladend verzierten Ecken, von denen allerlei Ketten und Lampen herunterhängen, große bunte Werbetafeln aus Holz, mit neongelb und -rot verzierter Leuchtreklame „einladend“ blinkend. Alles hat den Touch von Verwegenheit, von Untergrund und harter Arbeit. Was nicht ganz passen will sind zum einen die Straßen – frisch geteert und im einwandfreien Zustand, sowie die Mülleimer – nicht unbedingt hübsche, aber doch sehr saubere und moderne Behälter mit Mülltrennung.

Solche Widersprüche fallen mir erstaunlich oft auf und ziehen sich durch alle Stadtteile, die ich gesehen habe. Inmitten der in Smog versinkenden Stadt gibt es andauernd Grünstreifen mit den herrlichsten Pflanzen direkt neben rasenden Boulevards. Ich sehe erstaunlich viele Straßen mit Fahrradwegen, die auch noch perfekt ausgebaut sind – doppelt so breit wie der Standard in Deutschland, durch einen niedrigen Zaun von den Autos abgetrennt und mit eigenen Verkehrspolizisten an den Kreuzungen – und das, obwohl ich das Gefühl habe, die gesamte Metropolregion wäre heute mit dem Auto in die Innenstadt gefahren. Auch der Gegensatz zwischen Tag und Nacht ist extrem: auf den Plätzen und Straßen, an denen sich noch am Abend die Leute tummelten, ob Touristen oder Einheimische, Geschäftigkeit herrschte und die Stadt in vollen Zügen lebte, gibt es mit Einbruch der Nacht plötzlich nur noch drei Gruppen: Polizisten, Bauarbeiter und Straßenreiniger. Vielleicht ist es mir am Tag nicht aufgefallen, aber in der Nacht stehen an jeder Ecke, nicht nur an den Hauptattraktionen, Polizisten mit ihren rot und blau blinkenden Uniformen. Mit der Dunkelheit öffnen sich an diversen Gebäuden große Tore, aus denen Menschen Werkzeug, Sand und ihre dreirädrigen Minilastwagen holen, um die nunmehr leeren Straßen neu zu bevölkern. Die Putzkräfte machen sich etwas später ans Werk um über Nacht wirklich alles zu säubern: Brücken, Straßen, Gehwege, Parks, Bäume, Straßenschilder, alles.

Einige dieser Kontraste lösen sich auch auf. Die Sache mit den vielen hübschen Pflanzen zum Beispiel. Als ich schon auf dem Rückweg zum Busbahnhof bin, laufe ich eine große Allee mit vielen Bäumen entlang. Ich komme dabei an einigen Menschen vorbei, die dabei sind die Bäume zu bewässern, ich denke mir erst gar nichts, will einfach durch gehen. Schließlich schadet es aufgrund der auch nachts anhaltenden Wärme nicht, ein bißchen nass zu werden. Plötzlich rufen die Arbeiter mich laut zurück und hupen aggressiv, ich verstehe natürlich nichts, bleibe aber lieber stehen. Was auch besser ist, denn nachdem sie kurz stoppen und ich vorbei kann schlägt mir ein wohlbekannter Geruch in die Nase: wenn wir in der Schule mit etwas älteren Aquarellfarben gearbeitet haben, dachte man beim Öffnen der Behälter immer, dass man gerade Gläser voll von faulen Eiern in der Hand hält. Gemischt mit etwas Chemie trifft das den Geruch dieses „Wassers“ ganz gut. Also weniger Natur an den Bäumen als gedacht.

Ansonsten sind die Bepflanzungen und Parks in Peking wirklich himmlisch. Vor allem in und um der Verbotenen Stadt treffe ich auf reihenweise schöner Parks. Nicht gerade befriedigend, weil die Pekinger ihre Parks nachts wohl gerne geschlossen haben. Aber von außen wirken sie schön. Immerhin. Nur einen Park, mein Lieblingsplatz in Peking, habe ich wirklich betrachten können. Am Südende des Platzes des Himmlischen Friedens, wo das alte Hauptstadttor und sein Wachturm als Turmpaar stehen, die auch heute noch, gerade durch den frühmorgentlichen dunklen Nebel hindurch eine unglaublich göttliche Ausstrahlung haben, wo ich völlig verstehe, wie man durch Symbole und Pracht Glauben erzeugen kann, gibt es eine kleine Grünfläche mit einer Vielzahl bunter Blumen und zum Boden hängenden Bäumen. Vor allem verbinde ich mit diesem Ort einen erholsamen Schlaf, den ich in dieser Nacht nur dort, neben einer der kleinen Gänseblümchenwiesen gefunden habe.

