Hogwarts noch nicht in Sicht

Freitag, der erste Tag in der Schule. Das war jedenfalls meine ursprüngliche Erwartung gewesen. Wie ich jedoch über eine E-Mail vorzeitig erfuhr, war mein erster Arbeitstag kein gewöhnlicher Schultag, sondern der Tag der naturwissenschaftlichen Projekte, auch „Universitätstag“ genannt.

Kaunas ist eine Stadt mit einer hohen Anzahl an Universitäten. An dem Projekttag haben die Schüler die Möglichkeit, entweder besondere Kurse in der Schule zu besuchen oder an Vorlesungen in den Universitäten teilzunehmen.

Da Lina in Berlin war, sollte ich meine Gastschwester Viltė begleiten. Wir konnten relativ lange schlafen und machten uns dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Das Haus in dem ich wohne liegt etwas außerhalb von Kaunas und das bemerkte ich auch. Warum? Eventuell aufgrund des fehlenden Bürgersteiges 😀 Ich selbst komme aus einem kleinen Dorf in Hessen, aber Bürgersteige hatten wir doch überall. Es ist nicht tragisch, dass es für die paar Nebenstraßen keinen gibt, aber es ist dennoch ungewohnt auf der Straße zu laufen. Mittlerweile ist es zur Gewohnheit geworden. Wie schnell man sich doch einlebt.

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland findet sich in dem Transportsystem. Während in Deutschland Züge ein integraler Teil unseres Netzwerkes sind, ist eine Zugfahrt in Litauen eher ungewöhnlich. Es gibt einzelne Schienenwege, beispielsweise zwischen den größeren Städten. Im Großen und Ganzen wird aber komplett auf Züge verzichtet und die Nutzung von Bussen und Trolleys gepflegt. Eine Monatskarte für den Bus kostet um die sieben Euro und ist damit günstiger als eine einzelne, halbstündige Zugfahrt von dem Standort meiner alten Schule bis nach Frankfurt in Deutschland.

Das Trolleybus-System in Kaunas ist eines von zwei in Litauen, das andere existiert in Vilnius, der Hauptstadt. Trolleys sehen fast aus wie Busse, meistens eher grün statt rot und bei genauerer Betrachtung bemerkt man das Alter des Fahrzeugs. Das auffälligste Indiz, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Bus handelt ist jedoch die Verbindung zu der Stromleitung über der Straße, denn Trolleys sind elektrisch betriebene Busse und verbrauchen keine fossilen Brennstoffe. „Ganz ökologisch“, kommentierte Viltė grinsend.

Um zur Universität zu gelangen fuhren wir jedoch mit einem Bus. Das Gelände der Universität war riesig und am heutigen Tag herrschte viel Betrieb, da der Projekttag nicht nur meine Schule, sondern auch alle umliegenden Schulen betrifft. Neben den Vorlesungen zu verschiedenen Themen gab es auch Projektstände auf dem Gelände, wo Experimente, Informationen zu Studiengängen und interessante technische Erfindungen vorgestellt wurden; zum Beispiel eine Virtual-Reality-Brille. Volljährige Besucher konnten in der Eingangshalle eines der Universitätsgebäude auch Blut spenden.

Energiegeladene Schüler aus der Grundschule mischten sich mit überaus motivierten Abiturienten und das Vorhaben, nicht gegen fremde Menschen zu laufen, konnte ich schnell aufgeben. Es war einfach zu voll. Ich kategorisierte die teilnehmenden Schüler in drei verschiedene Gruppen. Die erste Gruppe bestand hauptsächlich aus älteren Schülern. Diese hatten eine gezielte Richtung, in die sie unterwegs waren. Ihre Route war den umstehenden Schülern aber nicht bekannt und da sie ihre volle Konzentration der Aufgabe widmeten, selbst pünktlich am nächsten Vortragssaal anzukommen, war das folgende Chaos vorprogrammiert. Dieses wurde verstärkt durch die zweite Gruppe. Mitglieder der zweiten Gruppe waren größtenteils die jüngeren Schüler, die viel Freude daran hatten, von Stand zu Stand zu rennen ohne auf die umstehenden Menschen zu achten, um möglichst alles als Erster zu besichtigen. Das absolute Chaos wurde dann durch die dritte Gruppe abgesichert. Diese Gruppe setzte sich aus Schüler jeden Alters zusammen, welche vollkommen ziellos umherirrten, weil sie sich nicht auskannten. Zu dieser Gruppe gehörte ich und lustigerweise auch Viltė. Als wir nämlich endlich den Vortragssaal erreichten, hatte der Vortrag schon begonnen und uns wurde der Eintritt verwehrt. Bedauerlich, denn Viltė hatte diesen Vortrag extra für mich gewählt, weil er in englischer Sprache gehalten wurde.

Stattdessen begutachteten wir die Stände und hörten uns einen Bericht über Babyschildkröten an. Dieser wurde uns leidenschaftlich von einer Frau vorgetragen, die in ihrer Hand ein Glas mit dem konservierten Körper einer toten Babyschildkröte hielt. Ich lauschte der unbekannten Sprache und Viltė verstand sogar, worum es ging. Darüber hinaus stellten wir uns in die Schlange, um die Virtual-Reality-Brille auszuprobieren. Nach langem Warten konnte ich dann einen Fallschirmsprung aus der Perspektive eines Fallschirmspringers erleben. Ein Ventilator blies Wind in mein Gesicht und ich saß in einem hängenden Sitz, der der Montur eines Fallschirmspringers nachgebaut war und in jeder Hand hielt ich die Steuerleinen des fiktiven Fallschirms. In Kombination mit der Brille war das Erlebnis doch erstaunlich lebensecht und überzeugend.

Die zweite Vorlesung, zu der wir sogar pünktlich kamen, da wir diesmal auch den Weg wussten, war auf Litauisch und über Ultraschall. Viltė plant in Deutschland Medizin zu studieren und fand den Vortrag aufgrund der Verwendung von Ultraschallgeräten bei Schwangerschaften ansprechend. Sogar ich konnte anhand der Bilder, die in der PowerPoint Präsentation gezeigt wurden, feststellen, dass es nicht um Schwangerschaft ging, sondern der Professor sich viel lieber mit Turbinen auseinandersetzte. Also saßen wir dann gemeinsam gelangweilt in der Vorlesung. Ich, weil ich kein einziges Wort verstand, und Viltė, weil sie das Thema überhaupt nicht interessierte.

Insgesamt war der Tag jedoch aufregend und ich habe viele verschiedene Eindrücke von Kaunas und den Leuten, die hier leben, gewonnen. Der Tag an der Universität hatte aber auch noch einen anderen Effekt: Ich war unglaublich gespannt auf meinen ersten Schultag und konnte es kaum abwarten endlich anzufangen!