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Portait eines Menschen

Hat jemand zufällig die Karte des Rumtreibers parat?

Wie auch an meiner Schule in Deutschland startete der Unterricht hier um Punkt acht Uhr. Viltė und ich fuhren mit der Buslinie 20. An der richtigen Haltestelle angekommen, begrüßte mich ein fantastischer Ausblick über die Memel. Das ist der Fluss, der durch Kaunas fließt.

Unten am Ufer gingen Menschen spazieren und einzelne waren auch am Angeln. Bis zur Schule waren es etwa hundert Meter.

Viltė brachte mich bis zum Lehrerzimmer, wo ich von Lina herzlich begrüßt wurde. Wie viele Leute in Litauen, ist sie groß und schlank, mit einem einladenden Lächeln im Gesicht und braunen, kurz geschnittenen Haaren. Sie stellte mich gefühlt dem halben Kollegium vor, von welchen ich die Namen alle sofort wieder vergaß. Das lag einerseits an der schieren Anzahl von Menschen, die meine Hand schüttelten und andererseits an dem fremden Klang der Namen.

Ich merke mir Dinge, indem ich sie sehe, mir niedergeschrieben vorstelle oder selbst schnell aufschreibe. Hauptsache ich habe eine Visualisierung. Die litauischen Namen konnte ich mir leider überhaupt nicht vorstellen, weil sie oft ganz anders geschrieben als ausgesprochen werden. So stellte ich mich darauf ein, jeden mehrfach um seinen Namen zu bitten. Insgesamt wurde ich von allen mit offenen Armen empfangen. Auch die Lehrer, die nicht Deutsch unterrichten, versuchten, ein paar Sätze auf Deutsch mit mir zu reden. Ich fühlte mich sehr willkommen.

Das Lehrerzimmer ist groß, lichtdurchflutet und vermittelt eine komfortable Atmosphäre. Auf der rechten Seite stehen um die zwei Dutzend Computer für die Lehrer, weiter in der Mitte des Raumes befindet sich ein großer Tisch zum Arbeiten und links eine gemütliche Sitzecke für angeregten Austausch in den Pausen. Auf dem kleinen Tisch bei der Sitzecke standen Süßigkeiten, die einer der Lehrer für das Kollegium mitgebracht hatte. Mir wurden sogleich welche angeboten. Dieses Muster blieb im Laufe der nächsten zwei Wochen bestehen. Mal war es ein Apfel, mal Schokolade, aber immer wieder wurde mir und den anderen Lehrern spontan und überraschend etwas zum Essen angeboten.

Neben der Sitzecke führt ein Gang zu einer kleinen Küche, wo man Tee und Kaffee kochen kann, oder sein Essen in den Kühlschrank stellt. Gegenüber sind private Büros der Schulleitung und am Ende des Ganges ein großer Raum für Lehrerkonferenzen.

Das ist ein weiterer Unterschied: Die Stundenzeiten. Reguläre Unterrichtsstunden dauern 45 Minuten. Nach jeder Stunde gibt es eine fünf oder zehn minütige Pause. Dann gibt es noch verkürzte Stunden. Diese Stunden dauern 35 Minuten und man hat sie zum Beispiel an einem Tag, an dem Lehrerkonferenzen sind. Die Schüler haben jeden Tag zur selben Zeit eine bestimmte Freistunde. Diese sind nach Jahrgangsstufen unterteilt, damit nicht alle auf einmal frei haben.

Lina hatte die ersten zwei Stunden eine Klasse zu unterrichten und ich begleitete sie, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Schon auf dem Weg zum Klassenzimmer stellte ich fest, ich war zwar nicht in Hogwarts, aber wie in dem großen Schloss, hatte ich keine Ahnung wo ich war und komplett die Orientierung verloren. Dafür gibt es sogar Gründe. Das Gymnasium besteht aus einem Altbau und einem Neubau, welche miteinander verbunden sind. Es existieren mehrere verschiedene Treppenhäuser und Gänge. Auf dem Weg zu dem Klassenzimmer geht es die eine Treppe herunter, einen Gang entlang, dann wieder hoch, um eine Ecke, die nächste Treppe wieder herunter, ab in ein neues Gebäude, welches man an der neuen Wandfarbe erkennt, und wieder eine Treppe herauf, glaube ich jedenfalls. So eine Karte des Rumtreibers wäre jetzt nicht schlecht. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt auf jeden Fall niemandem versichern, überall pünktlich zu erscheinen. 😀

Zudem gibt es auch eine Kapelle im Schulgebäude. Ich weiß immer noch nicht, wo genau diese liegt, obwohl ich schon mehrfach daran vorbeigelaufen bin. Die Kapelle ist aber wunderschön und wird anscheinend gerne für Trauungen aufgesucht.

Das Jesuitengymnasium ist bereits über 400 Jahre alt, doch meiner persönlichen Meinung nach sieht man dem Gebäude das Alter nicht an. Da wirkt meine Schule in Deutschland älter, die eine Pracht aus roten Backsteinen ist.

