Reisen mit Herz / Baden mit Bergblick (Tag 233-241)

5:30 Uhr. So früh bin ich seit Februar nicht mehr wach gewesen.

Das Haus verlassen. Wärmer als gedacht. Perfekt in Jeans und Pulli.

Der altbekannte Weg zum Bahnhof.

Das Morgenlicht ist so schön, dass ich ständig stehen bleiben muss um Fotos zu machen.

Plattenbauromantik

Jetzt aber schnell zum Bahnhof rennen!

„Един билет до Казанлък.“

„Касанлък? Ehhh.“ Bekomme ich als Antwort.

Ich beeile mich, der Zug steht schon da. Wir fahren los und wie immer bin ich eine gute Stunde einfach nur damit beschäftigt fasziniert aus dem Fenster zu schauen. Ohne Musik, ohne Handy, Buch, Tagebuch. Einfach nur schauen. DIe wahrhaftig blauen Berge, das goldene Morgenlicht, gelbe Felder, alles grün vom Regen, der Klatschmohn rot dazwischen. Dann hole ich doch mein Tagebuch heraus. Irgendwann schlafe ich ein, wache zum Glück rechtzeitig vor dem Umstieg auf. Wir sind schon im Zentralbalkangebirge. Die Luft ist kühler, es ist zugewuchert, der Dschungel Bulgariens. Wir fahren durch kleine Dörfer. Jeder Bahnhof sieht gleich aus. Hübsche Kirchen, wilde Flüsse. Noch ein letztes Mal umsteigen, dann habe ich es geschafft. Ich sehe die ersten Rosenfelder im Tal der Rosen. In der Ferne im Gebirge das riesige Ufo. Das Buzludzha Monument. Beeindruckend.

Ich steige aus. 5 Stunden fahrt hinter mir. Die Luft ist schwül. Simon sitzt auf einer Bank vor dem Bahnhofsgebäude. Ich laufe straight an ihm vorbei um zu allererst nach dem Schlüssel für die Toilette zu fragen. Mal wieder kein Klopapier, die Tür geht auch nicht zu, aber was solls. Dann, so wie es die Tradition will, wenn man unterwegs ist folgt ein Billafrühstück. Baniza mit Sirene und Spinat und ein Apfel. Wir sitzen, bis wir uns zum Busbahnhof aufmachen. Wo fährt bloß der Bus nach Koprinka? Nach ein wenig umhergeirre und ein paar Fragen sitzen wir tatsächlich an der richtigen Bushaltestelle. Wir haben keinen Zeitdruck, nirgendwo zu sein. Deshalb macht es uns nichts aus, dass der Bus sich anscheinend nicht an den Fahrplan hält. Irgendwann kommt er dann doch um die Ecke. Wir steigen ein in den Bus mit der Aufschrift: Reisen mit Herz. Ja, das tue ich hier immer. Dem Busfahrer geht es ähnlich wie mir, er muss es sich schön machen an seinem Arbeitsort. Auch, wenn ich eine andere Auffassung von schön habe. Sein Fahrerbereich sieht aus wie die buntgeschmückten Lastwagen in Pakistan, außerdem dröhnt uns Musik entgegen. Es fängt an zu nieseln und wir sitzen mal wieder.

In Koprinka, einem Dorf, steigen wir aus um nach Koprinka, dem See, zu laufen. Zum Glück habe ich mein Navi Simon dabei und laufe ihm einfach hinterher, pflücke Kirschen vom Baum an der Straße und genieße die Sicht auf die Berge. Wir laufen an der Straße entlang, über Felder, die Luft ist immernoch schwül und die Regentropfen tun gut. Wir laufen durch einen Kiefernwald, es riecht nach Urlaub. Dann sehen wir den See! Umgeben von Anglern, in der Ferne eine Staumauer, beherbergt der See eine thrakische Stadt, von der wir nichts gesehen haben. Wir machen uns auf die Suche nach dem besten Platz um unser Zelt aufzuschlagen. Dabei entdecken wir einen innoffiziellen Campingplatz. Dauercamper haben sich dort ihr eigenes Paradies erschaffen und wir laufen neugierig über den Platz.

Hier hat wohl jemand einen Arbeitsplatz in der Natur eingerichtet

Der perfekte Platz ist wie immer der Erste, den man sich ausgesucht hat. Also ran an die Arbeit! Nach ein paar Irritationen steht das Zelt. Ein Zwei-Mann/Frau Zelt. Wir sind zu Dritt. Jeder hat 40cm.