Mit den Menschen aus Peking habe ich dagegen leider relativ wenig Kontakt. Die zwei großen Barrieren sind natürlich die Nacht und die Sprache. Objektiv spreche ich über den Tag mit sehr vielen Menschen, aber es geht selten über „Do you speak English?“ – „No“ – und ein bißchen verzweifelte und kaum weiterführende Zeichensprache hinaus. Nur ein paar Jugendliche lerne ich in einem McDonalds kennen, JJ und ihre Freunde mit sehr viel komplizierteren Namen. Ja, ich gehe in einer fernöstlichen Stadt in ein McDonalds, aber zu meiner Verteidigung: hauptsächlich um irgendwo Internet aufzutreiben, ich will mich dann doch mal zuhause zu melden und um meinen in der Fremde doch nicht ganz unwichtigen Akkustand von 5% aufzubessern. Essen ist miserabel, Internet funktioniert schlecht, Strom gibt es nicht, aber ich treffe eben JJ&Co. Sie kommen gerade aus irgendeinem Spielecenter und haben dort etwa 15 Kuscheltiere gewonnen, weil einer von ihnen scheinbar unglaublich begabt darin ist, solche Automaten zu bedienen, bei denen man mit einem Greifarm Dinge aus einer Glasbox ziehen kann. Sie können einigermaßen Englisch und wir unterhalten uns eine ganze Weile über Peking, die Mongolei und Spielautomaten, sehr lustige und aufgeschlossene Menschen. Jedenfalls verlasse ich das Lokal um fünf Kuscheltiere, 10 mongolische Tugrik, einen Kaffee und jede Menge Motivation reicher.

Letztendlich finde ich aber nicht viel Ruhe. Von dieser Stadt, in der die Sonne um 17:30 in den schönsten Orangetönen im Smog untergeht, deren Zentrum in der Nacht so stark von Polizei und Militär kontrolliert wird, dass ich mich selten traue mich einfach irgendwo hinzusetzen und durch deren Straßen ich mich nachts wie durch ein riesiges Labyrinth kämpfen muss, weil die Wege immer wieder aus ersichtlichen oder geheimen Gründen durch eine Vielzahl an Zäunen abgesperrt sind, habe ich sicher nicht das wichtigste oder aufregendste gesehen. Das Touristenoffice, in dem ich mal nach dem Sehenswerten gefragt habe, konnte mir auch nicht mehr als den Platz des Himmlischen Friedens und einen sowieso geschlossenen Park nennen. Auch von meinen persönlichen kleinen Zielen habe ich nur wenig erreicht: sei es eine Akkuladung, etwas mehr Internet, gutes Essen, eine Polizeistation oder ein Hotel in dem ich mich, wie angeblich notwendig, registrieren lassen kann (hat sich zum Glück bei der Ausreise keiner darum gekümmert) oder ein gemütlicher Schlafplatz – sich einfach auf eigene Faust und ohne Kommunikation die über Google-Übersetzer hinausgeht in einer komplett fremden Riesenstadt zurechtzufinden ist eben doch extrem zeit- und nervenaufwendig. Aber totmüde, mit 3% Akku und auf die Minute pünktlich am Bus zum Flughafen angekommen, bin ich doch sehr glücklich und gesättigt von dem Aufenthalt. Aus einer ungewöhnlichen Perspektive und immer von der Straße aus habe ich vieles gesehen und gelernt, das ich mir in keinem pekinger Hotel während eines noch so schönen Schlafes erträumt hätte. Ich bin vollkommen unwissend in eine Fremde geworfen worden, immer in dem Wissen auch gleich wieder herausgezogen zu werden. Und ich bin höchstmotiviert nochmal nach Peking zurückzukehren, diesmal mit etwas mehr Plan, sicher nicht alleine und unbedingt mit einer Unterkunft. Aber ich denke wenn man mit dem Gedanken eine Stadt verlässt, sie sicher nicht das letzte mal gesehen zu haben, egal wie wahrscheinlich das auch sein mag, war der Besuch ein voller Erfolg.

Good to go (Nachtrag zum 13.09.)

Vor dem Abflug will ich raus aus dem ekligen Flughafengebäude, an die frische Luft.

