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Rund um den »kulturweit« Blog

Ganz tief Durchatmen

Ein verregneter Sonntagmorgen, die staubige Luft der letzten Monate klebt auf den Straßen. Ich, vollends deprimiert, hatte mich fälschlicherweise auf den Wetterbericht verlassen und sehe meinen Plan, heute endlich bei schönstem Wetter auf Wanderschaft zu gehen, buchstäblich ins Wasser fallen. Doch soweit sollte es nicht kommen. Ganze 3 Stunden später ist es noch bewölkt, aber trocken und der bestimmt 50 Jahre alte, gelbe russische Bus Nummer 106 schraubt sich langsam, schnaufend, dröhnend und klappernd von Tbilisis Altstadt aus die kleine Serpentinenstraße Richtung Kojori hinauf. In ihm sitzen Jule und ich, am späten Vormittag dem Wetter zum Trotz spontan verabredet, schnell für ein Reiseziel entschieden, ewig nach der richtigen Busverbindung gesucht und Hals über Kopf losgestürzt, als der Fahrplan dann feststand. Ringsum die Stadt erheben sich Berge, Herbstwälder, Felder, kleine Dörfer und, völlig abstrus und von jeglichem Anderen abgeschottet, ein Villenviertel. Am Straßenrand stehen und grasen freilaufende Kühe.
Von der Programmlehrerin eines anderen Freiwilligen wissen wir, dass neben den ländlichen Wohnhäusern hier einige Städter ihre Datschen haben, demzufolge nur an den Wochenenden hierher kommen. Neben uns sitzt ein schätzungsweise Mittdreißiger und hat neben seinem Rucksack eine anderthalb Meter lange Holzlatte auf dem Schoß.

In Kojori, dem unscheinbaren Örtchen angekommen, machen Jule und ich uns auf, die alten Ruinen der einstigen Festung zu finden.

Auf dem Weg dorthin durch den Matsch gestiefelt und von mehreren anhänglichen Hunden um ein Stück von unserem notdürftig gekauften Brot angebettelt, wurden wir schließlich mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt. Die Kamera und ich haben uns alle Mühe gegeben, diese Eindrücke einzufangen. Das Gefühl, welches man dort oben verspürt, kann man jedoch nicht beschreiben, nur erleben.

Mutterseelenallein stehen wir beide vor der Ruine, beobachten, wie der letzte Nebelschleier durch das Gemäuer zieht und langsam die Sicht auf das Umland kilometerweit frei wird. Wir klettern durch den schmalen Zugang zur Ruine, quälen uns in schwindelerregender Höhe schmale Metalltreppen hinauf und laufen zum Gipfel. Und als wollte man uns für unsere Ausdauer belohnen, zieht es endlich auf.

Ein Ort, den ich definitiv nicht vergessen werde und ein Tag, der mich wieder einmal so unheimlich dankbar sein lässt für das, was ich hier erleben darf.

Anne SOphie

Die ersten Tage in der bisher schönsten Stadt meines Lebens

Garmajoba, da bin ich wieder. Reichlich eine Woche wohne ich nun schon in der georgischen Hauptstadt. Man könnte meinen, ich sei angekommen. Kurz vorweg: Das bin ich auch. Und herzlicher hätte man mich wohl auch kaum empfangen können. So etwas wie einen Alltag besitze ich allerdings noch nicht. Aber Moment, ich versuche es des Verständnisses halber von vorne.

