Kann mal jemand die Zeit anhalten?!

Gerade sitze ich ,wie so oft auf, unserem schönen Balkon in der Sonne, genieße das tolle Wetter und das leckere Obst, das vor mir steht. So könnte es immer sein, denke ich mir. Gleichzeitig muss ich jedoch feststellen, dass die Hälfte meiner Zeit in Chile bereits fast rum ist. Genau wie ich es mir eigentlich während meines Abschieds zuhause gewünscht hatte, rennt die Zeit. Jetzt allerdings würde ich das Vergehen der Zeit gerne anhalten oder zumindest bremsen. Trotz der leichten Melancholie, die sich mit diesen Gedanken breit macht, kann ich der Tatsache, dass mir die Zeit hier so schnell vorkommt, auch etwas Gutes abgewinnen. Offensichtlich fühle ich mich hier pudelwohl, kann wirklich schon von einem neuen Zuhause sprechen und von guten Freunden, wenn ich an die Menschen denke, von denen ich umgeben bin. Das sommerliche Wetter tut zu meinem Glück sein Übriges. Seit zwei Wochen 25 bis 30 Grad bei anhaltendem Sonnenschein. Und ich kann davon ausgehen, dass das Wetter für den Rest meines Freiwilligendienstes so bleibt. Ziemlich geil, wie ich finde..

Mit dem Zwischenseminar, welches seit gestern hinter mir liegt, kam diese Erkenntnis, dass die Halbzeit meines Auslandsaufenthalts fast erreicht ist. Neben dem Schmieden neuer Pläne für die kommende Zeit, wurde die vergangene thematisiert und reflektiert. Insgesamt gefiel mir dieses Seminar total gut und hätte, ebenso wie mein gesamter Freiwilligendienst, ruhig langsamer vergehen können. Diese Woche am Meer (das Seminar hat am Meer stattgefunden) war wie Urlaub für mich, in dem ich, im wahrsten Sinne des Wortes (Stichwort Smog in Santiago), ein bisschen Luft holen und neue Motivation für meine Arbeit an der Schule finden konnte.

  

   

Darüber hinaus finde ich, dass wir Freiwilligen während der letzten Woche noch ein wenig mehr zusammen gewachsen sind, was wohl nicht zuletzt auch an unseren nächtlichen und doch recht ausgefallenen Tanzvergnügen liegen könnte. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle mehr oder weniger beständigen Bandmitglieder und das nachsichtige Publikum!!  

Doch nicht nur das Spaßprogramm, sondern auch die Inhalte des Seminars haben mir sehr gut gefallen. Unter anderem ging es beispielsweise um das von Deutschen errichtete Folterlager „Colonia Dignidad“, was übersetzt „Kolonie der Würde“ heißt. Bei dieser Kolonie handelt es sich um eine Foltersekte, in der von 1961 bis 2005 bis zu 300 Deutsche unter den grausamsten Bedingungen gelebt haben. Reihenweise Erwachsene, aber auch Kinder wurden mit Elektroschocks gequält, mit Psychopharmaka zwangsmedikamentiert, vergewaltigt und umgebracht. Während der Pinochetdiktatur (1973-1990) installierte der Geheimdienst Dina auf dem 300 Quadratkilometer großen Gelände der Sekte eines seiner Folterzentren. Vermutlich wurden hier über hundert Regimegegner ermordet und außerdem Waffenhandel, Geldwäsche und Giftgasproduktion betrieben. Was mich dabei noch am meisten schockiert, ist, dass die Sektenführung Kontakt zu deutschen Regierungskreisen hatte und von der deutschen Botschaft unterstützt wurde. Obwohl Hinweise auf die Zustände in der Kolonie eingegangen waren, wurde weggeschaut. Stattdessen wurden aus der Kolonie Geflohene sogar wieder zurück geschickt. Das Wissen über diesen Teil der  deutsch-chilenische Geschichte ist meiner Meinung nach super wichtig, wenn man als Deutsche in Chile lebt. Und vielleicht nicht nur dann..

Während eines Ausflugs nach Santiago besuchten wir das ehemalige Zentrum von Pinochets Geheimdienst Dina, welches heute den Namen „Londres 38 – espacio de memoria“ trägt. Dort wurden von 1973 bis 1975 politische Gegner festgehalten, gefoltert und verschwanden oftmals nach ihrer Festnahme. Dabei handelte es sich meist um junge Menschen. Mit diesem Besuch wurde mir klar, wovon die Rede ist, wenn hier von den „offenen Wunden der Gesellschaft“ gesprochen wird. Während der Führung durch das Haus wurde erklärt, dass aufgrund des damaligen brutalen Vorgehens gegen politische Gegner heute teilweise große Hemmungen bestehen, sich politisch zu verbünden. Erschreckend finde ich, dass bis heute noch nicht alles aufgeklärt und rekonstruiert werden konnte, weil zum einen kein Geld gegeben wird und weil zum anderen viele Spuren im letzten Moment verwischt wurden und die noch lebende Militärs dazu schweigen. Insgesamt wurde mir schon mehrmals berichtet, dass die chilenische Geschichte noch ziemlich unaufgearbeitet ist und die Gesellschaft noch immer in unterschiedlicher Hinsicht unter den Folgen der Diktatur Pinochets leidet.

 

Der durchaus angenehmere Teil unseres Ausflugs erwartete uns nach dem Besuch des Londres 38. Nämlich waren wir von der NGO „Chigol“ eingeladen, welche in dem außerhalb von Santiago liegenden Stadtteil Cerro Navia mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Bei diesem Stadtteil handelt es sich um einen der ärmsten Stadtteile Santiagos, in dem viele Jugendliche bereits mit vierzehn Jahren die Schule verlassen und dadurch oftmals früh mit Kriminalität und Drogen in Kontakt kommen. Um dies zu verhindern bietet Chigol unterschiedlichste Freizeitaktivitäten, wie zum Beispiel Straßenfußball, an. Nachdem wir herzlich empfangen und mit viel Liebe bekocht wurden, durften wir an einem Straßenfußball-Match teilnehmen und damit die Jugendlichen kennenlernen. Das war super und schenkte mir eine tolle Gelegenheit, einmal aus meiner  Komfortzone herauszutreten.

 

 

So, an alle, die es bis ans Ende dieses langen Blogeintrags geschafft haben: Vielen Dank fürs Lesen und ganz liebe Grüße aus der Sonne!

Anna-Lena