Ich sitze in Frankfurt vor dem Terminal, dort wo die Taxis abfahren und man zu Fuß gar keine Chance hat wegzukommen, weil die Straße auf beiden Seiten unmittelbar in die Autobahn überlaufen. Vor mir ein riesiges graues leicht sozialistisch anmutendes Hotel, daneben die Schnellstraßen, die sich in zahlreichen Schnittstellen tummeln, während die Autos ankommen, eilig abfahren, vorbeirasen oder neben mir an der Parkplatzschranke bremsen, anhalten und wieder beschleunigen. Zwischen den Straßen und der Geschäftigkeit wachsen Bäume dicht an dicht, verwildert und kraftstrotzend. Sie fühlen sich pudelwohl dort und achten gar nicht auf den Verkehrs-, geschweige denn auf den Fluglärm. Es regnet. Das hatte sich schon lange angekündigt, doch gerade als ich aus dem erstgefundenem Ausgang des Flughafens trete, beginnt es in heftigen Schauern, unterbochen durch leichtes Nieseln, zu schiffen.

Es ist ein schöner Abschied. Noch einmal deutsche Geschäftigkeit, noch einmal die heimatliche Ruhe spüren und den spröden Regen noch einmal abkriegen. Das Vordach des Flughafens scheint nicht dafür konstruiert zu sein, dass man trocken bleibt, jedenfalls gibt es alle zig Meter eine Lücke im Dach, ein paar kleine Duschen sind beim Luft schnappen also inklusive. Noch einmal deutsche Perfektion.

Nach den zehn Tagen Vorbereitungsseminar bin ich endlich enthusiastisch loszulegen. Ich möchte mich in die Fremde stürzen und mit ihr verschmelzen, nach neuen Lebensgefühlen und neuen Realitäten suchen. Ich will mich ändern und sei es nur zeitweise für dieses eine Jahr.

Viel über das Seminar erzählen werde ich hier nicht. Vielleicht später mal (eigentlich höchst unwahrscheinlich), denn jetzt bin ich zum einen zu sehr woanders mit meiner Aufmerksamkeit um alles nochmal zu reflektieren, zum anderen bin ich auch einfach froh, über die Vorbereitung hinaus zu sein, bereits einen Schritt weiter zu stehen. Das heißt keinewegs, dass ich nicht gerne zurückschaue. Es war eine der schönsten und intensivsten Zeiten meines Lebens und relativ zur Zeitspanne von zehn Tagen sicher auch eine der lehrreichsten. Nicht unbedingt auf den Inhalt bezogen zwar, aber auf den Umgang sicherlich. Den Umgang mit einem viel zu großen Input an Anregungen und den Umgang mit Menschen – mit einer viel zu großen (320 Mann* und Frau* starken) Gruppe sowie mit einzelnen Persönlichkeiten.

Durch die Sicherheitskontrolle gekommen stehe ich vor der ewiglangen Abflughalle, natürlich startet der Flug am hintersten Ende. Hier, also im quasi deutschen, aber internationalem Raum, wird mir nach all den Abschieden bewusst, dass es durchaus ein „Deutschsein“ für mich gibt. Mit dieser Frage – dem Problem der gemeinsamen Kultur eines Landes – haben wir uns im Vorbereitungsseminar intensivst auseinandergesetzt und dabei habe ich mir die Frage immer wieder venunftsgemäß beantwortet: nein, es gibt für mich kein deutsch oder nicht deutsch, höchstens eine gewisse Häufung bestimmter Eigenschaften in einem Raum (der selten ganz Deutschland betrifft), die aber auch innerhalb dessen so vielfältig und konträr sind, dass ich nichts davon zum Stereotyp oder zu einer Erwartung erheben würde. Mein Gefühl beim Abschied widerspricht dem. Nicht in ganz bestimmten Punkten, nicht bei konkreten „deutschen“ Eigenschaften, aber darin, dass dieser Staat eben doch als ein Land existiert, als eine große Heimat für mich.

Am Flugzeug fangen die Turbinen langsam an zu dröhnen, der Himmel ist bereits wieder vollkommen aufgeklart. Es ist dunkel geworden, ich bin froh die nächsten Stunden nur noch in meinem Sessel zu sitzen. Ich kann sogar einige Sterne ausmachen, da der Flughafen mir abgewandt liegt und ich durch die grellen Spiegelungen am Fenster gerade noch ins Dunkel schauen kann. Ganz schwach mache ich den Großen Wagen aus, ein zwei Sterne dazugedacht. Er fährt schließlich rückwärts am Fenster vorbei und andere Sterne, die bunten Lichter des Flughafens rollen ins Sichtfeld. Umso schneller das Flugzeug wird, verschwimmen sie langsam, blau, grün, gelb, rot und violett blinkend. Ich sitze inmitten einer chinesischen Reisegruppe. Egal wie vereinfachend Klischees sind, hier treffen doch allzu viele zu. Fröhlich lachend, sich durch das halbe Flugzeug unterhaltend, im letzten Moment nochmal aufstehend um Sachen aus der Gepäckablage zu holen und um die Stewardess möglichst früh in den Wahnsinn zu treiben macht ein Teil der Gruppe schnell noch ein letztes Gruppenselfie, ich habe die große Ehre dabei zu sein.

