Freiwilligenarbeit

Küsse, Schnaps, Ceviche und Pragmatik

Küsse, Schnaps, Ceviche und Pragmatik

„Hey du, wie geht es dir so? Was erlebst du so? Erzähl mal.“ oder „Wie ist denn die Kultur in XY so? Wie fühlst du dich?“

Natürlich werden diese Fragen ohne Probleme in einem kurzen Whats App Text beantwortet, mit einfachen Aussagen ausgeschmückt, die den Lesenden zufrieden stellen und möglichst mein Landesbild in seinen*ihren Kopf projiziert. „Vietnam ist schön, anders und heiß“ oder um es mit den drei aussagekräftigsten Begriffen auszudrücken: Vietnam ist Zucker, Moto und Karaoke.

Selbstverständlich bekommen diese Fragen alle Menschen in einem Auslandsjahr zu hören, aus diesem Grund breche ich aus der „Ichbezogenheit“ dieses Blogs aus und frage andere Freiwillige, die zeitgleich mit mir von kulturweit in verschiedene Weltregionen entsendet wurden, ob sie mir Antworten auf diese simplen Fragen geben können. Anschaulich schreiben sie anhand von drei Begriffen und ca. 130 Wörtern einen möglichst verständlichen, anschaulichen und portionierten Text, um ihr Land/ ihre Weltregion zu präsentieren:

 

YANGON, MYANMAR, ASIEN (Nadja, 23)

Frühaufsteher –Wenn um 5.30 Uhr der erste Sonnenstrahl auf die Nebelschwaden über Yangon trifft ist das das Startzeichen für das Treiben auf den Straßen. Während ich noch mit Schlaf in den Augen auf die Straße trete, herrscht dort schon seit Stunden eine muntere und geräuschvolle Geschäftigkeit.

Eleganz – Sie sind bunt, sie sind gold, sie sind fein gemustert, sie sind passgenau und bis ins Detail abgestimmt. Die Outfits der Frauen und Männer in Myanmar verströmen eine unzähmbare Eleganz.

Pragmatik – Wenn 4 Personen auf einem Fahrrad, 6 in einem Taxi und 16 in bzw. auf einem Truck sitzen; oder wenn das Geschick von 10 Jungs ausreicht um ein Riesenrad in Bewegung zu setzen, ja dann ist das für mich die reinste Form von Pragmatik, die hier in Myanmar zum Alltag gehört.

 

YAOUNDÉ, KAMERUN, AFRIKA (Paricia, 19)

Farben – überall fallen sie auf: Kleider auf denen sich scheinbar endlose Kombinationen von Farben und Motiven zu wunderschönen Mustern vereinen. Maßgeschneidert, aus Stoffen die man, nach selbstsicheren Verhandlungsauftreten auf dem Markt zu einem angemessenen Preis kaufen kann. Meine Hautfarbe: „La blanche“ – zwei Worte die für mich mit den Hintergrundgeräuschen des Alltags verschwimmen und gleichzeitig deutlicher denn je wahrgenommen werden. Paradox, ich weiß.

Küsse – „How are you?“ Der Kopf neigt sich erst nach links, dann nach rechts. „Ca va?“ Lippen berühren Wangen. „Tschüss, bis bald.“ „Saigon Kiss“ – meine Mitbewohnerin verbrennt sich am Auspuff des „moto“. Ein mir bislang unbekannter Begriff, hoffentlich wird er nicht zu einem Bekannten.

Kleingeld – Taxifahren ohne Münzen? Undenkbar. Einkaufen nur mit Scheinen? Kritisch. Bei einem 10.000 Franc-Schein (15€) passendes Wechselgeld zu bekommen ist eher ein Glücksfall. Von der Polizei angehalten werden und nicht das nötige “Kleingeld“ dabeihaben, könnte zu einem Problem werden.

 

TRUJILLO, PERU, SÜDAMERIKA (Julia, 18, Peru)

Ceviche – Die dritte Frage eines Taxitalks: Hast du schon Ceviche probiert? Worauf ich kleinlaut erklären muss, dass der Verzehr von Fisch meinem Veganismus entgegensteht und amüsierte Reaktionen ernte. Der in Limonen gedünstete Fisch steht trotzdem stellvertretend für die reiche Küche Perus.