Sieht man doch gleich, dass hier drei Personen locker Platz haben

Jetzt wo das Zelt steht muss ich ein bisschen lachen aus Verzweiflung. Wir sitzen am See, schauen aufs Wasser und die Berge, die Zeit vergeht. Wir laufen zurück ins Dorf zum Mini Market, kaufen Brot, Frischkäse und Lutenitsa, warten auf der bank auf den mysteriösen Bus. Ein Taxi hält und nimmt uns für den Buspreis mit zurück nach Kazanlak. Im Zentrum laufen wir an der Bühne vorbei an den Rosenständen entlang. Rosen in jeglichen erdenklichen Produkten, hässliche Plastikfiguren, Holzbretter, Messer, Schmuck. Nichts, was mich ansprechen würde.

Am Bahnhof holen wir Josi, Maite, Paula und Bele ab. Vollbepackt geht es wieder zur Bühne und wir schauen zu wie die Rosenkönigin auf einem Streitwagen von einem Typ im Cäsarkostüm herbeigezogen wird. Wir müssen unser lautes Lachen unterdrücken. Über uns mal wieder ein Feuerwerk. Die Luft ist grau. Nach der Krönung suchen wir uns ein Plätzchen im Rasen, bilden Kompetenzteams: Bier, Essen, Rosenkränze und Aufpasser und schwärmen aus. Mit unseren eigenen Rosenkränzen ausgestattet, an die Masse assimiliert, und im Regen essend, lauschen wir dem bulgarischen Sänger, der uns nicht so recht von der Picknickdecke haut. Alle sind müde und wollen unbedingt ins Zelt. Also zurück mit dem Taxi zur Kreuzung an den See. Unter den Sternen laufen zum See. Dort brennen Lagerfeuer und natürlich in der Ferne wieder ein Feuerwerk. Wir machen uns zeltfertig, kriechen in unsere Zelte, Mount Everest und Kilimanjaro und lachen noch eine Runde. Ich schlafe ein, wache aber kurze Zeit später wieder auf, da meine Nase platt an der Zeltwand anliegt. Das ist mir zu eng. Platzangst! Ich drehe mich um, umgeben von Füßen habe ich auf einmal so viel Platz. Wundervoll!

Nächster Morgen, Reißverschluss auf, Glück gehabt, die Berge sind noch da.

Etwas verschlafen starre ich mit Paula aufs Wasser und wir beschließen schwimmen zu gehen. Simon checkt die Lage aus:“ Bei dem toten Fisch kann man gut ins Wasser.“ Also dann…Am toten Fisch vorbei, durch die Schlingpflanzen schwimmen mit Bergsicht. Das Wasser macht wach und trotz der zahlreichen toten Mücken auf dem Wasser fühle ich mich danach sauberer. Wir hängen noch ein bisschen in der Gegend herum, ziehen uns an, laufen los. Am Rosenfeld machen wir halt. Absolut kitschig. Rosen in verschiedenen Rosatönen und dahinter die Berge, wir pflücken einen Blumenstrauß für das Geburtstagskind Nele und Paula verschwindet auf dem Kirschbaum um uns mit Kirschen zu versorgen.

Unsere kreative Eigenkreation

Es folgt ein weiterer Einkauf im Mini Market mit Bergkäse aus Oberstdorf, mehr Kirschen, drei Broten, Aufstrichresten, Obst, Gurken, was das herz begehrt. Der Bus ist wirklich ne Legende. Wir beschließen an der Straße entlang zu laufen. Paula, Josi, Simon und Maite nehmen ein Taxi, das zufällig vorbeifährt, Bele und ich stehen in der brütenden Hitze und haben schon Angst, dass kein Auto mehr kommt, aber es kommt eins und nimmt uns sogar mit. Im Rosarium, dem Rosenpark vereinen wir uns nach einigen Verwirrungen wieder um erneut zu vespern und uns wieder zu trennen. Kuchen und Eis kaufen, SecondHand shoppen und dann treffen mit den anderen aus dem AirBnB.

