Archiv für den Monat: September 2017

Hogwarts noch nicht in Sicht

Freitag, der erste Tag in der Schule. Das war jedenfalls meine ursprüngliche Erwartung gewesen. Wie ich jedoch über eine E-Mail vorzeitig erfuhr, war mein erster Arbeitstag kein gewöhnlicher Schultag, sondern der Tag der naturwissenschaftlichen Projekte, auch „Universitätstag“ genannt.

Kaunas ist eine Stadt mit einer hohen Anzahl an Universitäten. An dem Projekttag haben die Schüler die Möglichkeit, entweder besondere Kurse in der Schule zu besuchen oder an Vorlesungen in den Universitäten teilzunehmen.

Da Lina in Berlin war, sollte ich meine Gastschwester Viltė begleiten. Wir konnten relativ lange schlafen und machten uns dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Das Haus in dem ich wohne liegt etwas außerhalb von Kaunas und das bemerkte ich auch. Warum? Eventuell aufgrund des fehlenden Bürgersteiges 😀 Ich selbst komme aus einem kleinen Dorf in Hessen, aber Bürgersteige hatten wir doch überall. Es ist nicht tragisch, dass es für die paar Nebenstraßen keinen gibt, aber es ist dennoch ungewohnt auf der Straße zu laufen. Mittlerweile ist es zur Gewohnheit geworden. Wie schnell man sich doch einlebt.

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland findet sich in dem Transportsystem. Während in Deutschland Züge ein integraler Teil unseres Netzwerkes sind, ist eine Zugfahrt in Litauen eher ungewöhnlich. Es gibt einzelne Schienenwege, beispielsweise zwischen den größeren Städten. Im Großen und Ganzen wird aber komplett auf Züge verzichtet und die Nutzung von Bussen und Trolleys gepflegt. Eine Monatskarte für den Bus kostet um die sieben Euro und ist damit günstiger als eine einzelne, halbstündige Zugfahrt von dem Standort meiner alten Schule bis nach Frankfurt in Deutschland.

Das Trolleybus-System in Kaunas ist eines von zwei in Litauen, das andere existiert in Vilnius, der Hauptstadt. Trolleys sehen fast aus wie Busse, meistens eher grün statt rot und bei genauerer Betrachtung bemerkt man das Alter des Fahrzeugs. Das auffälligste Indiz, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Bus handelt ist jedoch die Verbindung zu der Stromleitung über der Straße, denn Trolleys sind elektrisch betriebene Busse und verbrauchen keine fossilen Brennstoffe. „Ganz ökologisch“, kommentierte Viltė grinsend.

Um zur Universität zu gelangen fuhren wir jedoch mit einem Bus. Das Gelände der Universität war riesig und am heutigen Tag herrschte viel Betrieb, da der Projekttag nicht nur meine Schule, sondern auch alle umliegenden Schulen betrifft. Neben den Vorlesungen zu verschiedenen Themen gab es auch Projektstände auf dem Gelände, wo Experimente, Informationen zu Studiengängen und interessante technische Erfindungen vorgestellt wurden; zum Beispiel eine Virtual-Reality-Brille. Volljährige Besucher konnten in der Eingangshalle eines der Universitätsgebäude auch Blut spenden.

Energiegeladene Schüler aus der Grundschule mischten sich mit überaus motivierten Abiturienten und das Vorhaben, nicht gegen fremde Menschen zu laufen, konnte ich schnell aufgeben. Es war einfach zu voll. Ich kategorisierte die teilnehmenden Schüler in drei verschiedene Gruppen. Die erste Gruppe bestand hauptsächlich aus älteren Schülern. Diese hatten eine gezielte Richtung, in die sie unterwegs waren. Ihre Route war den umstehenden Schülern aber nicht bekannt und da sie ihre volle Konzentration der Aufgabe widmeten, selbst pünktlich am nächsten Vortragssaal anzukommen, war das folgende Chaos vorprogrammiert. Dieses wurde verstärkt durch die zweite Gruppe. Mitglieder der zweiten Gruppe waren größtenteils die jüngeren Schüler, die viel Freude daran hatten, von Stand zu Stand zu rennen ohne auf die umstehenden Menschen zu achten, um möglichst alles als Erster zu besichtigen. Das absolute Chaos wurde dann durch die dritte Gruppe abgesichert. Diese Gruppe setzte sich aus Schüler jeden Alters zusammen, welche vollkommen ziellos umherirrten, weil sie sich nicht auskannten. Zu dieser Gruppe gehörte ich und lustigerweise auch Viltė. Als wir nämlich endlich den Vortragssaal erreichten, hatte der Vortrag schon begonnen und uns wurde der Eintritt verwehrt. Bedauerlich, denn Viltė hatte diesen Vortrag extra für mich gewählt, weil er in englischer Sprache gehalten wurde.

