Archiv für den Tag: 24. September 2017

Gleis 9 3/4 oder meine Reise nach Kaunas

Nach langer Wartezeit und viel Aufregung geht es endlich los. Als der letzte Tage des Vorbereitungsseminars anbricht, wird mir langsam klar, das war es nun; bald bin ich im Ausland.

Ich bin die einzige Freiwillige, die nach Litauen geht. Bei über 300 Freiwilligen ist das etwas Seltenes; es gehen zum Beispiel 13 Leute nach Chile. Aber Litauen ist ein kleines Land und das Busfahren günstig. Sollte ich also dringend deutsche Gesellschaft benötigen, reicht eine Reise nach Riga oder Tallinn.

Die letzten drei Tage Zuhause beschränkten sich auf kurze letzte Treffen mit Freunden und viel Packen. Verreist bin ich schon häufig, aber erstens für höchstens zwei Wochen und zweitens immer in warme Regionen. Und in Kaunas wird es definitiv nicht warm sein. Versuche ich nun aber eine warme Jacke einzupacken, ist mein erster Koffer sozusagen schon voll. Die meiste Kleidung hatte ich mir schon vor dem Seminar rausgelegt. Das half etwas, trotzdem nahm das Packen sehr viel Zeit in Anspruch. Ich habe die Gepäckbedingungen von Lufthansa komplett ausgeschöpft. Ein normaler Koffer, ein Handgepäckkoffer in dem lediglich meine Klarinette verstaut ist, ein Rucksack als Kabinengepäck und ein extra Koffer, den ich dazu gebucht habe und welcher bei mir ein großer Wanderrucksack ist.

Damit geht es am Donnerstag, den 14.09.2017, auf nach Frankfurt zum Flughafen. Meine Mutter fährt mich glücklicherweise dort hin und bringt mich noch bis zur Sicherheitskontrolle. Eine letzte Umarmung, dann ist sie außer Sichtweite und meine Reise beginnt.

Der Flug soll planmäßig um 14:50 Uhr starten. Das Problem: Weder beginnt das Boarding noch sehen wir ein Flugzeug an unserem Gate, wenn wir aus dem Fenster schauen. Das merken die Angestellten auch, zehn Minuten bevor der Flug starten soll. Ich beobachte entspannt von meinem Sitzplatz aus hektische Telefonate, bis die offizielle Durchsage kommt: Gate-Änderung. So macht sich ein Schwarm aus Reisenden auf den Weg zum neuen Gate. Die ganz schlauen drängen sich schnell an der Hauptgruppe vorbei, um ja als erster anzukommen. Am Gate angekommen setze ich mich wieder hin. Für das Boarding hat sich schon eine Schlange gebildet, aber es sind noch nicht einmal Angestellte hinter dem Schalter. Das dauert wohl noch eine Weile. Als um 14:50 Uhr dann in meinen Gedanken das Flugzeug nach Vilnius losfliegt regt sich etwas hinter dem Schalter und das Boarding beginnt.

Es folgen ein dichtes Gedränge und der Kampf um die besten Kofferablagen. Dann endlich sitze ich im Flugzeug, Kopfhörer im Ohr, Soundtrack von Les Miserables an und Blick aus dem Fenster. Aufgrund von Rückenwind soll sich unser Flug verkürzen, sodass wir die verlorene Zeit wieder aufholen und pünktlich ankommen. Und tatsächlich, um Punkt 16:50 Uhr, oder nach örtlicher Zeit 17:50 Uhr, landen wir in Vilnius.

Der schlimmste Teil beim Fliegen ist für mich persönlich das Warten auf mein Gepäck. Vor allem die angespannte Hoffnung, dass mein Gepäck im gleichen Flugzeug gereist ist wie ich selber. Ich habe zwar noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber Freunde von mir hatten schon die schönsten Geschichten zu erzählen. Trotzdem habe ich keine Versicherung abgeschlossen und auf positives Karma gesetzt.

Die Sorge war vergebens. Meine beiden Koffer kamen über das Fließband auf mich zu und ich ging erleichtert und gespannt in Richtung Ausgang.