Wir singen, wir suchen ein Restaurant, wir brauchen sehr lange mit der Bestellung, stressig. Ich setze mich zu den anderen auf den Rasen und wir spielen Karten. Es gibt eine riesige Runde Pizza. Gestärkt besuchen wir danach die Wein Expo. Zusammen mit Elias und Bele spiele ich Wein-Experte und wir probieren uns durch verschiedene Sorten Wein und Rakia. Auch Rosenwein ist dabei. Ein Erlebnis. Sehr süß und sehr rosig. Jetzt erstmal eine kurze Pause. Wir kaufen Wein in der Plastikflasche. Sieht sehr nach Essig aus. Ein Trauma kommt wieder zum Vorschein…

Es soll eine Parade geben, aber nach einer gewissen Zeit glauben ein paar von uns, darunter das ungeduldige Ich, nicht mehr daran und wir stellen uns lieber vor die Bühne und starten mit anderen Touristen und sehr wenigen Bulgaren eine bulgarische Tanzrunde. Die einfachen Schritte haben wir drauf. Irgendwann kommen die anderen dazu und berichten, dass wir die Parade, aus drei Wagen bestehend, verpasst haben. Sehr traurig bin ich also nicht darüber. Wir tanzen weiter. 12 Deutsche und 2 Amis starten durch, sodass nach kurzer Zeit gleich viele Menschen zu uns schauen wie zur Bühne. Was soll’s, wir haben unseren Spaß. Auch gegen die Kälte hilft das Tanzen. Wir bewegen uns in der Masse. Ein Gefühl der Verbundenheit kommt bei mir auf.

Es wird Dunkel und die Veranstaltung ist vorbei. Die AirBnBler verabschieden sich und wir sitzen alleine auf dem Boden des riesigen Platzes. Ein Bulgare läuft an uns vorbei und gibt uns die Info: „It’s very cold.“ Danke. Wir glühen noch vom Tanzen und von der verdächtigen Essigflasche. Nach ein paar schlechten Witzen brechen wir auf um eine Bar zu suchen. Die erste ist uns zu schick, als nur ein Klostopp und weiter zum „Hipe“ Club, den wir tagsüber schon gesehen haben. Im nachhinein wird mir klar, dass der Club „Hope“ Club heißt. Wir gehen die Treppe hinunter, ich bin aufgeregt. Das ist wie der bulgarische Kellerklub! Unten werden wir aufgeklärt, dass es ein Livekonzert gibt. I’m here for it! Es ist ein kleiner Raum. Ganz hinten gibt es noch ein wenig Platz. Ich hole Bier und Chips und wir sind bereit. Die Menschen hier sehen gar nicht so aus, wie typische Bulgaren. Fast alle sind sehr alternativ. Eine ganz neue Bulgarienerfahrung. Auch die Musik, obwohl auf Bulgarisch, etwas ganz Neues. Richtig gut. Ein bisschen melancholisch, bulgarisches Element of Crime, oder auch nicht. Eher auch ein wenig Mittelalter, ich weiß es nicht. Mysthisch.

Таралеща (Taraleshta)

Wir trinken Bier, essen Chips. Paula, Maite und ich stehen vor der winzigen Bühne und bewegen uns zur Musik. Ganz fasziniert schaue ich dem Akkordeonspieler zu. Ich versuche mich auf den Text zu konzentrieren. Burgas ist das einzige, dass ich herausfiltern kann. Ich schließe die Augen beim Tanzen und denke an die morgendliche Schwimmrunde und wie entspannt der gesamte Tag verlaufen ist. Ohne Stress. Dieses Livekonzert jetzt ist der perfekte Ausklang für den Tag.

Wieder geht es per Taxi zurück. Neben unseren Zelten stehen ein paar Motorräder. 6 Polen haben ihr Lager aufgeschlagen. Eine Runde smalltalk und eine Tasse Rakia später verabschieden wir uns und kriechein unsere Zelte. Die Geräuschkuliise ist skurril. Link von mir höre ich Chalga, vor mir die Grillen, rechts von mir einen schnarchenden Polen und eine sehr ambivalente Playlist und hinter mir wollen auch noch die Frösche ihren Teil beitragen. Erschöpft schlafe ich ein und schlafe deshalb vielleicht auch deutlich besser.

