Gefangen zwischen Abenteuer und Heimat

Gefangen zwischen Abenteuer und Heimat. Manchmal kann ich das eine dem anderen nicht vorziehen. Soll ich nun jedes Wochenende die größten Abenteuer, die weitesten Reisen, den höchsten Berg vor mir haben? Oder sollte ich besser so viel Zeit wie möglich in meiner ungarischen Heimat verbringen? Es gibt noch so viel zu sehen, meine Liste würde jede Papyrusrolle sprengen. Alternativ könnte ich auch viele unterschiedliche Papyrusrollen in Betracht ziehen und sie etappenweise zur Realität werden lassen. Das klingt nach einem Plan. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass Osteuropa und insbesondere Ungarn auch in Zukunft immer für meine Einreise zur Verfügung stehen. Denn in Ungarn werde ich garantiert nicht das letzte Mal gewesen sein. Und von Osteuropa will ich gar nicht erst anfangen…so viele Reiseziele, die es gilt, gesehen zu haben.

Den Spagat zwischen Reisen und Heimaterkundung habe ich in der letzten Zeit ziemlich viel geübt und bin mittlerweile Profi geworden. Ich habe es mir nicht nehmen lassen, auch mal ein Wochenende zu Hause in Nagykálló zu bleiben. Das erste seitdem ich hier angekommen bin. Dieses Wochenende, was schon ein Weilchen zurückliegt, hat meine Begeisterung für Nagykálló nochmal absolut in die Höhe katapultiert. Ich bin nun wirklich schon (fast) offizielle Ungarin. Nicht nur, dass bei mir kein Essen ohne Tejföl (die ungarische Saure Sahne) auf den Tisch kommt und ich das ungarische Füllwort benutze (anstatt ääähhhm, sage ich hát), nun habe ich auch das traditionelle ungarische Sonntagsessen erfahren. Die Reihenfolge spielt hierbei eine entscheidende Rolle: kleiner Verdauungsschnaps zu Beginn, gefolgt von der Suppe, wobei zuerst das Gemüse gegessen wird und dann die Brühe, zwei verschiedene Gerichte mit Beilagen bilden das Hauptgericht und Nachspeise ist typisch ungarischer Kuchen. Ich kann euch sagen, das war ein Genuss. Ein weiterer Genuss war meine erste kleine Weinverkostung. Nicht weit von der Region, in der ich gerade wohne, liegt Tokaj. Tokaj ist ein sehr bekanntes Weinanbaugebiet, im Norden von Ungarn gelegen, mit bestem Weißwein.

Und joa, dann war ich ja auch noch ganz viele andere Tage hier in Nagykálló. Aber wie so oft, merkt man erst am Ende wie schön es ist. Ich fand es hier schon immer klasse, aber in den letzten Wochen fand ich es doppelt so klasse. Das liegt vor allem daran, dass ich meinen Harry Potter Entzug stoppen konnte. Einerseits hat Coldmirror einen neuen Harry Podcast hochgeladen, andererseits habe ich das erste Mal seit zehn Monaten wieder einen Harry Potter film geschaut. Ein Glück hat Anja (meine Ansprechpartnerin an der Schule) Deutsches Fernsehen. Spaß…Harry Potter ist zwar cool, aber auf jeden Fall ein Luxusgut für mich. Die wahre Klasse meiner Zeit hier zeigt sich zum Beispiel in Fernsehabenden mit integrierter Spielpartie bei Anja und Familie oder bei meiner ersten Zusammenkunft mit dem ESC. Wer hätte es gedacht, dass ich das nochmal in meinem Leben gucken werde. Ich auf jeden Fall nicht, dafür musste ich erst nach Ungarn kommen. Mein Resultat fällt sogar gar nicht so schlecht aus, obwohl manche Lieder echt zu wünschen übriglassen. Ferner habe ich nun einen wahnsinnig feststehenden Sportalltag: zwei Mal die Woche Schwimmen und an den anderen Tagen Laufen oder Fahrrad fahren. Besonders am Schwimmen habe ich großen Gefallen gefunden, was nicht nur daran liegt, dass es eine Gemeinschaftsaktion der Deutschlehrerinnen ist, sondern auch, weil es mich einfach wahnsinnig entspannt.