Meine Ansprechpartnerin der Schule, Lina, ist in Berlin für das Finale des Wettbewerbs Lesefüchse International. Am Sonntag den 10. September, der Tag an dem das Vorbereitungsseminar endete und ich Berlin verließ, kam sie gerade mit dem Flugzeug in Berlin an. Da Lina in Berlin ist, kann sie mich schlecht vom Flughafen in Vilnius abholen. Dafür steht Viltė in der Eingangshalle, um mich in Empfang zu nehmen. Meine Gastschwester begrüßt mich mit einer Umarmung, nimmt mir meinen Rollkoffer ab und geleitet mich nach draußen, wo ihre Mutter Alina auf dem Parkplatz wartet. Ich teste das einzige litauische Wort, das ich vor meiner Abreise gelernt habe: „Sveiki“. Alina und Viltė sehen mich überrascht aber erfreut an. Ich bin lediglich froh, das Wort richtig ausgesprochen zu haben. Auf der Autofahrt erzählt mir Viltė viel über sich selbst und ihre Familie. Sie hat sich extra zusammen mit mir auf den Rücksitz gesetzt, um besser mit mir reden zu können und ich fühle mich sehr willkommen.

Nach einer einstündigen Autofahrt habe ich die ersten Eindrücke Litauens. Zuallererst ist es nicht das Ende der Welt, meine  Gastschwester hat mir von einer Deutschen erzählt, die angezweifelt hat, dass es in Litauen Ketchup gibt. Ja, es gibt hier Ketchup. Im Großen und Ganzen können die Menschen in Litauen genauso leben wie in Deutschland, was Lebensmittel betrifft.

Kaunas ist mit ca. 300.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt in Litauen, nach Vilnius, der Hauptstadt. Auf mich wirkt alles sehr heimisch. Wenn man durch die äußeren Teile der Stadt fährt wirkt die Stadt eher wie ein weitläufiges Dorf. Sehr viel grün überall. Als ich meine Gedanken laut ausspreche, lacht Viltė neben mir. Sie war schon oft in Deutschland, da ihre Schule regelmäßig einen Schüleraustausch nach Deutschland anbietet und kann Kaunas aus erster Hand mit deutschen Städten vergleichen. Es ist… anders. Den Unterschied nimmt man allein schon während der oberflächlichen Besichtigung im Auto wahr. Anders ist aber weder negativ noch positiv besetzt, dafür muss ich Kaunas erst richtig kennenlernen. Wir fahren über eine bunt angeleuchtete Brücke und sind bald angekommen. Ich bin froh endlich da zu sein. Die Reise insgesamt war keinesfalls lang, aber emotional ermüdend.

Mein Zuhause für die nächsten sechs Monate ist ein großes Haus. Das Eingangstor öffnet sich automatisch und wir fahren direkt bis in die Garage, die an das Haus angrenzt. Es gibt zwei Stockwerke. Das Haus ist sehr groß für drei Personen und einen Hund, weshalb die Familie eigentlich nur das obere Stockwerk bewohnt. Dieses hat viele große Fenster und wirkt einladend und offen, da es keine Türen zwischen Flur, Küche und Wohnzimmer gibt, sondern alles einen einzigen Raum bildet.

Das untere Stockwerk ist meine eigene Wohnung. Auch hier fehlen Türen. Es gibt eine Tür zum Flur, aber Treppe, Wohnzimmer, Sitzecke  Dusche und Schlafzimmer haben keine Türen, die sie trennen. Dadurch entsteht ein ganz neues Raumgefühl. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und begrüße es sogar, morgens sanft von der Sonne geweckt zu werden. Die großen Fenster im Wohnzimmer haben nämlich keinen Rollladen und das Licht dringt bis in mein Schlafzimmer. Zudem hoffe ich im Winter den wunderschönen Kamin benutzen zu dürfen, der im Wohnzimmer zu  entspannten Stunden vorm wärmenden Feuer mit einer heißen Schokolade in der Hand einlädt..

Den ersten Abend verbringe ich mit Auspacken und Einrichten, dann falle ich müde ins Bett. Möge der Freiwilligendienst beginnen!