I`m a survivor!

Ich erinnere mich noch, wie während des ersten Monats zu allen meinen Freunden und meiner Familie sagte: „Alles ist einfach so perfekt. Ich bin schon richtig skeptisch… Ist das die Ruhe vor dem Strum?“… Und hier sind wir nun. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht wie und wo ich anfangen soll. Die letzten beiden Wochen kamen mir vor wie ein ganzes Jahr. Die Tiefpunkte, die ich erlebt habe, reichen vermutlich auch dafür…

Fangen wir also von vorne an. An einem Mittwoch hatte ich mal wieder ein Gespräch mit Gastmutter, während wir im Auto saßen. Meiner Familie und engen Freunden hängt das Thema vermutlich schon zum Halse raus (mir ehrlich gesagt auch) aber es ging natürlich mal wieder um das Deutsch meines Gastbruders Samuel, welches immer noch schlecht ist beziehungsweise sogar noch schlechter. Während unseres Gespräches viel mehrfach der Satz „Daran musst du was ändern“ und ein Satz, der mir die Kehle zu geschnürt hat: „Am Ende deines Aufenthaltes muss Samuel fließend Deutsch sprechen und du fließend Spanisch“. An dem Abend habe ich zwei Stunden heulend mit Leo telefoniert. Ich hielt diesen Druck und die Erwartungen, die unerfüllbar schienen einfach nicht mehr aus. Ich hasse das Wort „müssen“. Natürlich möchte ich Spanisch lernen, aber eben, weil ich es möchte und nicht, weil ich es muss. Und dann „Erwartungen“… auch ein Horrorwort.

Viele Mexikaner haben mich gefragt, was meine Erwartungen sind oder waren als ich hierhergekommen bin. Und ehrlich gesagt hatte ich keine.  Wozu auch? Denn wie mein Vater immer sagt: Oft kommt es anders und selten wie man denkt. Ich habe mich fast schon geweigert über Mexiko und Guadalajara zu informieren. Denn ich wollte mir mein eigenes Bild machen. Ich wollte ganz unvoreingenommen sein. Und ich bereue meine Entscheidung nicht. Ich wollte nicht von irgendeinem Reiseguru hören, wie „die Leute hier so sind“, wenn jeder Mensch doch ganz unterschiedlich ist und man nichts verallgemeinern kann. Mein Motto ist immer: Je weniger Erwartungen man hat, desto glücklicher ist man. Und es hat sich für mich bis jetzt immer bewahrheitet. Zum Beispiel habe ich gedacht, dass ich bei meiner Gastfamilie einfach nur einen Raum haben werde und ansonsten auf mich allein gestellt bin. Stattdessen bin ich in der Familie integriert und fahre zu Oma und Opa und auf Reisen. Das ist besser als alles, was ich hätte erwarten können.

Nach Zusammenbruch Nummer eins folgte am Freitag ein weiteres Gespräch. Diesmal aber (Überraschung!) nicht über meinen Gastbruder, sondern über die Sicherheit und Leo. In einem eineinhalb stündigen Vortrag hat mir meine Gastmutter diverse Horrorgeschichten erzählt, die meiner Gastfamilie und engen Freunden passiert sind und ich war schockiert, fast traumatisiert. Geschichten über eine Freundin meiner Gasttante, die einem alten Mann helfen wollte und dann auf einmal in einem Auto saß und nach Thailand verschifft werden sollte, oder meinem Gastvater, der zweimal fast erschossen wurde. Mein Gastbruder, der mit zwei fast gekidnappt wurde. Meine Gastmutter, die für ein Jahr in einer Beziehung war, bis sich herausstellte, dass ihr Freund Drogen herstellt und verkauft. Die Haushälterin meiner Gastgroßeltern, die mit einer Droge so gefügig gemacht wurde, dass sie ihr ganzes Geld und Schmuck ohne Widerrede dem Täter gegeben hat.

Und ich begann alles zu hinterfragen. Wieso verstand ich mich so super gut mit Leo? Wieso fühlte ich mich in seiner Nähe so unfassbar wohl? Wieso hatte ich in letzter Zeit keinen wirklichen Appetit? Wieso kamen in diesem Moment all diese Zweifel auf und wenn ich in seiner Nähe war, war ich zweifelsfrei und mir zu 100% sicher, dass nie etwas Böses in ihm sein könnte.

Ich fühlte mich total verloren und wusste gar nicht wo mir der Kopf steht. War ich auf Drogen und wurde die ganze Zeit manipuliert oder waren das meine eigenen Gefühle? War das alles einfach nur verrückt oder ein ausgeklügelter Plan? Verlor ich mich selber, wenn ich diese Gedanken hatte oder war ich immer noch ich selbst? Werde ich jemals jemandem 100% trauen können oder war das nicht möglich?

Und wieder übermannten mich meine Gefühle und ich weinte darüber, dass alles so verdammt kompliziert war.