Mein erster Flug war gut, anstrengend, lecker und herzallerliebst… Mit 20 Minuten Verspätung sind wir kurz nach 22 Uhr in München gestartet. Hossa, der große Flieger legte anders los, als die kleine Maschine nach München (mein eigentlich erstes Mal neben einem sehr netten, routinierten Dozenten der TU Dresden, der sich wahrscheinlich gewundert hat, warum dieses kleine Kind neben ihm pausenlos aus dem Fenster starrt, Fotos macht und sich über Wolken freut.). Über Ungarn kam es zu ziemlichen Turbulenzen, essenstechnisch hat man uns auf Mitternacht vertröstet. Endlich satt wurde unbequem geschlafen und beim Landeanflug ein Pfefferminzdrops aus der ersten Klasse gelutscht. Wie ich da rankam? Tja! Von einem wahnsinnig netten Flugbegleiter haben wir in einem Kissenbezug 3 Servicetäschchen in die 2. Klasse geschmuggelt bekommen. Wir sahen beim Einsteigen anscheinend sehr traurig aus, als wir fragten, was denn da so alles drin sei und warum wir keine bekämen. Vom Flughafen von der allerliebsten Vermieterin der Welt abgeholt (Tamta, der Name wird hier sicher noch öfter fallen) und im Übergangsapartment ausgeschlafen, machte man sich zur ersten Noteinkaufstour auf und endete mit Gänsehaut in der Altstadt Tbilisis. Die Momente in der Seilbahn mit einem atemberaubenden Blick auf die Stadt, das anschließende erste Khatchapuri (eine Art Käsebrot) in einem kleinen Restaurant und die wilde Einführung in den städtischen Verkehr werde ich wohl definitiv nie vergessen.       Auch die nächsten Tage verliefen nicht weniger ereignisreich. Es wurde der Schulweg ausgekundschaftet und sich in der Schule vorgestellt, in den anschließenden Tagen die Fahrt mit der Marschrutka Nummer 147 selbstständig bestritten, in die finale Dreizimmerwohnung umgezogen, für den ersten Großeinkauf ein Supermarkt geentert, in einer großen Freiwilligenrunde Badridjani, Tschutschchela und Chinkali gegessen und Freitagabend mit Tamta und ihren Cousins der Lisi Lake besucht. Zu den täglichen Marschrutkafahrten kamen einige mit dem Taxi hinzu, bei denen man nicht zuletzt vom Taxifahrer mit georgischer Musik beschallt (Ich schreibe beschallt, weil laut, nicht weil schlecht!) oder seinen Söhnen versprochen wurde.

   

Die aber wohl eindrucksvollsten Stunden bisher verbrachte ich Freitagnacht am Turtle Lake. Eigentlich schon viel zu müde und von der Klimaanlagenerkältung heimgesucht, entschieden wir uns trotzdem, mit Tamta und ihren Cousins noch in eine Bar zu gehen. Die georgische Trinkkultur ist, abgesehen vom Chacha (dem georgischen Vodka) oder den regionalen Weinsorten, keine Frage etwas Besonderes, etwas Schönes. Bei jedem Schluck wird vorher erklärt, worauf man trinkt. Es einen Trinkspruch zu nennen, erscheint mir zu platt und einfältig, um das Prozedere zu beschreiben. Man trinkt auf das Glücklichsein, den Familienzusammenhalt, die Frauen, die Kinder, auf die eigene Geschichte und auf eine sichere Zukunft.
Von diesem Abend nehme ich deshalb unheimlich viel mit. Und eins steht fest: Wir haben hier schon jetzt unglaublich herzliche, hilfsbereite und liebenswerte Menschen kennengelernt, ohne die unser Ankommen wohl nicht so schnell gegangen wäre. Darauf müsste ich trinken.
Eingeladen wurden wir an diesem Abend natürlich auch schon wieder. Etwas, das uns hier ständig passiert – wir warten auf Revanche. “No, you don’t need to pay, it’s our tradition!“ – Was soll man darauf noch sagen?

Anne SOphie

Herz auf Packmaß

So, ich schreibe den Blogpost in einer kleinen Verschnaufpause – wenn ihr mich fragt eine in den letzten Tagen etwas rar gewordene Angelegenheit: 9 Tage Vorbereitungsseminar liegen bereits hinter mir. 9 Tage gespickt mit zahllosen ersten Begegnungen, ständigen Listeneintragungen, klirrenden Metalltrinkflaschen, einem spontanen Pullikauf (weil unvorhergesehener Herbsteinbruch), vollen (und leeren) Kekstassen, Joggingrunden, Tanzeinlagen, georgischem Smalltalk, Filmvorführungen und einem abschließenden Zeitkapselprojekt. Doch damit nicht genug: Niemals hätte ich gedacht, innerhalb der ersten 10 Tage meines Freiwilligendienstes ein derart intensives Schulungsprogramm zu absolvieren. Schulungsprogramm jedoch nicht im Sinne des klassischen Lehrer-Schüler- (bzw. Trainer-Schüler-) Verhältnisses – also der ständigen Konfrontation mit neuen Informationen oder stupidem Auswendiglernen. Hier wurde vielmehr heftig diskutiert, gesellschafts- und selbstkritisch analysiert. Und so prallt das entwickelte Bewusstsein über die eigene privilegierte Identität auf bisherige Vorstellungen, streitet mit dem auf einmal so präsenten Wissen über soziale Ungleichheit, rassistische Realität und wahre Machtstrukturen. Es dreht und wendet sich im Kopf. Dankbarkeit wechselt zu Scham, wechselt zu Verantwortung. Fragen über Fragen und (m)eine zukünftige Rolle, die zweifelsohne einen Spagat schaffen muss ohne sich selbst zu vergessen. Ich bin dankbar, all diese Eindrücke, Erkenntnisse, Gedankenfetzen und offenen Fragen mitnehmen zu dürfen und gespannt, was daraus wird. Trotzdem heißt es, so kurz vor meinem Flug, alles auf Packmaß zu bringen. Ich habe nur 23 Kilo und mit schwerem Herzen fliegt sichs’ schlecht – vermute ich mal.