Die Länder unter uns verschwinden sofort in der Dunkelheit, keine Kontur ist mehr zu erkennen und es könnte bereits nach zwei Minuten irgendein Land sein, das ich da verlasse. Das einzige sichtbare sind die Lichter, Laternen ohne Ende. Nicht wie Flughafenlichter in allen denkbaren Farben, sondern wieder in einem Schimmern wie Sternenlichter, gelb und zu Zeichen geordnet. Sicher hat im Fall der Straßenlaternen jemand etwas ordentlicher sortiert, als in den Sternen – es gibt mehr gerade Linien, es wurden bei dieser Planung etwas mehr Geometriekenntnisse angewandt und natürlich umweht die Bodensterne immer ein Hauch der Zweckhaftigkeit. Aber nichtsdestotrotz, in diesem Moment, als ich das erste mal wirklich selbstständig aufbreche und mich traue ganz real zwischen den zwei Sternebenen zu stehen, dem sicheren Boden und den lichtjahre entfernten Sternen, scheinen mir beide absolut gleichwertig. Man war so kreativ bei der Vergabe der Sternbildernamen, ich frage mich warum man nicht auch die Städte auf diese Weise bennent. Es wäre so viel lustiger, so viel einfacher: alleine im Umkreis von Frankfurt gäbe es die Orte Pilz, Fuß, Murmeltier, Zebra, Ming-Vase und natürlich zahlreiche Spinnennetze. Vielleicht komme ich nach dem Jahr mal dazu, dieses Problem zu lösen.

Geschlafen habe ich wenig auf dem Flug, was ich später noch bitter bereuen werde. Trotzdem bin ich froh als die kurze Ostwärtsflugnacht vorbei ist und die Sonne hell auf der tiefweißen Wolkendecke reflektiert. Nach dem Frühstück, das zunächst nur aus einem Matsch besteht, wie ich ihn vor 15 Jahren im Sandkasten nicht schlechter kreiert habe, dann aber durch eine großzügige Spende meines Nachbarn, der sich wie alle in der chinesischen Reisegruppe seine Extrawurst mitgenommen hat, deutlich aufgewertet wird, überqueren wir die mongolische Grenze. Die Mongolei hätte mich nicht schöner, nicht mit mehr Klischees empfangen können. Über dem mongolischen Weiten brechen die dichten Wolken zu einem endlos türkis-blauen Himmel auf, der von keinem Kondensstreifen, keinem Wolkenfetzen verschmutzt wird. Am Boden türmen sich kleine Gebirgszüge in einem blassen braun, als wäre der Stein von Hand aufgeschüttet und zusammengekehrt. Dazwischen Flachland, nur einseitig bewachsene Hügel, Grasweiten und ab und zu ganz unscheinbar eine Jurtengruppe. Der Boden wird heller und gelber, dann wieder karg und grün. Wir fliegen über ein kleines Dorf, ich hoffe inständig Bayan Ölgii ist größer als dieses, drumherum sieht man selbst aus der Höhe das unglaubliche Straßenchaos, beziehungsweise das Chaos der Routen, welche oft genug befahren wurden um sichtbar zu sein. Das Leben wird immer dichter, wir überqueren ein breites Flussbett, indem sich eine Vielzahl kleiner Flusssträhnen in unzähligen kleinen Kurven durch den Boden locken. Dann auch einige Haine und Felder, die so dicht liegen, dass sie sich beinahe gegenseitig berühren und schließlich fliegen wir tatsächlich an Ulaanbaatar vorbei, einige Kilometer entfernt – ich würde in diesem Moment am liebsten augenblicklich das Flugzeug verlassen. Ein Abstecher in die Millionenstadt Peking scheint hier so fern und fehl am Platz wie ein Meer hinter der nächsten Bergkette. Ich sehe zwar nicht viel von der mongolischen Hauptstadt, nur eine größere Häuseransammlung hinter einem größeren Hügel, aber schon das Bewusstsein, dass dies mit einem Vorsprung von knapp 1,3 Millionen Leuten die größte Menschenansammlung des Landes ist, entfacht mein Fernweh.

