Die Veralltaglichung

Ich stehe an Alltagen um 06.00 Uhr auf. Hm, wenn man sich das sprachlich anguckt ist das gar nicht mal so blöd,  darauf, dass das Wort Alltag von allen Tagen abgeleitet wird, bin ich bisher gar nicht gekommen. Wie genau berichtige ich das denn jetzt? Vielleicht: Ich stehe alltäglich um 06.00 Uhr auf? Oder: Ich stehe an jedem Tag um 06.00 Uhr auf? Möglicherweise hat der Schüler aber auch gemeint, dass er an Werktagen um 06.00 Uhr aufsteht. Wer steht schon freiwillig am Wochenende um 06.00 Uhr auf?

Ja, die Sache mit der Sprache ist schon interessant. Seit Neuestem weiß ich zum Beispiel auch, was Adjektivdeklination ist und dass sich-Verben entweder mit Akkusativ oder mit Dativ stehen. Glücklicherweise muss ich Grammatik nicht selbst unterrichten, nein, ich darf viel lustigere Sachen machen.

In der Regel werde ich in der Binnendifferenzierung eingesetzt, das heißt, ich setzte mich mit jeweils drei bis acht Schülern an einen Tisch oder in einen Sitzkreis und unterstütze sie ihren Fähigkeiten entsprechend. Jedoch fördere ich in einer Klasse auch eine einzelne, sehr begabte Schülerin.

Den Anfängern versuche ich, Spaß an der Sprache zu vermitteln. Wir spielen zum Beispiel viele Sprachspiele wie Memory und Ich packe meinen Koffer, die die Vokabeln wiederholen, oder gucken uns auf YouTube passende Videos an. Unter anderem habe ich für ein Video über Bundesländer vorige Woche einen Arbeitsbogen erstellt, auf dem sie Bundesländer mit den dazugehörigen Sehenswürdigkeiten verbinden sollten.

Im Gegensatz zu den Anfängern, die kaum einen vollständigen Satz herausbekommen, kann man sich mit den Zehnt- und Elftklässlern schon einigermaßen unterhalten. Dadurch, dass ich bisher kaum Ungarisch spreche, sind sie gezwungen, mir Sachen auf Deutsch zu erklären, und das ist sehr gut, weil es sie zum Reden bringt. Genau das ist nämlich mein Ziel in ihren Klassen: ihre Kommunikationsfähigkeit ausbauen. Letztens habe ich beispielsweise ein Rollenspiel entwickelt, bei dem sie die Rollen eines Lehrers, eines Elternteils und eines Schülers einnehmen sollten, um über Schulnoten zu diskutieren.

Die Profis wiederum haben im Winter ihre DSD-Prüfung, und in dieser gibt es einen schriftlichen und einen mündlichen Teil. Bei ihnen liegt der Fokus auf den Themen Umwelt, Medien und Sport, und bei jedem der Oberthemen schimmert das Unterthema Gesellschaft durch. Auch hier bin ich vor allem für die mündliche Kommunikation verantwortlich, und im Kontrast zu den anderen Schülern kann ich mit ihnen viel intensiver in die Themen eintauchen.

Das führt dazu, dass sie mir ein genaueres Bild von ihren Ansichten vermitteln können. Mit einer Klasse behandle ich zum Beispiel das Thema Vegetarismus. Ein etwas kniffliger Punkt als deutsche Freiwillige ist dabei natürlich, nicht arrogant und überheblich zu sein und andere Ansichten zu tolerieren. Ich bin selbst Vegetarierin, aber als Moderatorin des Gesprächs muss ich mich überwiegend neutral verhalten. Es ist nicht so, als gäbe es in Ungarn keine Vegetarier – nur gibt es an meiner ungarischen Schule viel weniger als an meiner ehemaligen, deutschen Schule, und Vegetarismus ist für sie viel weiter entfernt.

Außerdem haben wir uns, nachdem am ersten Oktober in Deutschland die Ehe für alle legalisiert wurde, über Familienkonzepte unterhalten. Meiner Ansicht nach ist das Bild hier noch relativ konservativ, aber an dieser Stelle sollte man hinzufügen, dass erstens meine Einschätzung auf einem einzelnen Gespräch mit circa zehn Ungarn beruht und zweitens die Einstellung an meiner ehemaligen Schule zu diesem Thema teilweise auch nicht anders war.

Kleingruppen fördern ist jedoch nicht mein einziges Aufgabengebiet, immer öfter übernehme ich auch Vertretungsunterricht. Bei den jüngeren Schülern ändert es an der Lernatmosphäre kaum etwas, ob ich an der Tafel stehe oder mit ihnen im Stuhlkreis sitze, bei den älteren Schülern ist der Unterschied allerdings gravierend. Die Abiturienten sind teilweise genauso alt wie ich, und ob man am Gruppentisch auf Augenhöhe eine Diskussion moderiert oder vor der Tafel steht und Schüler drannimmt, wirkt sich sehr auf den Umgang miteinander aus. Mit Autorität komme ich in meiner Rolle als Freiwilligen nicht weit, stattdessen arbeiten die Schüler viel besser mit, wenn ich andere Führungsstile nutze.

Bisher wurde ich nur im Deutschunterricht eingesetzt, aber auch die Spanischlehrerin hat gefragt, ob ich sie unterstützen kann. Mit Schrecken musste ich jedoch feststellen, dass meine Spanischkenntnisse seit meiner Abiturprüfung vor nunmehr sechs Monaten (Waaas??? Schon sechs Monate???) sehr gelitten haben. Ich sollte unbedingt mal eine spanische Serie gucken oder ein spanischsprachiges Buch lesen!

In meiner Umgebung wird außerdem zunehmend Ungarisch gesprochen, auch in der Deutschfachschaft. Das führt dazu, dass es mich immer mehr nervt, kaum Ungarisch zu können – wahrscheinlich ist das sogar der Effekt, den sich meine Kollegen wünschen: dass ich intensiver und schneller Ungarisch lerne, wenn sie nicht ausschließlich Deutsch sprechen. Funktioniert jedenfalls ganz gut, ich kann inzwischen einzelne Worte aus einem Redeschwall heraushören. Allerdings bin ich noch weit davon entfernt, ein zusammenhängendes Gespräch auf Ungarisch zu führen.

Außerhalb der Schule ist es mir unmöglich, auf Ungarisch zu kommunizieren. Meist weiche ich dann instinktiv ins Englische aus, nur um festzustellen, dass kaum jemand Englisch kann. Oft sind die Deutschkenntnisse sogar besser als die Englischkenntnisse, und trotzdem greife ich immer wieder automatisch auf Englisch zurück.

So sehr ich mich freue, dass sich mein Alltag immer mehr herauskristallisiert und der Umgang mit den Sprachen sich langsam, aber sicher entwickelt, so sehr bin ich auch auf die nächste Woche gespannt, denn von Dienstagnachmittag bis Freitagabend bin ich in Kosice (Slowakei), um ein Schulprojekt zum Thema Migration in der EU zu begleiten. Klar, Unterrichten ist spannend. Aber auch die kommenden Projekte werden garantiert interessant und lehrreich.