Als Meisterin der Übergänge, muss ich an dieser Stelle auf den Anfang meines Textes hinweisen; ich zitiere: „Soll ich nun jedes Wochenende die größten Abenteuer, die weitesten Reisen, den höchsten Berg vor mir haben?“ Meine Antwort: Nein nicht jedes Wochenende, aber jedes zweite Wochenende ist schon(n) drin! Die höchsten Berge waren letztes Wochenende dran. Diejenigen, die die maue Bergsituation von Ungarn kennen, wundern sich vielleicht ein wenig. Aber ich rede auch nicht von Ungarn, sondern von der Slowakei, genauer von der Hohen Tatra, noch genauer vom Großen Kalten Tal. Quizfrage: Mit welchem Niederschlag überzeugt die kälteste Jahreszeit? Mit Schnee, ganz richtig. Und welchen Niederschlag würde man Mitte Mai eher nicht erwarten? Schnee, auch richtig. Jakob und ich machten uns ahnungslos auf den Weg in die Hohe Tatra. Schon der Ausblick aus dem Zug hat mich landschaftlich ins Staunen gebracht, doch das war nichts im Gegensatz zu unserer Wanderung, die wir uns am Abend vorher im Reiseführer ausgesucht haben. Am Ausgangspunkt angekommen, sind wir dann erst einmal mit der überteuerten Standseilbahn magere 250 Höhenmeter hochgefahren und haben den Wanderweg für Anfänger genommen, wie es unser Reiseführer sagte. Doch kurz darauf kam die erste Weggabelung beziehungsweise unser Wechsel vom roten auf den blauen Pfad. Blau steht für eiskalt. Der erste kleine Schneehaufen am Wegesrand löste vollkommene Euphorie in mir aus: „Pass auf, ich trete jetzt in den Schnee und höre dann bis zum Winter das letzte Mal Schneestapfen in diesem Jahr.“ Da habe ich mich aber ganz gewaltig verschätzt; unsere Wanderung ging durch die reinste Schneelandschaft. Bis zum Knie im Schnee versacken, überreizte Augen vom Schnee, im Schnee den Berg runterrutschen, zugefrorene Seen, entgegenkommende Skifahrer*innen … nichts blieb aus. Unsere Freude bei Ankunft der Hütte war immens, der Ausblick ebenso großartig wie unsere Wanderskills. Nach kurzer Pause in der Hütte sind wir in einem Affentempo runtergeschliddert und am Ende des Tages in der 26 Grad warmen Stadt glücklich und zufrieden über unseren Erfolg angekommen.

Apropos 26 Grad. Das Wochenende vor diesem Wochenende, sozusagen vorletztes Wochenende, war ich in Pécs. Pécs ist so ziemlich die schönste Stadt, in der ich je war. Kulturhauptstadt, Unseco-Weltkulturerbe, Palmen mitten auf dem Hauptplatz; die Stadt hat einiges zu bieten, insbesondere die ziemlich tolle WG von Antonia und Paula. Die beiden haben mir die Pécstour deluxe dargeboten. Darin enthalten waren Museumsgänge, Kirchenbesichtigungen, Lieblingscafés, Aussichtspunkte auf die Stadt, ganz viel Sonne und beste Gesellschaft. Die bunte Mischung machte das Wochenende in Pécs zu einem ganz besonderen und vergrößerte mein Bedauern, dass Pécs und Nagykálló gefühlt die am weitesten entfernten Orte in Ungarn sind.

Wie man merkt, geht’s mir bestens. Das Wetter tanzt nicht ganz nach meinem Willen, aber den Wettergott kann man eben nicht beeinflussen, da muss ich die Abwechslung halt annehmen. Ich setze einfach all meine Hoffnungen in die nächsten Wochen. Nur noch weniger als ein Monat in meiner Einsatzstelle. Aaaaarrgh. Meine Zugfahrkarte nach Deutschland ist schon gekauft und um ehrlich zu sein freue ich mich auch auf mein deutsches Zuhause. Doch da Ungarn auch zu meinem Zuhause geworden ist, wird das wohl eine ziemlich große Umstellung werden. Ich genieße jetzt noch weiter meinen Nachmittagssnack, meine ersten Erdbeeren in diesem Jahr und dann werde ich die nächsten Wochen genießen.

Tschüssi

 

3 Gedanken zu „Gefangen zwischen Abenteuer und Heimat

  1. käte von rönn

    ,
    hallo liebe Fenja,

    ich habe zur Zeit Besuch von meiner Freundin Dorle aus Philadelphia und wir lesen gemeinsam
    deinen Blog. Sie ist begeistert von deiner Ausdrucksweise und von deinen Themen.
    Wenn du wieder in Deutschland bist, wirst du sicherlich weiter schreiben, was dich so bewegt.

  2. Claudia

    Moin Fenja,
    schön, daß auch du über deine FSJ- Erlebnisse mit kulturweit schreibst. Deine Berichte gefallen mir, sie lesen sich sehr gut ?. Schön dass es dir in Nagykálló gefällt. Ich erinnere mich noch bestens an Karens Berichte und meinen Besuch dort vor genau einem Jahr. Genieße die letzten Wochen in vollen Zügen und hab´noch viel Spaß dort.
    Ich freue mich auf die noch folgenden Berichte von Dir.
    LG, Claudia
    (ich bin die Mutter von Karen)

    1. Fenja von Rönn Beitragsautor

      Hallo liebe Claudia,
      Wie schön, dass du meine Beiträge liest:) Nun ist wirklich nicht mehr viel Zeit übrig, aber nutzen werde ich die Zeit sicher.
      Ganz liebe Grüße aus Nagykálló

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