Von Paulas Wecker wache ich auf. Sie ist die Erste die aufbricht. Wir anderen packen gemächlich unsere Sachen zusammen, verschenken unser übriges Dosenbier und laufen zur Kreuzung, an dem eigentlich ein Taxi warten sollte. Aber war nicht so. Dann also per Anhalter. Maite, Josi und Bele müssen sich beeilen, der Zug kommt doch schon früher als gedacht. Wir teilen uns auf. Simon und ich frühstücken wieder vor dem Mini Market und beschließen auch zu trampen. Schon das erste Auto, ein Transporter, hält an, obwohl wir ihm nicht unbedingt ein Zeichen gegeben haben. Ein Mann und zwei alte, sehr freundlich guckende Frauen sitzen vorne. „Kazanlak?“ „Da.“ Er steigt aus um uns die Schiebetür zu öffnen. Wir steigen ein und finden uns umgeben von Säcken voller Rosenblüten frisch von den Feldern wieder.  Es riecht rosig. Auf beiden Seiten sind Fenster geöffnet und der Fahrtwind tut bei der Hitze so gut. Ich wünschte der Transporter würde mich bis nach Shumen weiterfahren. Wäre deutlich schneller und angenehmer als der Zug. Aber natürlich fahren wir nur bis Kazanlak. Und dort auch nicht besonders weit.

Alles ist abgesperrt für die große Parade. Wir bedanken uns und steigen aus. Menschen in traditionellen Kostümen mit Puppen an Stielen, Kinder aus Sportvereinen, Schulklassen und ganz viele Frauen mit Rosen in Körben stehen in den Startlöchern. Wir bewegen uns durch die Masse, bis Simon irgendwann auffällt, dass ich auf die andere Straßenseite muss um zum Bahnhof zu kommen. Leichter gesagt als getan. Alles ist abgesperrt und überall stehen Polizisten. Aber wir sind schon so lange gelaufen, also beschleunigen wir unsere Schritte um ans Ende der Parade zu gelangen, bevor diese sich in Bewegung setzt. Über uns mal wieder ein Feuerwerk. Die Parade beginnt und wir schlüpfen unter der Absperrung durchum auf die andere Seite zu rennen. Mission accomplished. Jetzt können wir in Ruhe und von einem guten Platz aus dem Straßenzug zuschauen. Ein Spektakel. Der Höhepunkt des Festes. Wir werden mit Rosenwasser besprüht und mit Rosen beworfen. Kindern in kommunistisch wirkenden Kostümen und mit dutzenden Medaillen behängt laufen vorbei. Auch der Turnverein von Shumen ist dabei. Alles super interessant. Der Tag verläuft nach perfektem timing. Zuerst der Rosentransport pünktlich zur Parade, dann endet die Parade auch noch genau rechtzeitig, sodass ich es zum Bahnhof schaffe um dort zu erfahren, dass die Informationen im Internet nicht stimmen und ich 2 Stunden kürzer brauche als gedacht. Sehr glücklich verabschiede ich mich von Simon, steige in den Zug und bin bal wieder vor Erschöpfung eingeschlafen. Ein Tipp übrigens für bulgarische Züge: reisen mit leichtem Gepäck ist hier nicht zu empfehlen, da man einen schweren Rucksack braucht um die oft kaputten Fenster unten zu halten. Froh über meine Wohnung, mein riesiges Bett, meine Toilette und meine Dusche genieße ich den Abend noch und gehe früh ins Bett.

Es geht wieder früh raus. Unterrichten, anschließend meinen Kühlschrank füllen. Die ganze Woche liegt ein Gewitter in der Luft. Ich spiele zahlreiche Spiele mit den 10.Klässlern, lache viel mit ihnen. Mit Soner, DeboraH und Jasmin habe ich zusammen ein Curry gekocht, Jasmin und ich haben Yoga gemacht und dabei sehr viel gelacht und es war sehr schön die drei mal wieder um mich herum zu haben und ein wenig außerhalb der Schule zu reden.

Die 11.Klässler sprechen endlich mal, ohne dass ich ihnen alles aus der Nase ziehen muss. Wir üben argumentieren. „Was ist besser süß oder salzig?“ Antwort Aleksandr: „Süß.“ „Warum? Argumente bitte.“ „Es gibt ein italienisches Sprichwort, das heißt Dolce Vita  und das heißt süßes Leben und nicht salziges Leben.“ Ich finde das ist ein sehr gutes Argument. Got me.

Ich genieße also noch ein wenig mein Dolce Vita hier und singe weiterhin das hier sehr beliebte „Corona ciao, haide ciao, haide, ciao, ciao, ciao!“ Vielleicht bringt es ja was…