In derselben Woche waren in der Deutschen Schule sehr viele Feierlichkeiten. Einmal der vierzigjährige Geburtstag der Schule am Freitag, sowie das Oktoberfest am Samstag. Viel zu erledigen und alle waren aufgeregt.

Ein Missverständnis zwischen meine Ansprechperson und mir sorgte für ein weiteres Drama und ich begann mich zu fragen, ob ich eigentlich gut in meinem Job war. Was hielten eigentlich die Erzieherinnen im Kindergarten von mir? Erwartete die Schule, dass ich in meinen ersten beiden Monaten schon fünf AGs leite, so wie es an meinem ersten Tag rüberkam? Waren sie enttäuscht von mir und hätten sich mehr erhofft?

Sonntag war dann der Höhepunkt dieser Woche. Ich hatte auf einmal 38,8 Grad Fieber, Kopfschmerzen und Augenschmerzen und alles deutete darauf hin, dass ich das berühmte Dengue-Fieber hatte. Eine Krankheit, die von Mücken übertragen wird und zum Teil sogar lebensbedrohlich sein kann. Ich schluckte also diverse Paracetamol, denn was anderes kann man leider nicht tun und blieb am Montag und Dienstag zu Hause um mich auszukurieren. Glücklicherweise ging es mir schnell wieder besser und wir konnten das Dengue-Fieber ausschließen.

Und dann kam Freitag (gestern). Ich hatte mich mal wieder mit Leo verabredet, gingen wir in einen Irish Pub und tranken ein paar Bier als Leo sagte, dass er mit mir reden müsse. Ich wusste, dass wir früher oder später über uns reden mussten. Das war sogar mein Wunsch gewesen. Ich hatte ihm ein paar Tage zuvor gebeten, ehrlich mit mir zu sein. Egal, wie hart die Wahrheit auch sein mag. Das war einfach ein persönliches Anliegen von mir. Eine andere lange Geschichte, aber Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig. Also sagte er mir, dass er mich liebt und absolut toll findet… aber nur als Freundin. Irgendwie hatte ich es geahnt, war aber in dem Moment trotzdem geschockt und etwas verletzt. Der Witz bestand nämlich aus all den Dingen, die er mir davor erzählt hat. Zum Beispiel, dass ihn jedes Lied das er hört ihn an mich erinnert. Dass er komplett mein ist. Dass er mich am liebsten heiraten und mit mir nach Deutschland kommen will. Dass er viel zu schnell Gefühle für mich entwickelt. Sogar seine Freunde kamen zu mir und haben mich gefragt, ob wir zusammen sind, denn Leo erzähle ständig nur von mir, dass es schon nervig wäre.

Da lag ich also nachts um drei Uhr morgens wieder in meinem Bett, heulend und mich selbstverfluchend, wie ich immer so naiv sein konnte. Ich meine mir war klar gewesen, dass diese ganze Sache mit dem heiraten total bescheuert und nicht ernst gemeint war und tief in mir drin, wusste ich auch, dass kein Paar aus uns geworden wäre. Aber, wieso hatte er mich, nachdem er mir gesagt hat, dass wir „nur Freunde“ sind trotzdem geküsst? Wieso wollte er, dass ich trotzdem zu ihm nach Hause komme und nur neben ihm im Bett liege und kuschle… „so ganz unter Freunden“? Ja, ich bin vielleicht naiv und ja, ich fühle immer sehr viel, aber ich bin nicht dumm und ich lasse auch niemanden so mit mir spielen.

Tja, und hier sitze ich nun bei strömenden Regen in meinem Zimmer und denke mir, was zur Hölle war das für eine beschissene Woche. Eine richtige sche*ß Woche. Und trotzdem bin ich auf eine absurde Art und Weise dankbar. Wer hätte gedacht, dass ich innerhalb von zwei Monaten diverse Familiendramen, eine tödliche Krankheit und eine fast schon Trennung durchlebe? Und ohne selbstverliebt zu klingen (oder vielleicht nur ein bisschen): Ich bin so stolz auf mich, wie ich alles gemeistert habe und meistere. Ich weiß, dass das Gefühl verloren zu sein, was ich die letzten Wochen hatte, einfach mein Leben ist, was mich gerade dermaßen aus meiner Komfortzone schleudert, dass mir schwindelig wird. Ich habe das Gefühl, dass ich wieder ein Stück gewachsen bin… innerlich. Wieder ein bisschen stärker, wieder eine neue Erfahrung und wieder, habe ich mich neu kennengelernt. Das ist das Leben und ich bin froh, dass es immerhin nie langweilig wird. Da kann ich nicht meckern! Also versuche ich jetzt einfach alle Götter im Himmel anzuflehen, dass es ab jetzt wieder bergauf geht und möchte mich an dieser Stelle nochmal bei all meinen Freunden und meiner Familie bedanken, die mich nie im Stich lassen und jede Freude, Trauer und Wut mit mir durchleben und teilen. Ich habe euch ganz doll lieb.

Also werde ich jetzt einfach tief durchatmen und mit neuem Elan und Optimismus durchstarten. Wünscht mir Glück!

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