Stattdessen begutachteten wir die Stände und hörten uns einen Bericht über Babyschildkröten an. Dieser wurde uns leidenschaftlich von einer Frau vorgetragen, die in ihrer Hand ein Glas mit dem konservierten Körper einer toten Babyschildkröte hielt. Ich lauschte der unbekannten Sprache und Viltė verstand sogar, worum es ging. Darüber hinaus stellten wir uns in die Schlange, um die Virtual-Reality-Brille auszuprobieren. Nach langem Warten konnte ich dann einen Fallschirmsprung aus der Perspektive eines Fallschirmspringers erleben. Ein Ventilator blies Wind in mein Gesicht und ich saß in einem hängenden Sitz, der der Montur eines Fallschirmspringers nachgebaut war und in jeder Hand hielt ich die Steuerleinen des fiktiven Fallschirms. In Kombination mit der Brille war das Erlebnis doch erstaunlich lebensecht und überzeugend.

Die zweite Vorlesung, zu der wir sogar pünktlich kamen, da wir diesmal auch den Weg wussten, war auf Litauisch und über Ultraschall. Viltė plant in Deutschland Medizin zu studieren und fand den Vortrag aufgrund der Verwendung von Ultraschallgeräten bei Schwangerschaften ansprechend. Sogar ich konnte anhand der Bilder, die in der PowerPoint Präsentation gezeigt wurden, feststellen, dass es nicht um Schwangerschaft ging, sondern der Professor sich viel lieber mit Turbinen auseinandersetzte. Also saßen wir dann gemeinsam gelangweilt in der Vorlesung. Ich, weil ich kein einziges Wort verstand, und Viltė, weil sie das Thema überhaupt nicht interessierte.

Insgesamt war der Tag jedoch aufregend und ich habe viele verschiedene Eindrücke von Kaunas und den Leuten, die hier leben, gewonnen. Der Tag an der Universität hatte aber auch noch einen anderen Effekt: Ich war unglaublich gespannt auf meinen ersten Schultag und konnte es kaum abwarten endlich anzufangen!

Gleis 9 3/4 oder meine Reise nach Kaunas

Nach langer Wartezeit und viel Aufregung geht es endlich los. Als der letzte Tage des Vorbereitungsseminars anbricht, wird mir langsam klar, das war es nun; bald bin ich im Ausland.

Ich bin die einzige Freiwillige, die nach Litauen geht. Bei über 300 Freiwilligen ist das etwas Seltenes; es gehen zum Beispiel 13 Leute nach Chile. Aber Litauen ist ein kleines Land und das Busfahren günstig. Sollte ich also dringend deutsche Gesellschaft benötigen, reicht eine Reise nach Riga oder Tallinn.

Die letzten drei Tage Zuhause beschränkten sich auf kurze letzte Treffen mit Freunden und viel Packen. Verreist bin ich schon häufig, aber erstens für höchstens zwei Wochen und zweitens immer in warme Regionen. Und in Kaunas wird es definitiv nicht warm sein. Versuche ich nun aber eine warme Jacke einzupacken, ist mein erster Koffer sozusagen schon voll. Die meiste Kleidung hatte ich mir schon vor dem Seminar rausgelegt. Das half etwas, trotzdem nahm das Packen sehr viel Zeit in Anspruch. Ich habe die Gepäckbedingungen von Lufthansa komplett ausgeschöpft. Ein normaler Koffer, ein Handgepäckkoffer in dem lediglich meine Klarinette verstaut ist, ein Rucksack als Kabinengepäck und ein extra Koffer, den ich dazu gebucht habe und welcher bei mir ein großer Wanderrucksack ist.

Damit geht es am Donnerstag, den 14.09.2017, auf nach Frankfurt zum Flughafen. Meine Mutter fährt mich glücklicherweise dort hin und bringt mich noch bis zur Sicherheitskontrolle. Eine letzte Umarmung, dann ist sie außer Sichtweite und meine Reise beginnt.

Der Flug soll planmäßig um 14:50 Uhr starten. Das Problem: Weder beginnt das Boarding noch sehen wir ein Flugzeug an unserem Gate, wenn wir aus dem Fenster schauen. Das merken die Angestellten auch, zehn Minuten bevor der Flug starten soll. Ich beobachte entspannt von meinem Sitzplatz aus hektische Telefonate, bis die offizielle Durchsage kommt: Gate-Änderung. So macht sich ein Schwarm aus Reisenden auf den Weg zum neuen Gate. Die ganz schlauen drängen sich schnell an der Hauptgruppe vorbei, um ja als erster anzukommen. Am Gate angekommen setze ich mich wieder hin. Für das Boarding hat sich schon eine Schlange gebildet, aber es sind noch nicht einmal Angestellte hinter dem Schalter. Das dauert wohl noch eine Weile. Als um 14:50 Uhr dann in meinen Gedanken das Flugzeug nach Vilnius losfliegt regt sich etwas hinter dem Schalter und das Boarding beginnt.

