Schon oder erst über die Hälfte?

Wie unterschiedlich die Zeit doch vergeht, je nachdem, wie man sie betrachtet. Johannas letzte Zeit hier waren meine letzten Momente mit ihr in Lublin, aber ich wusste, dass ich hier bleibe. In manchen Moment meldete sich eine leise Stimme, die flüsterte: „Das könntest du auch sein! Du könntest auch jetzt zurück, deine Freunde und Familie wiedersehen und dann…“ Ja, was dann? Alle haben auch da ihren Alltag und ich wäre ohne richtige Beschäftigung. Hier habe ich meine Aufgabe. Und wenn ich daran dachte, wie es wäre, bald zu gehen war da auch eine andere Stimme, die sagte: „Halt, stopp! Das geht nicht! Es gibt noch so viel, was du machen möchtest“. Und das stimmt.

Ich habe mich eher in den Wochen vor der Hälfte meiner Zeit gefragt, was wohl wäre wenn. Aber seitdem bin ich froh, hier geblieben zu sein, möchte ich doch die Ereignisse nicht gegen andere eintauschen.

Ich habe beschlossen, in einen Chor zu gehen, da mir das Singen doch etwas gefehlt hat. Die Proben sind sehr präzise und lustiger weise singen wir Mendelssohn (also auf Deutsch), was es leichter für mich macht. Nur für Karfreitag kommen zwei polnische Lieder dran, mit für mich unbekannter Melodie und ein paar doch recht schwierig auszusprechenden Wörtern.

Apropos Sprache, hier konnte ich weitere Erfolgserlebnisse verbuchen. Mein Sprachkurs ist zwar zu Ende und ich suche noch einen neuen, aber einfache Gespräche im Alltag kann ich führen. So konnte ich bei einem Lehrerausflug ins Musical „Piloci“ in Warschau und mit meiner Zimmernachbarin in Stettin (dazu später mehr) leichte Unterhaltungen in Polnisch führen. Ich bin mir zwar sicher, dass ein Teil grammatikalisch falsch war, aber egal, man hat mich verstanden.

Jetzt zu dem, was ich in Stettin gemacht habe. In der letzten Zeit war die erste Stufe für Jugend debattiert international in Polen, die Schulverbundfinale. Dieser Debattierwettbewerb folgt bestimmten Regeln und findet auf Deutsch statt. Er existiert in verschiedenen mittel- und osteuropäischen Ländern (siehe auch https://www.jugend-debattiert.eu/). Am Ende steht das internationale Finale. Bis dahin gibt es jedoch verschiedene Vorstufen, als erstes das Schulverbundfinale. Ich war bei zwei Schulverbundfinalen, nämlich in Lublin und Stettin (Szczecin, gesprochen ungefähr „Schtschetschin“), in der Jury. Das war eine echt schöne Abwechslung zum normalen Schulalltag.

Zudem habe ich die Schüler in Lublin darauf vorbereitet, was auch eine neue Erfahrung war. Die Lehrerinnen haben auch geholfen, besonders mit Material für die Argumente. Die Frage „Soll Sexualkunde obligatorisch in der polnischen Grundschule eingeführt werden?“ ist dann nämlich ohne Kenntnis der aktuellen Situation doch nicht ausreichend zu beantworten und da kennen sich die Lehrerinnen weit besser aus als ich. Nachdem in einer Minidebatte in der Schule die beiden Kandidaten ausgewählt wurden, stand das Schulverbundfinale in Lublin an. Einer „meiner“ Schüler ist sogar weiter gekommen, was uns alle freudig überrascht hat, war es für ihn doch der allererste Kontakt mit dem Wettbewerb.

In Stettin war die Debatte inhaltlich etwas anders, da die Schüler*innen sich natürlich etwas anderes vorbereitet hatten. Es geht aber auch immer um das Drumherum, sprich die Gespräche mit den Leuten. In Stettin verbrachte ich mit den beiden Studentinnen aus der Jury noch etwas Zeit in einem Café und einer Galerie, bevor ich mich auf die Suche nach der Touristeninfo und meiner Jugendherberge machte. Von Freitag- bis Sonntagabend blieb ich noch in Stettin um mir die Stadt etwas anzugucken. Irgendwann habe ich mich auch kaum noch verlaufen, am Ende immer mein Ziel gefunden und viel erlebt. Geschichtlich gesehen ist die Stadt auch sehr interessant: bis zum Ende des 2. Weltkriegs war sie deutsch und überall sind noch Spuren zu finden; außerdem sind viele Informationen auf Deutsch. Bei kaltem, aber sonnigem Wetter habe ich eine der wohl neuesten Altstädte der Welt (sie wurde nach dem Krieg fast komplett neu aufgebaut, hauptsächlich in den letzten 20 Jahren), den drittgrößten Friedhof Europas und vieles mehr gesehen.

Sonntag ging es dann mit dem Nachtzug zurück (Merke: wenn du keinen Schlafplatz mehr bekommst, ist es wichtig, den Tag danach nichts vorzuhaben). Auch wenn es nicht immer super lustig und einfach war, alleine unterwegs zu sein, habe ich so bestimmt andere Sachen erlebt. Ich weiß nicht, wie viel ich sonst mit meiner Zimmernachbarin in der Jugendherberge und den anderen Teilnehmer*innen einer Untergrund-Stadtführung geredet hätte.

Ansonsten haben wir bald einen Wettbewerb mit meiner Tanzgruppe, ich bin gespannt (und leicht gestresst), wie das wird. In der Schule sind demnächst die mündlichen DSD I-Prüfungen, die schriftlichen haben die Schüler*innen hoffentlich gut letzte Woche absolviert. Mit neuen Erasmus-Studenten und der Entdeckung von Treffen, bei denen französisch geredet wird (von Studenten, Leuten, die hier arbeiten, etc.) ist etwas neuer Schwung in mein Leben hier gekommen. So habe ich vor, weiterhin neue Kontakte zu knüpfen und die bestehenden zu vertiefen, ein paar kleinere neue Ideen in den Unterricht einzubringen und einfach jede Chance hier zu nutzen.

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