Einmal über die Mongolei geflogen habe ich eine oberflächlichen Eindruck des Landes. Dass alles Oberflächliche, zumal aus 10.000 m betrachtet, stark vezerrt ist und nur vorhandene Vorstellungen unterstützt ist mir klar. Schon deshalb kann ich es kaum erwarten nach meinem 20-stündigen Aufenthalt in der Nachbarshauptstadt wieder über die Mongolei zu fliegen – aus der anderen Richtung und diesmal um endlich für eine lange Zeit zu landen.

Schwer zu halten

Wenn es auch ein Jahr der Veränderungen werden soll, fange ich doch mit dem an was bleibt: mein Zuhause, meine Freunde, mein Zimmer. Tatsächlich ist es dieses Bleibende, das mich in den letzten Tagen viel mehr beschäftigt hat, als das Kommende. Mein zuhause, meine Familie verlasse ich in dem Wissen drei großartige Reisen zu verpassen – auch wenn sich meine Reise für mich natürlich vielfach mehr lohnt. Mein Zimmer ist mühsam so hergerichtet, dass es bleiben kann wie es ist, notfalls für immer – mein persönliches Zelt ist bereit weitergegeben zu werden, sei es als Gästezimmer, Zweitzimmer, Mal- oder Arbeitsatelier. Die Abschiede, zahlreiche und unglaublich herzliche Abschiede, haben mich mehr beschäftigt als die Vorbereitung auf das Kennenlernen und fielen aus, als wäre es für immer.

Nur ich fühle mich nicht, als ginge ich auch nur annähernd für immer. Es ist nicht so, dass ich vorhätte auch nur eine Sekunde länger als dieses Jahr wegzubleiben. Schon jetzt freue ich mich aufs Nachhausekommen, auf den Moment des Wiedersehens, wenn meine Mundwinkel sich kaum mehr zusammenhalten können, wenn ich all die Menschen die ich jetzt schon liebe wiedersehe. Nur ein Jahr liegt dazwischen. Weder heißt das, dass ich viele Leute wahnsinnig vermissen werde, schließlich wird die Zeit, wenn sie sich nicht unerwartet unendlich ausdehnt, sowieso nur so dahinrinnen. Noch heißt das, dass ich die Zeit dazwischen, mein persönliches Auslandsjahr immerhin, nicht genießen will, neue liebenswürdige Menschen finden will und in meinem neuen Leben fürs erste versinken werde.

Aber zum einen bin ich gerade höchst zufrieden mit meinem aktuellen Leben – keine unangenehmen Pflichten, viel zuhause mit der Familie und ansonsten oft mit Freunden zusammen, viel Klavier spielen und schöne Unterhaltungen führen. Ausgewogen zwischen Tun und Nichtstun. So wie es mit ein paar Korrekturen und vielleicht etwas mehr Arbeit bleiben könnte. Mich aus dieser Position heraus in die Mongolei, auf die Suche zu begeben fällt mir schwer.

Zum anderen verspüre ich in keiner Weise den Drang, den gerade bei kulturweit so oft genannten Tellerrand zu überwinden. Mag sein, dass ich schon längst vom Teller gesprungen bin, mag auch sein, dass ich am ersten Rand sitze und sich nur neue Ränder auftun oder dass ich erst merken werde, wie weit im Tellerinnern ich troz allem nachdenkens sitze, zu weit um ihn überhaupt zu sehen. Möglich, dass sich meine Einstellung, meine Erfahrung durch die Zeit bestätigt sieht, möglich aber auch, dass mir die glühende Steppensonne erst den Teller unter den Füßen wegschmilzt und ich völlig erneuert und verändert wiederkomme. Im Moment halte ich beides für gleich wahrscheinlich und ich bemühe mich beide Optionen, Kontinuität oder Wandel, für mich offen und möglich zu halten.

Jetzt bin ich erstmal auf dem Weg zum Vorbereitungsseminar, 10 Tage am Werbellinsee. Meine Erwartungen halten sich in Grenzen, aber ich habe mir sagen lassen, dass durch ein Vorbereitungsseminar die Ängste vor dem Kommenden, falls man vorher noch keine  hatte, in jedem Fall spätestens dort aufgebaut werden. In diesem Sinne bin ich sehr zuversichtlich, dass meine Entdeckungslust stärker aktiviert wird und meine Aufregung auf ein gesundes Level steigt.