Mikros (Kleinbus) – Sube, Sube, zwei Cuadras warte ich noch, dann gebe ich einen Fingerzeig. Baja Baja rufe ich, drücke dem Mitfahrer einen SOL in die Hand und verlasse den Mikro, wobei mein Aussteigen seinerseits mit Baja Baja Rufen begleitet wird. Ein unersetzlicher Bestandteil des Verkehrswirrwarrs der peruanischen Großstädte.

Eva Ayllon – In meinen Ohren der Pegajosa (Ohrwurm) einer Melodie der Sängerin Eva Ayllón. Es gibt keine Musikerin, die das Gefühl dieses Ort besser in eine Melodie packen könnte und der die sandig, gedeckten Farben der telefonkabel-durchzogenen Häuserreihen noch geschickter in die Klangfarben seiner Musik einfließen ließe.

 

BUKAREST, RUMÄNIEN, EUROPA (Kim, 25)

Hupen – Eigentlich müsste ich hier eine Sounddatei anhängen. Es gibt (angeblich) ein Gesetz, das Autofahrern nur in Ausnahmefällen erlaubt innerhalb einer Stadt zu hupen. Tatsächlich aber bietet Bukarest ununterbrochen ein echtes Hupkonzert – Musikrichtung: laut und unvorhersehbar.

Schnaps – Vor dem Essen, nach dem Essen und am besten noch während des Essens: Die wohl beste Medizin. Schnaps gibt es immer und jeder kennt wen, der*die wen kennt, wo noch selbst gebrannt wird. Wer trinkfest werden will, sollte nach Rumänien kommen!

Gelassenheit – In Bukarest gibt es keine Probleme. Okay, das stimmt nicht so ganz, aber das ist zumindest die grundsätzliche Einstellung, die mir hier entgegengebracht wird. Alltagsprobleme, die vielleicht so „groß und wichtig“ erscheinen, sind hier eher „nichtig und klein“. Ein Leben, wie „über den Wolken“ führen die Menschen aber definitiv auch nicht.

 

Alles klar, jetzt wissen wir Bescheid. Anhand von aufs Oberflächlichste heruntergebrochenen Aussagen haben wir teilweise anhand von Stereotypen unseren Wissensdurst gestillt und in Textnachrichten-oder BILDartikellänge erfahren, wie das Leben in 4 verschiedenen Weltregionen funktioniert. Wie das Land aussieht, die Menschen ticken, was es zu Essen gibt und ob es uns wert ist eines Tages dorthin zu reisen oder eben nicht. Dabei habe wir unterm Strich nicht einmal 10 Minuten unserer Lebenszeit zum Lesen dieser Texte verschwendet. Uns beseelt ein gutes Gefühl die Unterschiede erkannt und uns selbst interkulturell gebildet zu haben.

Das ist natürlich Quatsch, spätestens jetzt sollte der*die aufmerksame Leser*in gemerkt haben, dass mein Artikel nur so von Ironie strotzt. Ein schwieriges Stilmittel diese Ironie beim Schreiben von Blogs, sagte mir unsere Trainerin beim Vorbereitungsseminar.

Es gibt keine einfachen Antworten! Die komplexen Eindrücke eines Menschen lassen sich nicht auf drei stereotypische Wörter herunterbrechen, die einem Menschen auf der anderen Seite der Welt meinen Einsatzort erklären. Es gibt noch viel mehr Begriffe über die zu reden wäre, so sendete mir Julia beispielsweise vorab eine Liste mit 25 Wörtern, die Peru beschreiben und ich bin mir sicher ihr würden noch mehr einfallen. Auch die genannten Begriffe lassen sich nicht verallgemeinern. „Wenn da nicht diese verdammten Ausnahmen wären …“, schrieb Nadja ungeachtet der geforderten bewussten Verallgemeinerung.

Wir – Patricia, Kim, Julia, Nadja, ich und noch viele andere – leben in unseren neuen Umgebungen und schreiben darüber. Doch das ist selbstverständlich, wie könnte es denn auch anders sein: Subjektiv. Und trotzdem lassen wir unmittelbar Bilder und Ideen von ‚unseren Ländern‘ in den Köpfen unserer Leser*innen entstehen. Wir können keine einfachen Antworten liefern. Niemand kann das, auch wenn einige Zeitungen, Politiker*innen, Aktivist*innen oder Blogger*innen meinen genau das zu können.