Am Anfang der ersten Unterrichtsstunde und am Ende der letzten Unterrichtsstunde wird hier immer gebetet. Mittwoch gibt es auch einen Gottesdienst für die Schüler in der Kapelle. Es macht sich definitiv bemerkbar, dass ich an einem katholischen Gymnasium bin. Lina ist eine gute, aber strenge Lehrerin. Sie erinnert mich etwas an Professor McGonagall, nur lächelt sie mehr. Sie investiert auf jeden Fall viel in ihren Unterricht und ich merke, dass ihr die SchülerInnen sehr am Herzen liegen sind.

Die zwei Stunden waren schnell vorbei und Lina leitete mich zurück zum Lehrerzimmer, welches ich alleine niemals gefunden hätte. Anscheinend geht es jedem am Anfang so und die Fünftklässler brauchen auch immer eine Weile, bis sie sich in der Schule zurechtfinden. Es folgte eine Besprechung meiner Aufgaben an der Schule. Den ersten Tag sollte ich erst einmal Lina begleiten, Dienstag würde ich dann meinen persönlichen Stundenplan erhalten.

Die restliche Zeit führte Lina mich durch die Schule und zeigt mir die wichtigsten Orte. Nicht die Lehrer, sondern die Schöler müssen hier wandern, denn die LehrerInnen haben ihre eigenen Räume. Linas Raum ist Nummer 402, also im vierten Stock. Sie zeigte mir auch die Klassenräume der anderen Deutschlehrer und die Mensa. Meine Orientierung verbesserte sich, darauf verlassen konnte ich mich mit gutem Gewissen jedoch nicht. Jedes Klassenzimmer kann man mit dem gleichen Schlüssel aufschließen, was sehr praktisch ist. In der Schule verteilt gibt es zudem Türen, wie zum Beispiel die Tür zum Lehrerzimmer, welche mit einem elektronischen Schlüssel geöffnet werden. Nach einem kurzen Besuch beim Hausmeister hatte ich nicht nur meinen eigenen elektronischen Schlüssel, sondern auch persönliche Anmeldedaten für die Computer im Lehrerzimmer.

Überall in der Schule gibt es kleine Nischen, wo sich SchülerInnen hinsetzen und arbeiten können. Mal ein paar Bänke und Tische, mal ein Sofa oder ein paar Sitzkissen. Draußen auf dem Schulhof gibt es einen Basketballplatz. Basketball ist sehr beliebt in Litauen, man kann es mit Fußball in Deutschland vergleichen. Drinnen kann man an mehreren Orten Tischtennis spielen.

Im Laufe des Tages observiere ich also Lina beim Unterrichten. Lina kümmert sich um die älteren Schüler, während Vilma und Ingrida die jüngeren Schüler betreuen. Thomas kommt ursprünglich aus Deutschland und unterrichtet jüngere und ältere Klassenstufen. Mit ihm kann ich mich super austauschen. Er ist erst seit einem Jahr in Litauen, davor hat er für zehn Jahre in Lettland als Lehrer gearbeitet. Für den Austausch von Erfahrungen ist das Gespräch mit ihm folglich sehr aufschlussreich.

Hogwarts noch nicht in Sicht

Freitag, der erste Tag in der Schule. Das war jedenfalls meine ursprüngliche Erwartung gewesen. Wie ich jedoch über eine E-Mail vorzeitig erfuhr, war mein erster Arbeitstag kein gewöhnlicher Schultag, sondern der Tag der naturwissenschaftlichen Projekte, auch „Universitätstag“ genannt.

Kaunas ist eine Stadt mit einer hohen Anzahl an Universitäten. An dem Projekttag haben die Schüler die Möglichkeit, entweder besondere Kurse in der Schule zu besuchen oder an Vorlesungen in den Universitäten teilzunehmen.

Da Lina in Berlin war, sollte ich meine Gastschwester Viltė begleiten. Wir konnten relativ lange schlafen und machten uns dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Das Haus in dem ich wohne liegt etwas außerhalb von Kaunas und das bemerkte ich auch. Warum? Eventuell aufgrund des fehlenden Bürgersteiges 😀 Ich selbst komme aus einem kleinen Dorf in Hessen, aber Bürgersteige hatten wir doch überall. Es ist nicht tragisch, dass es für die paar Nebenstraßen keinen gibt, aber es ist dennoch ungewohnt auf der Straße zu laufen. Mittlerweile ist es zur Gewohnheit geworden. Wie schnell man sich doch einlebt.

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland findet sich in dem Transportsystem. Während in Deutschland Züge ein integraler Teil unseres Netzwerkes sind, ist eine Zugfahrt in Litauen eher ungewöhnlich. Es gibt einzelne Schienenwege, beispielsweise zwischen den größeren Städten. Im Großen und Ganzen wird aber komplett auf Züge verzichtet und die Nutzung von Bussen und Trolleys gepflegt. Eine Monatskarte für den Bus kostet um die sieben Euro und ist damit günstiger als eine einzelne, halbstündige Zugfahrt von dem Standort meiner alten Schule bis nach Frankfurt in Deutschland.