Also, drückt mir die Daumen für meinen allerersten, terminierten Luftsprung über ganze 3200km.

Anne SOphie

Von einem bisher einzigartigen Jahr, den besonderen Erkenntnissen des Abschieds und vom Suchen und Finden

2017 – was für ein Jahr! Für manche mag es vermessen klingen, das jetzt schon zu sagen – Ende August. Aber dieses Recht räume ich mir ein, auch, wenn man bekanntlich den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Aber Lobeshymnen singen will ich gar nicht. Vielmehr möchte ich rekapitulieren und die Ereignisse der letzten Monate irgendwie greifbar machen. 2017 wollte ich die Ausbildung zum Skilehrer machen, volljährig werden und die letzten Monate meiner Schulzeit erleben. Ich wollte die Abiturprüfungen absolvieren und den Sporteignungstest der Uni Leipzig bestehen. Wollte ich – hab ich auch. Und obwohl ich so viele dieser Ereignisse schon Anfang des Jahres fest auf mich zukommen sehen habe, beginne ich einiges erst jetzt zu realisieren. Aber jetzt will ich ins Ausland – nach Georgien um genauer zu sein. Und damit vollzieht sich die wohl tiefgreifendste Veränderung in diesem Jahr, und ich begebe mich, wenn ich diesen Freitag Morgen in den Bus nach Berlin zum Vorbereitungsseminar steige, auf mein bisher größtes Abenteuer.

Wenn ich an die Ereignisse der letzten zwei Monate denke, an die Flugbuchung und die Wohnungssuche, die Impftermine beim Arzt, die Georgisch- und Deutsch-Tandem-Lernstunden und die letzten Urlaube mit meinen Eltern und meinem Freund, fühle ich mich, als wäre mir die Zeit wie Sand durch die Finger geronnen. Stets wirkte „der September“ noch so weit weg und war trotzdem unterschwellig immer präsent. Jetzt sind es noch nicht mal mehr drei Tage, die mir hier zu Hause bleiben. Zeit, die unaufhaltsam läuft, in der sich viele Gedanken gemacht werden über Packlisten, letzte Termine und die richtigen Momente für den Abschied. Aber den passenden Moment um Tschüss zu sagen gibt es, genauso wie die „perfekte“ letzte Zeit vor der Abreise, wohl nicht – zwei der vielen Dinge, die ich in den letzten Tagen gelernt habe. Das Meiste kann man planen, einiges wird sich erfüllen und auf wiederum anderes hat man keinen Einfluss. Das Gefühl, etwas wichtiges vergessen zu haben, wird sich bis zu meiner Ausreise nicht abstellen lassen und mit dem doch Übersehenen, Unerledigten werde ich umgehen. Was nachhaltig zählt, ist, die vielen letzten Male dieser Tage nochmal bewusst zu erleben und mitzunehmen – für eine Zeit voller erster Male. Erste Abschiede habe ich schon hinter mir, andere lassen noch auf sich warten, Tränen wurden – und werden sicherlich – jedes Mal vergossen. Doch auch wenn es schwer fällt wertvolle, wunderbare Menschen loszulassen – ich WILL gehen – zumindest für eine Zeit.

Viel zu lang habe ich diesen Traum vom Auslandsjahr gehabt, viel zu sehr hat mich das kleine fremde Land am Rande Europas, dessen Buchstaben für deutsche Münder so unaussprechbar und dessen Geschichte so alt ist, dass sich darum antike Mythen ranken (die es nebenbei bemerkt sogar in die Pflichtlektüreliste meiner Deutsch-Leistungskurs-Zeit geschafft haben), in seinen Bann gezogen. Wenn mein Flieger am Nachmittag des 11. September Richtung Tbilisi abhebt, kann ich der unstillbaren Neugierde auf Land und Leute und meine neue Heimat endlich Raum geben. Ich freue mich auf eine Zeit, voller neuer Erfahrungen, auf knifflige Herausforderungen und auf einzigartige Bekanntschaften.
Ich freue mich auf eine Zeit, die mir die Augen öffnet, auf die Finger haut und mich über mich selbst hinauswachsen lässt. Und auch, wenn ich das Goldene Vlies im Land der Kolcher wahrscheinlich nicht finden werde, weil es die Argonauten einst längst fortgetragen haben, finde ich innerhalb der 6 Monate vielleicht ein bisschen mehr zu mir selbst.

Inwieweit mir das alles gelingt, wirst du hier lesen können.

Anne SOphie