Kleine Hausaufgabe: Beschreib doch bitte Deutschland anhand von 3 Begriffen in ca. 130 Wörtern.

 

Blogsammlung:

Nadja: https://kulturweit.blog/frommyanmar/

Julia: https://kulturweit.blog/perulia/

Patricia: https://kulturweit.blog/pomerange/

 

 

Soweit, so gut.

Nach zwei Beiträgen, die noch nichts über mein komplett neues Lebensumfeld oder über meine Gefühle in dieser wahnsinnig riesigen, wirtschaftlich, wie kulturell pulsierenden Stadt verraten habe, möchte ich das Versäumte mit diesem Beitrag nachholen. Frei Schnauze und ohne irgendeine pseudo wissenschaftlichen Metaebene, wie ihr sie in meinen ersten Einträgen erleben musstet, könnt ihr nun schlichte Tatsachen wertfrei*‘ erfahren. Jetzt geht es wirklich, um den Kern des Freiwilligendienstes oder besser gesagt um die ‚Kerne‘: Fakten, Emotionen und Herausforderungen! Doch zuerst eine kleine

Geschichte:

Abends hatte ich mich abseits der großen, lauten Straßen in ein mir unbekanntes Gassengeflecht begeben und bin auf einem kleinen Platz gelandet, der umsäumt war von Läden, deren Bezeichnung vermutlich irgendwo zwischen Street Food und Restaurant liegt. Abseits der Touristenwege falle ich – der blonde, blauäugige, relativ große Westler – natürlich sofort auf. Köpfe drehen, gucken und tuscheln. Auffallen ist ein für mich zutiefst unangenehmes Gefühl, will ich doch eigentlich möglichst unauffällig eintauchen in diese mir immer noch unbekannte Kultur. Ein naiver Gedanke.

Das Eis bricht ein kleiner Junge von etwa vier Jahren, dessen Mutter der kleine Laden auf dem Platz gehört, in den ich mich zögerlich gesetzt und meinen Avocado Smoothie geschlürft hatte. ‚Xin Chao‘ – soweit kann ich mitreden, danach hört es auch schon auf. Unermüdlich erzählt mir der kleine Bube irgendeine Lebensgeschichte auf Vietnamesisch. Läuft weg, kommt wieder. Denkt sich einen Handschlag aus, den wir ab jetzt immer genau so machen. Soviel verrät mir zumindest seine wichtig dreinschauende, ernste Miene. Läuft weg, kommt wieder. Mit einer Speisekarte von irgendeinem Restaurant. Zeigt mir kichernd sein Lieblingseis, will meins wissen. Läuft weg, kommt wieder. Und so könnte der unermüdliche Versuch des kleinen Jungen weiter und weiter erzählt werden, wie er mir – dem fremden Nichtsversteher – versucht etwas mitzuteilen. Kinder vertrauen und erwarten nichts. Sie schämen sich nicht dafür kein englisch sprechen zu können, sondern wundern sich, dass jemand kein vietnamesisch kann. Das ist eine wunderbare Einstellung, die mir zum einen imponiert und mir zum anderen die gewaltige Sprachbarriere allgegenwärtiger macht denn je.

Fakten

Zurück zum eigentlichen Anfang: Wo bin ich nochmal? In Ho Chi Minh City (Saigon) – Vietnams einwohnerstärkste Stadt mit mehr als 8 Millionen Einwohnern. HCMC war vor dem Vietnamkrieg die Hauptstadt des Südens, ist heute eine der am schnellsten wachsenden Städte Südostasiens und stellt mittlerweile 2/3 der Wirtschaftskraft Vietnams. Nach dem Krieg, während welchem übrigens mehr Bomben abgeworfen wurden als während des gesamten zweiten Weltkrieges, wurde die Stadt nach dem Vordenker, der kommunistischen Bewegung in Vietnam umbenannt. Meine Schüler*innen haben mir versichert, dass die Verwendung beider Namen in Ordnung sei. Heute ist Vietnam eine sozialistische Republik mit einer weitestgehend freien Marktwirtschaft und einem Einparteiensystem, was in der Kurzform bedeutet, dass es keine freien Wahlen gibt und nicht alle Freiheitsrechte gewährleistet werden, aber dazu an anderer Stelle vielleicht mehr.