Das Trolleybus-System in Kaunas ist eines von zwei in Litauen, das andere existiert in Vilnius, der Hauptstadt. Trolleys sehen fast aus wie Busse, meistens eher grün statt rot und bei genauerer Betrachtung bemerkt man das Alter des Fahrzeugs. Das auffälligste Indiz, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Bus handelt ist jedoch die Verbindung zu der Stromleitung über der Straße, denn Trolleys sind elektrisch betriebene Busse und verbrauchen keine fossilen Brennstoffe. „Ganz ökologisch“, kommentierte Viltė grinsend.

Um zur Universität zu gelangen fuhren wir jedoch mit einem Bus. Das Gelände der Universität war riesig und am heutigen Tag herrschte viel Betrieb, da der Projekttag nicht nur meine Schule, sondern auch alle umliegenden Schulen betrifft. Neben den Vorlesungen zu verschiedenen Themen gab es auch Projektstände auf dem Gelände, wo Experimente, Informationen zu Studiengängen und interessante technische Erfindungen vorgestellt wurden; zum Beispiel eine Virtual-Reality-Brille. Volljährige Besucher konnten in der Eingangshalle eines der Universitätsgebäude auch Blut spenden.

Energiegeladene Schüler aus der Grundschule mischten sich mit überaus motivierten Abiturienten und das Vorhaben, nicht gegen fremde Menschen zu laufen, konnte ich schnell aufgeben. Es war einfach zu voll. Ich kategorisierte die teilnehmenden Schüler in drei verschiedene Gruppen. Die erste Gruppe bestand hauptsächlich aus älteren Schülern. Diese hatten eine gezielte Richtung, in die sie unterwegs waren. Ihre Route war den umstehenden Schülern aber nicht bekannt und da sie ihre volle Konzentration der Aufgabe widmeten, selbst pünktlich am nächsten Vortragssaal anzukommen, war das folgende Chaos vorprogrammiert. Dieses wurde verstärkt durch die zweite Gruppe. Mitglieder der zweiten Gruppe waren größtenteils die jüngeren Schüler, die viel Freude daran hatten, von Stand zu Stand zu rennen ohne auf die umstehenden Menschen zu achten, um möglichst alles als Erster zu besichtigen. Das absolute Chaos wurde dann durch die dritte Gruppe abgesichert. Diese Gruppe setzte sich aus Schüler jeden Alters zusammen, welche vollkommen ziellos umherirrten, weil sie sich nicht auskannten. Zu dieser Gruppe gehörte ich und lustigerweise auch Viltė. Als wir nämlich endlich den Vortragssaal erreichten, hatte der Vortrag schon begonnen und uns wurde der Eintritt verwehrt. Bedauerlich, denn Viltė hatte diesen Vortrag extra für mich gewählt, weil er in englischer Sprache gehalten wurde.

Stattdessen begutachteten wir die Stände und hörten uns einen Bericht über Babyschildkröten an. Dieser wurde uns leidenschaftlich von einer Frau vorgetragen, die in ihrer Hand ein Glas mit dem konservierten Körper einer toten Babyschildkröte hielt. Ich lauschte der unbekannten Sprache und Viltė verstand sogar, worum es ging. Darüber hinaus stellten wir uns in die Schlange, um die Virtual-Reality-Brille auszuprobieren. Nach langem Warten konnte ich dann einen Fallschirmsprung aus der Perspektive eines Fallschirmspringers erleben. Ein Ventilator blies Wind in mein Gesicht und ich saß in einem hängenden Sitz, der der Montur eines Fallschirmspringers nachgebaut war und in jeder Hand hielt ich die Steuerleinen des fiktiven Fallschirms. In Kombination mit der Brille war das Erlebnis doch erstaunlich lebensecht und überzeugend.

Die zweite Vorlesung, zu der wir sogar pünktlich kamen, da wir diesmal auch den Weg wussten, war auf Litauisch und über Ultraschall. Viltė plant in Deutschland Medizin zu studieren und fand den Vortrag aufgrund der Verwendung von Ultraschallgeräten bei Schwangerschaften ansprechend. Sogar ich konnte anhand der Bilder, die in der PowerPoint Präsentation gezeigt wurden, feststellen, dass es nicht um Schwangerschaft ging, sondern der Professor sich viel lieber mit Turbinen auseinandersetzte. Also saßen wir dann gemeinsam gelangweilt in der Vorlesung. Ich, weil ich kein einziges Wort verstand, und Viltė, weil sie das Thema überhaupt nicht interessierte.

Insgesamt war der Tag jedoch aufregend und ich habe viele verschiedene Eindrücke von Kaunas und den Leuten, die hier leben, gewonnen. Der Tag an der Universität hatte aber auch noch einen anderen Effekt: Ich war unglaublich gespannt auf meinen ersten Schultag und konnte es kaum abwarten endlich anzufangen!