Es folgen ein dichtes Gedränge und der Kampf um die besten Kofferablagen. Dann endlich sitze ich im Flugzeug, Kopfhörer im Ohr, Soundtrack von Les Miserables an und Blick aus dem Fenster. Aufgrund von Rückenwind soll sich unser Flug verkürzen, sodass wir die verlorene Zeit wieder aufholen und pünktlich ankommen. Und tatsächlich, um Punkt 16:50 Uhr, oder nach örtlicher Zeit 17:50 Uhr, landen wir in Vilnius.

Der schlimmste Teil beim Fliegen ist für mich persönlich das Warten auf mein Gepäck. Vor allem die angespannte Hoffnung, dass mein Gepäck im gleichen Flugzeug gereist ist wie ich selber. Ich habe zwar noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber Freunde von mir hatten schon die schönsten Geschichten zu erzählen. Trotzdem habe ich keine Versicherung abgeschlossen und auf positives Karma gesetzt.

Die Sorge war vergebens. Meine beiden Koffer kamen über das Fließband auf mich zu und ich ging erleichtert und gespannt in Richtung Ausgang.

Meine Ansprechpartnerin der Schule, Lina, ist in Berlin für das Finale des Wettbewerbs Lesefüchse International. Am Sonntag den 10. September, der Tag an dem das Vorbereitungsseminar endete und ich Berlin verließ, kam sie gerade mit dem Flugzeug in Berlin an. Da Lina in Berlin ist, kann sie mich schlecht vom Flughafen in Vilnius abholen. Dafür steht Viltė in der Eingangshalle, um mich in Empfang zu nehmen. Meine Gastschwester begrüßt mich mit einer Umarmung, nimmt mir meinen Rollkoffer ab und geleitet mich nach draußen, wo ihre Mutter Alina auf dem Parkplatz wartet. Ich teste das einzige litauische Wort, das ich vor meiner Abreise gelernt habe: „Sveiki“. Alina und Viltė sehen mich überrascht aber erfreut an. Ich bin lediglich froh, das Wort richtig ausgesprochen zu haben. Auf der Autofahrt erzählt mir Viltė viel über sich selbst und ihre Familie. Sie hat sich extra zusammen mit mir auf den Rücksitz gesetzt, um besser mit mir reden zu können und ich fühle mich sehr willkommen.

Nach einer einstündigen Autofahrt habe ich die ersten Eindrücke Litauens. Zuallererst ist es nicht das Ende der Welt, meine  Gastschwester hat mir von einer Deutschen erzählt, die angezweifelt hat, dass es in Litauen Ketchup gibt. Ja, es gibt hier Ketchup. Im Großen und Ganzen können die Menschen in Litauen genauso leben wie in Deutschland, was Lebensmittel betrifft.

Kaunas ist mit ca. 300.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt in Litauen, nach Vilnius, der Hauptstadt. Auf mich wirkt alles sehr heimisch. Wenn man durch die äußeren Teile der Stadt fährt wirkt die Stadt eher wie ein weitläufiges Dorf. Sehr viel grün überall. Als ich meine Gedanken laut ausspreche, lacht Viltė neben mir. Sie war schon oft in Deutschland, da ihre Schule regelmäßig einen Schüleraustausch nach Deutschland anbietet und kann Kaunas aus erster Hand mit deutschen Städten vergleichen. Es ist… anders. Den Unterschied nimmt man allein schon während der oberflächlichen Besichtigung im Auto wahr. Anders ist aber weder negativ noch positiv besetzt, dafür muss ich Kaunas erst richtig kennenlernen. Wir fahren über eine bunt angeleuchtete Brücke und sind bald angekommen. Ich bin froh endlich da zu sein. Die Reise insgesamt war keinesfalls lang, aber emotional ermüdend.

Mein Zuhause für die nächsten sechs Monate ist ein großes Haus. Das Eingangstor öffnet sich automatisch und wir fahren direkt bis in die Garage, die an das Haus angrenzt. Es gibt zwei Stockwerke. Das Haus ist sehr groß für drei Personen und einen Hund, weshalb die Familie eigentlich nur das obere Stockwerk bewohnt. Dieses hat viele große Fenster und wirkt einladend und offen, da es keine Türen zwischen Flur, Küche und Wohnzimmer gibt, sondern alles einen einzigen Raum bildet.

Das untere Stockwerk ist meine eigene Wohnung. Auch hier fehlen Türen. Es gibt eine Tür zum Flur, aber Treppe, Wohnzimmer, Sitzecke  Dusche und Schlafzimmer haben keine Türen, die sie trennen. Dadurch entsteht ein ganz neues Raumgefühl. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und begrüße es sogar, morgens sanft von der Sonne geweckt zu werden. Die großen Fenster im Wohnzimmer haben nämlich keinen Rollladen und das Licht dringt bis in mein Schlafzimmer. Zudem hoffe ich im Winter den wunderschönen Kamin benutzen zu dürfen, der im Wohnzimmer zu  entspannten Stunden vorm wärmenden Feuer mit einer heißen Schokolade in der Hand einlädt..

Den ersten Abend verbringe ich mit Auspacken und Einrichten, dann falle ich müde ins Bett. Möge der Freiwilligendienst beginnen!