Einsatzstelle

In Saigon bin ich an der Tran Dai Nghia Mittel-und Oberschule in den 8. und 12. Klasse im Deutschunterricht als Sprachassistent eingesetzt und übernehme darüber hinaus administrative Aufgaben, wie die Erstellung von Prüfungsmaterialien und die Mitorganisation eines Sprachcamps. Außerdem werde ich ab Freitag im Wechsel mit anderen Freiwilligen ein Sprachtraining für vietnamesische Ortslehrkräfte anbieten. Mein Schulweg bedeutet eine Rollerfahrt durch das ganz normale Verkehrschaos der Stadt, das beim genaueren Hinschauen mehr System besitzt als ich zu Anfang gedacht hatte. Meine Einsatzstelle liegt im absoluten Stadtzentrum in der Nähe der allermeisten Sehenswürdigkeiten, was bedeutet, dass ich nur einen Fuß aus der Schule heraussetzen muss, um wieder mittendrin im bekannten Touritrubel zu sein. Unausweichlich und bei weitem kein entspannendes Gefühl.

Erlebnisse

Solche, die – Achtung, Klischee – wahrscheinlich schon jetzt, ohne bewusste Kenntnisnahme mich, meine Persönlichkeit beeinflussen und verändern. Solche, wie die Begegnung mit dem kleinen Jungen oder die mit dem buddhistischen Mönch, der sich mein Handy schnappte und mich fotografierend durch den Tempel trieb oder die mit zwei weltoffenen Studierenden, die mit mir Englisch lernen wollten und gleichzeitig Bekanntschaft schlossen oder… Andere. Individuelle Erfahrungen, die ich, wie jeder Mensch zwangsläufig mache. Momentan allerdings in einer noch ungewohnten Umgebung .

Natürlich vermisse ich jetzt schon liebe Menschen aus meinem Leben, die vorrübergehend nicht direkt erreichbar sind und natürlich könnte der Alltag viel einfacher gestaltet werden, wenn ich der vietnamesischen Sprache mächtig wäre, doch das sind Herausforderungen, die es anzunehmen gilt. Viele Erlebnisse kann ich mit meinen lieben Mitfreiwilligen in Saigon teilen, über die ich an dieser Stelle keine Worte verlieren könnte, ohne für euch Leser*innen fast schon nervig, ausufernd romantisierend zu werden.

Und damit sind wir schon mittendrin in meiner

Gefühlswelt.

Nach der Überforderung der ersten Tage durch Lärm, Verkehr, Hitze und fremde Sprache, bin ich nach nun fast vier Wochen angekommen. Die waghalsigen Rollerfahrer*innen, die scheinbar anarchisch ihre Wege im Verkehr finden, beobachte ich gelassener und das zu Anfang oft thematisierte Dengue Fieber ist fast in Vergessenheit geraten. Toi Toi Toi. Auch die Hitze ist kein Problem mehr, zumindest solange die Regenzeit noch anhält und den Lärm nehme ich seit einem kurzen Wochenendtrip am Strand nicht mehr permanent als Problem wahr. Und – die Sprache? Klar, die Barriere der Sprache ist weiterhin eine Belastung und die Hilflosigkeit nicht einmal im Stande zu sein einen Small Talk über ‚hallo‘, ‚vegetarisch‘, ‚bitte‘, ‚danke‘ und ‚tschüss‘ hinaus zu führen, ärgert mich.

Barrieren durchbrechen

So sollte mein möglicherweise utopischer Auftrag für die Zeit in Saigon lauten. Ich bin dankbar, für all‘ die schönen Momente, die ich bisher sammeln durfte und bin gespannt auf das, was vor mir liegt.

Bevor es hier zu blumig wird – kurz: Es geht mir gut.

 

 

*’Das ist natürlich Quatsch

 

Empfehlung! Bewegte Bilder aus Saigon von meiner Mitfreiwilligen Frieda

Prolog: Über die Entstehung einer Geschichte

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